Moderne Lyrik (Rilke): Unterschied zwischen den Versionen

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Von Rainer Maria Rilke
Von Rainer Maria Rilke


Zunächst bitte ich Sie um Güte und Geduld. Ich bin mir vollkommen bewußt, daß es nichts Geringes ist, einestundelang über Gedichte reden zu hören. Wenn die Sache nicht schon in den Zeitungen stünde und so unangenehm festgenagelt wäre, könnten wir uns ja eilig und heimlich einigen über was Lebendigeres zu reden, zum Beispiel über Zola oder über Professor Schenk oder dergleichen, und erst beim Herauskommen so lyrisch-erlöste Gesichter machen, daß es die draußen glauben. – Aber das geht doch nun nichtmehr an; es könnte uns jemand verraten. Darum, so leid es mir tut, muß ich bitten: Güte und Geduld. Zum Troste aber: Es wird Ihnen nichts geschehen und: was Sie eigentlich bis zum Augenblick für Lyrik halten, davon werde ich wenig sagen. Ich habe ganz besondere Absichten. Sollte ich im Aussprechen derselben manches zu heftig betonen – halten Sie es meiner Jugend zugute, sollte ich manchmal ungerecht scheinen gegen ein Gestern, vergeben Sie es mir deshalb, weil ich voll bin eines großen Neuen, von dem ich Hohes Herrliches zu verkünden habe.
Zunächst bitte ich Sie um Güte und Geduld. Ich bin mir vollkommen bewußt, daß es nichts Geringes ist, eine Stunde lang über Gedichte reden zu hören. Wenn die Sache nicht schon in den Zeitungen stünde und so unangenehm festgenagelt wäre, könnten wir uns ja eilig und heimlich einigen über was Lebendigeres zu reden, zum Beispiel über Zola oder über Professor Schenk oder dergleichen, und erst beim Herauskommen so lyrisch-erlöste Gesichter machen, daß es die draußen glauben. – Aber das geht doch nun nicht mehr an; es könnte uns jemand verraten. Darum, so leid es mir tut, muß ich bitten: Güte und Geduld. Zum Troste aber: Es wird Ihnen nichts geschehen und: was Sie eigentlich bis zum Augenblick für Lyrik halten, davon werde ich wenig sagen. Ich habe ganz besondere Absichten. Sollte ich im Aussprechen derselben manches zu heftig betonen – halten Sie es meiner Jugend zugute, sollte ich manchmal ungerecht scheinen gegen ein Gestern, vergeben Sie es mir deshalb, weil ich voll bin eines großen Neuen, von dem ich Hohes Herrliches zu verkünden habe.


Es bleibt also dabei: ''moderne Lyrik'':
Es bleibt also dabei: ''moderne Lyrik'':

Aktuelle Version vom 23. Oktober 2015, 02:36 Uhr



Moderne Lyrik

Von Rainer Maria Rilke

Zunächst bitte ich Sie um Güte und Geduld. Ich bin mir vollkommen bewußt, daß es nichts Geringes ist, eine Stunde lang über Gedichte reden zu hören. Wenn die Sache nicht schon in den Zeitungen stünde und so unangenehm festgenagelt wäre, könnten wir uns ja eilig und heimlich einigen über was Lebendigeres zu reden, zum Beispiel über Zola oder über Professor Schenk oder dergleichen, und erst beim Herauskommen so lyrisch-erlöste Gesichter machen, daß es die draußen glauben. – Aber das geht doch nun nicht mehr an; es könnte uns jemand verraten. Darum, so leid es mir tut, muß ich bitten: Güte und Geduld. Zum Troste aber: Es wird Ihnen nichts geschehen und: was Sie eigentlich bis zum Augenblick für Lyrik halten, davon werde ich wenig sagen. Ich habe ganz besondere Absichten. Sollte ich im Aussprechen derselben manches zu heftig betonen – halten Sie es meiner Jugend zugute, sollte ich manchmal ungerecht scheinen gegen ein Gestern, vergeben Sie es mir deshalb, weil ich voll bin eines großen Neuen, von dem ich Hohes Herrliches zu verkünden habe.

Es bleibt also dabei: moderne Lyrik:

Sehen Sie: seit den ersten Versuchen des Einzelnen, unter der Flut flüchtiger Ereignisse sich selbst zu finden, seit dem ersten Bestreben, mitten im Gelärm des Tages hineinzuhorchen bis in die tiefsten Einsamkeiten des eigenen Wesens, – giebt es eine Moderne Lyrik.

Und das ist – bitte erschrecken Sie nicht – etwan seit dem Jahre 1292. Dieses ist das Jahr aus dem Advente der großen Renaissance, in welchem Dante die einfache Geschichte seiner ersten, jungen Liebe in der Vita nuova erzählt.

Wer durchaus Stammbäume liebt, der möge ruhig in dem Dichter der Divina Comedia den Ahnherrn unseres jungen Dichtergeschlechtes erkennen und eingestehen, daß es von altem Adel ist. Den anderen wieder kann ich die Versicherung geben, daß in dem Vorbilde des hohen Florentiners für jeden Schaffenden die Gewähr liegt, ein ahnenloser Erster zu sein, wenn er nur tief genug in sich hineinhorcht bis zu jenem Nochniegesagten und Neuen, welches mit ihm beginnt. Erst dann, wenn der Einzelne durch alle Schulgewohnheiten hindurch und über alles Anempfinden hinaus zu jenem tiefsten Grunde seines Tönens hinabreicht, tritt er in ein nahes und inniges Verhältnis zur Kunst: wird Künstler. Dieses ist der einzige Maßstab. Alles andere Beschäftigen mit Pinsel oder Feder oder Meißel ist nur eine persönliche Gewohnheit, welche dem Einzelnen und seiner Umgebung gleichgültig oder lästig sein kann, wie etwa das Tabakrauchen oder das Daumendrehen. Es giebt auch auf diesen Kunstgebieten Leute von großer Fertigkeit, die man gelten lassen muß. Aber ich glaube kaum, daß sie bei aller Virtuosität etwas beitragen werden zu dem großen fortschritt, nach welchem der dumpfe Drang der Massen sich ebenso sehnt, wie das lichte liebende Vertrauen der Einsamen. Denn vergessen Sie nicht, daß die Kunst nur ein Weg ist, nicht ein Ziel. Es müßte sonst die letzte Absicht des Malers sein, Farben in die Welt zu setzen, und der Musiker müßte seine tiefste Erfüllung darin begrüßen, aus seinen Tönen Klangpaläste zu bauen, was doch schließlich nichts bedeutete, als die Harmonie des Alls, die eine große Ordnung durch diese unzulänglichen Miniaturen zu stören und nachzuäffen. Diese unglückselige Meinung, daß die Kunst sich erfülle in der Nachbildung (sei es nun der idealisierten oder möglichst getreuen Wiederholung) der Außenwelt, wird immer wieder wach. Die Zeit, welche diesen Aberglauben erweckt, schafft zugleich auch immer von neuem diese scheinbare Kluft zwischen der künstlerischen Betätigung und dem Leben. Und indem sie dies tut, zieht sie die einzig möglichen Konsequenzen ihres Irrtums. In der Tat: wenn dem so wäre, so würden die Künstler wie Kinder oder Kretins sein, welche, während Männer in Waffen gehn, Kartenhäuser bauen oder ihr blödes Lächeln in dem Glanze bunter Glaskugeln bespiegeln. Wäre aber einer unter diesen, mit reifem und vollem Verstande, ich glaube, den müßte man ja aus seinem feigen Hinterhalt mit tiefster Verachtung herauspeitschen.

Diese Modemeinung, welche die Künstler als die Ausgeschalteten der großen Lebensleitung zu betrachten liebt, müßte, da sie die Kunst mit dem Dilettantentum im verächtlichsten Sinne verwechselt, eigentlich für sie selbst ganz ungefährlich sein. Allein es giebt doch Reflexwirkungen, welche von diesem Irrtum ausgehend bis in die wirkliche Kunst hineinreichen und dort, wenn auch nicht Schäden, so doch Verzögerungen verursachen. Ein Beispiel: nach solchen Perioden, in denen die Kunst wiedermal als läppischer Luxus entlarvt scheint, bemüht sie sich unwillkürlich rasch ihren nahen und notwendigen Zusammenhang mit dem Leben zu zeigen; sie klammert sich ängstlich an die letzten auffälligsten Erscheinungen des Tages an, sie verherrlicht einen Krieg, einen König, ja sie tritt sogar in den Dienst kleiner politischer oder sozialer Parteiinteressen: sie wird tendenziös. Und so ist sie gerade dann am wenigsten – Kunst, wenn man beginnt, sie wieder berechtigt und – sagen wirs nur frei – nützlich zu finden. Denn eine Kunst, welche mit Gebärden des Zornes oder des Beifalls die flüchtigen unbedeutenden Ereignisse des Tages begleitet – und sei sie noch so patriotisch – ist gereimter oder gemalter Journalismus, dem der erziehliche und kulturelle Wert gewiß nicht geschmälert werden soll – aber nicht Kunst. Es gab eine Zeit in dem sangesfrohen Deutschland, in welcher gerade die Lyrik diese erziehliche und kulturelle Rolle spielte, und die Liederalmanache von damals sind dem Sozialpolitiker und dem Kulturhistoriker interessanter, als dem Manne der heute Literaturgeschichte machen will. Seither aber ist die Kluft zwischen dem Deutschen und der Lyrik seiner Dichter wieder gewachsen und endlich chronisch geblieben. Und wenn ab und zu jemand die besondere Liebenswürdigkeit hat, dem dramatischen Schriftsteller oder dem Romanschreiber eine bescheidene Existenzberechtigung nicht ganz abzusprechen, der Dichter gilt doch allgemein für eine zeitweise lächerliche, antiquierte, jedesfalls aber vollkommen überflüssige Person, der bestenfalls Gedichte schreibt, weil er »es« nicht nötig hat. Man hat neulich eine Seite aus Richard Dehmels Buche Weib und Welt, auf die Anklage eines westfälischen Barons und Referendars hin, zu konfiszieren für gut befunden. Man tut dem deutschen Publikum bitter unrecht. Es hat längst vergessen, daß es eine Lyrik besitzt, kann also von dieser Seite her in keiner Weise bedroht oder demoralisiert werden.

Sie werden es nicht glauben. Unsere Lyrik hat die Jahre unfreiwilliger Einsamkeit, ohne Demütigung, ohne Annäherungsversuche an die Tagesmode, – ertragen, und ich bin hier, Ihnen zu sagen: sie lebt. Und ich kann Ihnen noch verraten: sie ist gesund, groß und stark.

Deshalb, scheint mir, muß ich zunächst Ihnen und in Ihnen dem deutschen Publikum für die anhaltende und langwierige Teilnahmslosigkeit – herzlich danken. Denn die Folgen davon sind: daß auf dem unbeobachteten Gebiet sich nicht nur das Wesen aller Kunst am reinsten erhalten hat, sondern daß in dieser Stille das Neue geboren wurde, das Ihnen heimlich und unerkannt, durch das Kunstgewerbe hindurch, näherkommt: die neue Form. Diesem gegenüber sind die Nachteile des Verhaltens der großen Menge gering: sie bestehen darin, daß ein paar junge Leute, denen ihr eigener Name zu leise war, statt guter Gedichte – von denen ja niemand erfahren hätte – schlechte Dramen und Novellen geschrieben haben….

Was ich aber oben sagte, so rein und ohne Falsch hat sich die Natur künstlerischen Strebens innerhalb der Lyrik erhalten, daß ich nun von da geradezu die Definition der Kunst, der neuen Kunst überhaupt entlehnen kann, und ich bitte Sie sehr, diese, wenigstens für diese Stunde, gütigst anzunehmen, weil mit ihr alle meine folgenden Ausführungen stehen und fallen.

Kunst erscheint mir als das Bestreben eines Einzelnen, über das Enge und Dunkle hin, eine Verständigung zu finden mit allen Dingen, mit den kleinsten, wie mit den größten, und in solchen beständigen Zwiegesprächen näher zu kommen zu den letzten leisen Quellen alles Lebens. Die Geheimnisse der Dinge verschmelzen in seinem Innern mit seinen eigenen tiefsten Empfindungen und werden ihm, so als ob es eigene Sehnsüchte wären, laut. Die reiche Sprache dieser intimen Geständnisse ist die Schönheit.

So sehen Sie also, daß der Künstler nicht nur kein Ausgeschalteter des Lebens ist, sondern, daß vielmehr die Kunst sich darstellt als eine bewegtere – ich möchte sagen – unbescheidenere Lebensform, indem der Schaffende auch an die schweigsamsten Dinge mit seinen flehenden Fragen herantritt und, mit keiner Antwort zufrieden, immer weiter muß. – Wenn alle Künste Idiome der Schönheitssprache sind, so werden die feinsten Gefühlsoffenbarungen, um welche es sich handelt, am klarsten in derjenigen Kunst erkennbar sein, welche im Gefühle selbst ihren Stoff findet, in der Lyrik. Aber selbst dieser Gefühlsstoff, mag es eine Abendstimmung oder eine Frühlingslandschaft sein, erscheint mir nur der Vorwand für noch feinere, ganz persönliche Geständnisse, die nichts mit dem Abend oder dem Blütentag zu tun haben, aber bei dieser Gelegenheit in der Seele sich lösen und ledig wer den. Sie müssen mir also glauben, daß wir wenn irgendwo so in der Lyrik die tiefsten und heimlichsten Hoffnungen unserer Zeit belauschen können, weil gerade da, mehr als in anderen Künsten, die reine Kunst-Absicht hervortritt hinter dem Kunst-Vorwand. – Dies kann geschehen, weil der Vorwand, als welcher mir stets der Stoff erscheint, um so vieles durchscheinender, beweglicher und veränderlicher ist, als in jeder anderen Kunst. Wenn bei dem Maler zum Beispiel die Landschaft als Bildmotiv, das heißt als Gelegenheit gewisse tiefinnerste Sensationen loszuwerden, auftritt, so hat der Lyriker es mit einem breiten, blassen Landschaftsgefühl zu tun, in welches die einzelnen Spezialempfindungen sich aus dem Dämmern seiner Seele projizieren. Während aber der Maler, der mit so bestimmten Mitteln schafft, nun an diese Landschaft gebunden ist, das heißt in dem durch diese Landschaft gegebenen und begrenzten eigenartigen Raum alle seine Geständnisse unterbringen muß, kann es bei dem Dichter geschehen, daß das ursprüngliche Gefühlsfeld durch die Fülle oder die Stärke der hinzukommenden Einzelgefühle überwuchert, verdeckt und verwandelt wird, daß zum Beispiel, unter dem Einfluß jener zartesten und innigsten Empfindungsmomente, das vorhandene Landschaftsgefühl in eine Abendstimmung oder in das Allgemeingefühl von einem Meer übergeht, was, grob erläutert, beim Maler sein Aequivalent fände, wenn er ein Bild als Stilleben beginnen würde, im Laufe der Arbeit eine Landschaft herauspinselte und endlich dieselbe Leinwand als impressionistisches Porträt vollendete. Das nimmt sich ungeheuer lächerlich aus, und doch weiß ich, daß Maler diese Erfahrung gemacht haben, und ich leite aus diesem Umstande das immer stärker werdende Bedürfnis ab, in der Umrahmung des Bildes Ergänzungen zu geben, das heißt wenigstens in gewissen künstlerischen Abkürzungen und Siegeln die wahrend des Schaffens aufgetretenen Neigungen und Bedürfnisse nach einem anderen Motiv zu notieren. Denn da die tiefen Ursachen dieser Bedürfnisse, die persönlichen Spezialempfindungen, nicht aber der Stoff die Hauptsache sind, so muß man ihnen Recht und Möglichkeit gewähren, sich auch über die Grenze des Stoffes hinaus irgendwo auszuprägen. Es ist bezeichnend, daß Malerdichter wie Ludwig von Hofmann oder Fidus sich am stärksten von dieser Erkenntnis leiten lassen und wiederholt mit den voreiligen und eigensinnigen Mitteln ihrer Kunst in Zwiespalt geraten.

Nun müssen Sie aber auch die Vorzüge einer Kunst erkennen, in welcher diese Freizügigkeit vollkommen gestattet ist und innerhalb welcher der unbeschränkte Wechsel des Motivs sich leise immer und immer wieder vollzieht, und ermessen wie viel persönliche Geständnisse im Raume eines einzigen Kunstwerkes, des Gedichtes, sich austönen dürfen. Das breite, allgemeine Hintergrundsgefühl ist dann etwan vorbeiziehenden Laterna-magica-Bildern vergleichbar, während jene inneren Empfindungsbeichten der begleitenden Musik entsprechen würden. Bei diesem Vergleich stimmt aber nur das Äußerlichste. Der heimliche, tiefe, kausale Zusammenhang von Bild und Klang, das gegenseitige sich Wecken und Beschenken der beiden läßt sich durch keine Analogie erklären oder beweisen.

Daß darin die große, vielleicht mächtigste Bedeutung der Lyrik besteht, daß sie dem Schaffenden ermöglicht, unbegrenzte Geständnisse über sich und sein Verhältnis zur Welt abzulegen, kann nur von einer Zeit erkannt werden, welche fühlt, daß sie etwas eingestehen will. Und das sind weder Mitten noch Enden von Perioden, sondern stets reiche Anfänge, welche ihr Herz auf der Zunge tragen. Denn Mittelperioden sind zu bequem einerseits und zu tätig nach der anderen Richtung hin, um viel zu erzählen, Enden sind zu greisenhaft und zu müde dazu – nur junges Beginnen hat etwas zu bekennen und nur der Anfang ist auch vertrauensvoll genug, um aufrichtig, ohne Falsch zu verraten, wie ihm zumute ist. Dante steht an der Schwelle der großen Renaissance, und ich möchte, daß Sie es Alle empfanden, wie dieses reiche junge Dichtergeschlecht, von welchem heute die Rede ist, schön und stark am Rande einer in hundert Sinnen neuen Zeit wartet und wie die Ahnungen künftiger Ziele in seinen Liedern ebenso mächtig anklingen wie die herrlichen Tage des Cinquecento vorausgefühlt sind in den Seherworten der Divina Comedia.

Ich weiß nicht zu sagen, wer von den Neuen zuerst diesen Sinn der Lyrik, mit Wissen oder unwillkürlich, bewiesen hat, aber ich weiß, daß Alle augenblicklich sich dieser Mission bewußt sind und sich als die ersten Stimmen einer neuen Epoche fühlen, nicht deshalb, weil sie optimistischer als die anderen sind, sondern weil sie, dank ihrer Kunst, leiser und lauschender im Leben stehen und durch seine Stürme hindurch früher als die Zeitgenossen das ferne Läuten der Feiertagsglocken vernehmen. Wie die kleinste Menge Elektrizität sich in den isolierten Blättchen des Gold-Elektroskops nachweisen läßt, ehe elektrische Wirkung sonst irgendwo bemerkbar wird, so rührt der Hauch der neuen Zeit auch erst an die Tiefen von einigen isolierten, einsamen Menschen, lange bevor die Menge die Strömung empfindet. Und während die Masse auch dann noch feindlich und ablehnend bleibt, sehnt sich der Einsame längst schon den frühesten Offenbarungen entgegen und kann, wenn er tönen darf, ihr treuer zuverlässiger Verkünder werden. Nicht der Künstler allein ist imstande diese ersten Vorboten zu erkennen, auch religiöse oder politische Naturen können sie erlauschen, aber diese werden ihren Ruf einmal leicht mißverstehen und dann auch nicht fähig sein, ihre leisen Absichten würdig auszusprechen. Der moderne Dichter aber ist historisch besonders gut geschult. Der objektive Realismus vergangener Jahrzehnte hat ihn mit der Natur und dem Leben in Verkehr gebracht und sein Auge geübt für die Dimensionen der Dinge. Der vorhergegangene Idealismus der Objektivität mit seiner Schönfärberei wirkte wie eine sentimentale Kindheitserinnerung gerade herein, als der Realismus im Naturalismus untergegangen war, und machte, daß man leise begann, statt von den Dingen, mit den Dingen zu sprechen, also: »subjektiv« zu werden. Und nun folgte im Subjektivismus eine Parallelentwickelung wie seinerzeit innerhalb der objektiven Welterkenntnis. Man lernte die eigene Seele betrachten, wie früher die äußere Umgebung, man wurde auch hier Realist und Naturalist den intimen, inneren Sensationen, wie vorher den äußeren Ereignissen gegenüber und lernte wie früher die Welt, nun ebenso genau die eigene Seele kennen, das heißt man fand in sich selbst Alles reicher und vielgestaltiger wieder, was man in der objektiven Schulzeit außer halb der eigenen Persönlichkeit gesucht hatte. Man war ganz unerwartet zu einer Art von Pantheismus gelangt, mit dessen Gottesbegriff man sich immer mehr zu identifizieren geneigt war, und Sie werden begreifen, daß dieses Wachsen, dieses plötzliche Überallhinreichen, dieses Alleswerden und Allwerden eine herrliche Befreiung, einen hohen, stürmischen Sieg bedeutete und in einer großen, lauten Begeisterung seinen Ausdruck suchte. Es kamen Reaktionen hinterdrein, Enttäuschungen und Zweifel, wie hinter jedem unvorhergesehenen Erfolg, aber immerhin blieb diese Empfindung der gefallenen Schranken die Grundstimmung für alles Schaffen und sie ist es auch heute noch. Darin erreichte der Subjektivismus seine höchste Ausgestaltung, denn seit jeder sich Eines fühlte mit allen Erscheinungen der Welt, war er auch der einzig Seiende, der Einsame geworden, der keinen neben sich anerkennen durfte. Und weil die Einsamkeit leise und lauschend macht, vernahm dieser kosmische Eremit Vieles, was bislang niemand vernommen hatte.

So scheinen mir denn auch Lauschen und Einsamsein die Haupteigenschaften, welche den neuen Dichtern gemeinsam sind. Seitdem die ersten Verkünder neuen Heiles, an deren Spitze die Brüder Julius und Heinrich Hart gegangen sind, mit den Fanfaren des Sieges einen unbestimmten vielverheißenden Morgen begrüßten, sind immer mehr Stimmen wach geworden, die von dem Neuen immer deutlicher erzählen. Die Einen sind zu Verkündern der neuen Freude, der tieferen Seligkeit, die Andern zu den Aposteln eines neuen Leidens geworden, und zwischen diesen wandeln die Sänger einer neuen Sehnsucht mit ihren heiligen Harfen hin. Was ein einziger Jubelruf war bei jenen ersten Wegebahnern, ist in ihren Nachfolgern schon ein tausendstimmiger Chor geworden, in welchem alle Formen eines neuen Lebens anklingen. Die Harts sind die richtigen Herolde gewesen, voll von heller Zuversicht und von dem Glauben an ihre Kraft. Nicht Breschenbrecher wie der riesige Michael Georg Conrad, der breite Bajuvare, dem die Kunst lang zu eng wurde für seinen Mut und seine Ungeduld, so daß er mitten hineinsprang ins lauteste Leben, – sondern Männer, welche bekränzt und im Festgewande im Triumphzuge schreiten und mit ihrem aufrichtigen Pathos sich selbst begeistern und andere mitreißen. Die Bruno Wille und Wilhelm Bölsche und John Henry Mackay kamen neben ihnen zu Wort und jene ersten Jahrgänge der Freien Bühne 1890 – 93 u.f. sind ein schönes Denkmal ihres jungen Mutes und ihrer tiefen treuen Zuversicht. Der herrliche Liliencron steht da in den vordersten Reihen; was die Harts in unklarem Taumel prophezeien, das lebt er schon längst, ganz unbewußt. Ein Mann von Morgen in Hamburg, mitten unter den Allzuheutigen. Ein ganz Junger in einem ururalten holsteinischen Freiherrngeschlecht! Einer der so zuhause ist in dem Neuen, daß er es gar nicht mehr für nötig hält zu predigen, sondern einfach erzählt. Ein so Reifer, daß er die heiligen Wahrheiten nebenbei giebt im Gesellschaftston der Kunst und ein Aufrichtiger und ein Fröhlicher und ein Übermütiger. Sie können sich denken, wie man ihn begrüßte, wie man ihn liebte über Nacht! Und wie drollig erstaunt er war, der kleine Freiherr, als man ihm sagte, daß er ein ganz Neuer sei. Er hat sicher geglaubt, seine holsteinischen Bauern und Fischer sind ganz wie er. Er war so stolz darauf. Nur mit den lieben kommerzfrohen Hamburgern vertrug er sich nicht gut, – aber sonst… Oh dieser treue, echte Dichter! – Mir geht schon wieder das Herz über, wenn ich von dem großen Detlev spreche; ich muß es sein lassen. Denn vor einem Jahr hab ich hier zwei Stunden lang von ihm erzählt, und da ich heimlich hoffe, daß Sie noch nicht Alles von damals vergessen haben, muß ich fürchten, Sie mit ausführlichen Wiederholungen zu langweilen. Als der Freiherr sich so mit einemmale verraten sah, tat er etwas Strenge in seine guten Augen (er mußte das ja von der Hauptmannszeit her treffen) und ging selbst entdecken. Und er hat einen köstlichen Fund getan, als er Gustav Falke heimbrachte, den feinen Hamburger Musiklehrer. Falke ist eine ähnliche Natur wie Liliencron. Er ist seine bürgerliche Nüance. Er ist auch reich, allein er ist etwas bang um seinen Reichtum und vergeudet nicht, wie Liliencron (ich meine natürlich nicht Geld, das haben sie beide nie), er ist auch froh, aber wenn er ganz lustig wird, kommt ihm das Weinen nahe. Er lacht wie der Baron über die Philister, aber er wird manchmal recht bitter gegen sie. Er ist auch für die schöne Ordnung, aber sie sieht manchmal der Pedanterie sehr ähnlich. Daher kann man ihm nie Kompositionslosigkeit vorwerfen, was dem Liliencron auch hier geschah, als ich vor Jahresraum seine Poggfred-Strophen las. Wenn Sie sich an das erinnern wollen, was ich über den Sinn der neuen Lyrik oben sagte, werden Sie erkennen, daß diese scheinbare Formlosigkeit nur ein zu starker innerer Reichtum ist. Er hat so viel zu gestehen, daß das Gefühlsfeld immer ganz überwuchert wird von den goldenen Ernten. Falke ist vorsichtiger und er schafft bis zu einem gewissen Grade bewußter. Durch seine novellistische Begabung findet er immer einen schönen klaren Stoff, bei welchem er allerhand los wird, aber immer nur das, was wirklich in den Rahmen paßt. Seine schmeichelnden Verse wollen oft auch noch ein Glanzlicht, eine Pointe haben, ein novellistisches Element, welches auch den schönen Gedichten unseres Landsmannes, Dr. Salus, eignet und diesen trefflichen Versbildern einen großen Reiz verleiht. Bei ihm, bei Falke und bei dem jungen Schweizer Emanuel Freiherrn von Bodman kommt, ich weiß nicht zu sagen woher, oft mitten in eine moderne Stimmung ein seltsamer, zarter Duft – wie Lavendel aus Großmutters Wäscheschränken – , der wie ein wehmütiges Lächeln über die Worte weht und, zumal bei den nüchtern scheinenden Strophen des Doktor Salus, eine liebliche Überraschung bietet. An diesem uns nahestehenden Dichter wird auch in besonders anziehender Weise offenbar wie die bedachtsameren unter den Jungen, einerseits aus eigener Scheu vor der Enttäuschung, andererseits um die Lauscher nicht zu entfremden, das Neue, das sie in sich spüren, nicht ganz rückhaltlos verkünden. Sie suchen, wie Salus, einen Hintergrund, ein Gewand dafür, und es ist gewiß ein Beweis für unsere Zeit, daß die große Renaissance ihren Gestalten Kleid und Geste giebt, und unsere modernsten Gefühle sich so wunderbar vereinen mit der heiteren Tracht des Cinquecento. – Auch mit einem anderen Schweizer, dem jungen Doktor Wilhelm von Scholz, ist Liliencron durch innere Sympathie verbunden, und ein neuer Cyclus von balladenartigen Gedichten, welchen Scholz vorbereitet, reicht stellenweise an den Meister heran. Alle Jungen fühlen sich ja dem großen Detlev von Liliencron nah und dankbar. Und die Schule, die er macht, ist eine sehr lose Vereinigung von ganz heterogenen Geistern; denn man kann ihm nichts nachmachen. Er hat keine Manier, und es kann sich auch keine entwickeln aus den Elementen seines Schaffens. Von ihm kann jeder nur Eines lernen: Aufrichtig sein!

Eine Gefahr hingegen liegt in dem glühenden Glanze Richard Dehmels, dessen berauschende Formensprache manchen seiner lauschenden Verehrer zum Nachahmer, manchen Versteher zum blinden Gläubigen erniedrigt. Ich zweifle nicht an Richard Dehmels Aufrichtigkeit, – aber ich glaube, daß er sich selbst noch lange nicht klar ist über das, was er will, und wenn das auch nicht mehr sein sollte, als er kann. Die tiefe, innige Schlichtheit ist bei ihm dem unsympathischesten Pathos benachbart, und nach seinen früheren Büchern würden viele in ihm nicht seine einfache Persönlichkeit, sondern einen sehr bewußten Poseur erwarten. Sein jüngstes Buch »Weib und Welt« indessen ist ihm viel ähnlicher. Er stellt sich als der unermüdliche Kämpfer dar, der im Handgemenge auch dann und wann eine häßliche harte Bewegung macht, und der doch so voll Sehnsucht nach Schönheit ist, daß er darüber weinen würde, wenn er es wüßte. Aber er ist ein rastloser Ringer und hat so viele Verheißungen des Neuen gegeben, daß man an ihn glauben darf. Mit einem heißen Temperament hat er – zum ersten Mal in der deutschen Lyrik – die Poesie des Sommers erkannt und dieser Stimmung mit einem Schlag jene Bedeutung gegeben, welche das deutsche, alte Frühlingsgefühl in Jahrhunderten langsam erlangt hat. Und dieses steht im Mittelpunkte seiner Tage und leuchtet wie eine rote Sonne über Wesen und Wirken Dehmels: die Sehnsucht nach der Frucht. Die Ernte ist ihm die Ewigkeit, und in dem lächelnd-leidenden Glück der Mutterschaft erkennt er die tiefste Erlösung alles Lebens.

Ohne das sinnliche Ringen, blasser, träumerischer ist dieses der Grundzug der kosmischen Poesie des Franz Evers, der durch seine theosophische Welterkenntnis verleitet wird, den Ewigkeitsbegriff über den sinnlichen Kreislauf hinauszuverlegen und dadurch oft den zerfließenden Eindruck seiner pathetischen Lieder verschuldet. –

Ein Kämpfer unter der Fahne der Schönheit ist auch Otto Julius Bierbaum. Aber er ist etwas empfindlich, drängt sich nicht ins dichteste Getümmel wie Richard Dehmel, denn es wäre ihm unglaublich fatal, mit zerdrücktem oder beflecktem Rocke zurückzukommen; er zieht es vor, die Kämpfe und mehr noch die Siege zu schmücken, gleichsam goldene Gedenkmünzen zu prägen, für jeden Tag, an dem das Neue einen Fußbreit Landes gewonnen hat. Und das trifft er, wie es keiner je getroffen hat. – Er besitzt ein kostbares Ding: den Geschmack von Morgen, vielleicht von Übermorgen. Er hat fast den Geschmack eines Franzosen, und das vermischt sich ganz eigentümlich mit seinem urdeutschen Gemüt. Was daraus wird, scheint manchmal fast etwas archaistisch vor behäbiger Vornehmheit, aber es ist doch durch und durch frisch und wird oft sogar lebendige Erfüllung. So hat Bierbaum es verstanden, ein entzückendes altes Schlößchen in Südtirol zu mythen (so muß man wohl statt mieten in diesem Falle sagen!), ein Märchen von einem Schloß, wo Frau Gusti mit breiten Botticelli-Scheiteln, zart und zierlich waltet, während Otto Julius in seinem dunkel-kühlen Turmgemach – ein Talvoll ewigen Frühlings füllt ihm die Fenster – seine lieblichen Lieder mit goldenen Federn auf seltsam verschnörkeltes Pergament zeichnet. In Sachen des Geschmackes möchte ich ihn stets ex cathedra verkünden hören, er ist unfehlbar darin. Und wenn in einem einstigen Zukunftsstaat ein Minister für Schönheit und Sitte nottut, wird ein echter Sprosse des Schloßherrn von San Michele der einzig würdige Bewerber sein dürfen.

Für alle diese, die ich bisher genannt habe, ist die Form etwas Unwillkürliches, darum brechen sie manchmal drüber hinaus wie Dehmel, darum fühlen sie sich in ihr so zuhause wie der leisere Otto Julius Bierbaum. Aber über diese scheinbaren Enden hin giebt es noch Möglichkeiten: über Dehmel hinaus, das zügellose wilde Um-sich-Schlagen im Dienste der Schönheit, – jenseits von Bierbaum das Verblassen und Erstarren im Aesthetizismus, das reglose Knieen vor dem unerbittlichen Gnadenbild. Auf der einen Seite der Verzweiflungskampf des verblutenden Kriegers, – und drüben das ewige bleiche Büßen des Schönheitsasketen. Alfred Mombert vertritt das eine, der Rheinländer Stephan [sic] George das andere Extrem. Daß Dehmel in Mombert dieses Wildwerden seines eigenen Ichs liebt, ist begreiflich; denn er sieht nur seine mächtigere Energie, ohne seine wütende Blindheit zu bemerken, die Freund und Feind nichtmehr zu trennen weiß. Ein ganzes Chaos von Gefühlen, Sehnsüchten und Erzürnungen strömt ungedämmt aus in Momberts Gesängen, der dem Übermaß seines Empfindungsinhaltes zuviel zutraut, wenn er wähnt, daß das bloße Erstarren seiner Eruptionen schon »Form« sei, während bei George jene tiefsten und letzten Geständnisse, die das Wesen aller Lyrik bedeuten, rein formelle Glaubensmeinungen sind, welche die Verse mit kalter und fast armer Klarheit erfüllen. Notwendig muß dem Ungestümen die Bewegung, seinem Antipoden die Gemessenheit und Ruhe als Symbol der letzten Schönheit erscheinen, und wenn der erstere seine unseligen atemlosen Worte durch das ganze All von Stern zu Stern jagt, wagt der andere nichtmehr über die Randsäulen seines engen weißen Marmortempelchens in die Landschaft zu sehen. Ich halte auch diese beiden Menschen noch für aufrichtig; aber ihre Nachahmer – und sie besitzen solche in Menge – sind ganz erbärmliche Narren, welche das Publikum irreführen, indem sie mit schlauem Augurenlächeln dem staunenden Laien einen schönen, von ihnen gar nicht begriffenen Wahnsinn als die neue Kunst auftischen und viele nüchterne, vernünftige Köpfe abschrecken, die sich dann ihr lebelang als exakteste Feinde jenes Tohuwabohu, das sie für die neue Offenbarung halten müssen, erklären und lieber an Julius Wolff und Felix Dahn mühsam selig werden. Abschreckend für die Menge wirken aber neben diesen prahlerischen Nachbetern auch ein paar Ehrliche. Die Formsucher. Das sind jene, welche aufrichtige Geständnisse im Herzen tragen, aber ängstlich sind um den Kunstvorwand; sie können sich schwer entschließen den Rahmen für ihr Intimes, die Gelegenheit zum Tönen wahrzunehmen, und weil sie gebildete intellektuelle Köpfe sind, suchen sie dieselbe, statt sich auf ein halb unbewußtes Finden zu verlassen. Daß dieses Formgrübeln seltsame und fremd anmutende Gebilde zeitigt, läßt sich an Max Dauthendey, dem Farbensymbolisten, dem Telegrammlyriker Arno Holz, dem Träumer Johannes Schlaf, dem Lebensaestheten Loris [1], den Wienern überhaupt, und endlich an einer Gruppe von Pfadsuchern nachweisen, welche das Gedicht außerhalb von Reim und Rhythmus neuaufrichten wollen. Alle diese haben mit ihrer Methode einen Teil jener vertrauensseligen Naivität eingebüßt, welche den Künstler dem Kinde so selig anähnelt, sie sind bewußter und überlegter geworden, und man muß vielleicht gerade deshalb ihre Offenbarungen etwas vorsichtiger entgegennehmen. Ein äußerer Grund mag, neben anderen inneren persönlichen Bedürfnissen, diese Schaffensweise in ihnen großgezogen haben: nämlich die starke Abnützung, welche alles lyrische Material im Laufe einer langen Entwickelung von den Minnesingern her, insbesondere durch die großen herzlosen Formalisten, die Bodenstedt u.A., hat erdulden müssen, und die damit verbundene Furcht, das Neue, was man zu sagen hatte, durch das alte, abgetragene Kleid zu entweihen und zu erniedrigen. Sie sind eben zu intellektuell geworden, diese Dichter. Sie übersehen, daß die neue Form des Neuen direkt und ohneweiters bestimmt wird einmal von seiner Art und dann von der Persönlichkeit, welche es ausspricht, so daß, die Aufrichtigkeit beider Faktoren vorausgesetzt, das Produkt notwendig von anderer Beschaffenheit sein muß, als die Becher-Zecher-Reime aller seligen Mirza-Schaffy’s. Es wird bei einem solchen naiv-vertrauensvollen Schaffen dem modernen Deutschen auch nicht geschehen, Ghasele, Ritornelle oder Sonette zustande zu bringen: das immer klarere Sich-bekennen wird von selbst immer individuellere Gestalt annehmen, je mehr es unabsichtlich geschieht. Dem neuen Menschen – und der Künstler dürfte dieser Art am meisten entgegenwachsen – muß die Schönheit etwas Unwillkürliches geworden sein, etwas das er nicht einmal als Steigerung, sondern endlich als normale Bewegung und Äußerung seines Wesens empfindet. Aber es ist noch weit bis dahin, und die Angst des Übergangsmenschen, zügellos zu werden, wenn er frei ist, auf der einen Seite, seine Abneigung, das wachsende Starke in sich durch alte Fesseln zu verderben, auf der anderen, erzeugt dieses Grübeln nach der Form. Alle vergessen sie dabei, daß die neue Form nur gefunden, nie aber gesucht werden kann, und daß das neue Gesetz zum neuen Organismus sich verhält, wie der Kohlenstoff zum Diamant; man kann aus diesem wohl das Element heraussondern, aber niemals wieder das arme Gas zu dem hellen Edelstein verdichten.

In dieser großen Gruppe von Suchern giebt es wieder Aufrichtige und Poseure, solche, welche ihre Funde still und bescheiden in der Praxis anwenden, und solche, welche bei jeder neuen Entdeckung überzeugt sind, nun – nicht etwa die ihrem eigenen Wesen adäquateste Art des Tönens, – sondern die Kunst überhaupt entdeckt zu haben. Sie entwickeln lange Theorieen, welche den herrischen Ton des Eroberers tragen und für alle andersklingenden Weisen höchstens ein höhnisches Mitleiden übrig haben. Diese Thronprätendenten schaden sich indessen selbst am meisten; denn indem sie immerfort die Kunst entdecken, haben sie noch niemals Zeit gehabt, ihre Kunst zu erkennen, und gehen als ungewollte verbitterte Martyrer in ihrer eigenen Manier unter. Die besten Belege dafür sind Holz und Schlaf. Sie entdecken alle 5 Jahre einmal die Kunst; daß diese eine Kunst jedesmal anders aussieht, haben sie im Eifer noch gar nicht bemerkt. Ihr erster großer Waffengang unter der Fahne des Realismus, dem sich Adler, Arent, Karl Henckell, R.M. von Stern u.a. angeschlossen haben, besaß noch eine Notwendigkeit, und das mutige Freicorps der »Modernen Dichtercharactere« von 1885 hat gewiß dazu beigetragen, die neue Zeit heraufzuführen. Die Veteranen von damals sind auch heute meistens so klug, nicht immer wieder ihre Verdienste dadurch zu verkleinern, daß sie sie stets aufs neue betonen. Es ist sogar bezeichnend, daß mehrere von ihnen, wie Henckell und Stern, zu der sehr schätzenswerten und nicht gerade brotlosen Gilde der Verleger übergegangen sind, die sie früher so arg verachteten – und sich nunmehr nur noch aus Konkurrenzneid die Augen auskratzen. Arent aber, Holz und Schlaf können den alten Ruhm nicht vergessen. In 42 Gedichtbüchern und einigen kurzatmigen Zeitschriften und Anthologieen war Herr Arent seither unablässig bemüht, seine eigene Bedeutung zu beweisen, er sah jedes Jahr einigemal den großen Morgen anbrechen und fühlte sich als Prediger in der Wüste und warf seitenlange Fehdehandschuhe bald dem bald jenem hin, so zahlreich, daß sich endlich keiner mehr bemühte, sie aufzuheben. Er hat sich selbst dabei verloren. Das ist schade; denn wer Geduld hat, könnte aus Arents 42 Büchern vielleicht ein kleines Bändchen Kunst zusammenstreichen, das für ihn Zeugnis gäbe. Anders Holz. Er besitzt viel weniger Talent, steht nur formal höher. Vieles, was wir zu seinem Besten zählen müssen, hat ihm Gott im Schlaf (ich meine im Johannes Schlaf) gegeben, der sich als die bei weitem tiefere und künstlerischere Natur darstellt. Mir ist, als wäre das Verhältnis der beiden ähnlich jenem zwischen dem Schwan von der Bober, Martin Opitz, und seinem bei weitem größeren Zeitgenossen Paul Fleming, nur, daß Schlaf sich früher als jener von dem Druck der fremden Obmacht befreite, und nun, spät genug, Eigenes zu sagen beginnt. Holz hatte durchaus einen Genossen notwendig, einen feintönenden Apparat, an welchem er die zartesten Schwingungen ablesen konnte, welche er im Orchester des Lebens niemals gefunden hätte, und wenn das nicht der arme Johannes Schlaf geworden wäre, hätte, um ein Haar, ein noch weicherer Mensch – Gerhart Hauptmann diese Rolle übernehmen müssen. Es war nahe daran. Denn der junge Hauptmann, der in völliger Unklarheit über seinen eigenen Weg und Willen bald bildhauerte, bald lange pathetische Gedichte schrieb, muß in diesem scharfen und raffinierten Theoretiker einen Augenblick lang den Heiland gesehen haben. Er ging darauf ein, mit Holz gemeinsam ein Stück zu verfassen, und in den Hauptzügen ist der Plan von »Vor Sonnenaufgang« wohl in gemeinsamen Gesprächen erörtert worden, bis der empfindliche Hauptmann das Drama allein schrieb und seine Dankesschuld an Holz abzahlte, indem er ihm sein Werk zu eigen gab. Und vielleicht ist nun auch der größere Ruhm des einstigen Jüngers einer der Gründe, weshalb Holz in einem Drama »Die Sozialaristokraten« (der Realismus von Vorvorgestern feiert drinnen seine Triumphe) und mit neuen Lyrik-Versuchen, »Phantasus« betitelt, zu beweisen bemüht ist, daß er in der allerersten Reihe steht, womöglich auch noch vor ihr. Seine Gedichte muten an, wie eine phantastische sinnliche Prosa, deren Worte bald 20 mannhoch in einer Zeile stehen, dann wieder allein oder zu zweit, abseits bleiben, ohne, daß man einen genügenden Grund dieser Isolierung zu erkennen vermag. Hört man die Verse lesen, so kommt man gar nicht dazu, dies zu vermuten; was man dann vernimmt, ist eine bunte, teilweise unklare Prosa, in welcher dann und wann eine Allitteration oder eine onomatopoetische Verbindung auffällt, oder durch Wiederholungen eine Störung bewirkt wird. Von dem neuen Rhythmus, der bei Mombert oft anklingt, dem breiten diphthongischen Wechselklang, der sich unterscheidet von dem engen Hebung-Senkung-Maß und mit diesem zu einer reizvollen Sensation aufwächst, kann ich in diesen Proben nichts finden. Der Realismus ältesten Stiles aber, den Holz nicht vergessen kann, giebt diesen Wortbildern eine überraschende Plastik und macht sie zu ganz interessanten knappen Prosaskizzchen, die in vernünftigen zahmen Zeilen und ohne die Prätension Neuschöpfungen zu sein, sich ganz wohl befinden würden. Maximilian Dauthendey hat durch seine kühne Farbensymbolik ein neues Element in die Lyrik gebracht, welches auch Holz hier mehrmals technisch verwertet. Aber, wenn man näher zusieht, war die Farbe, als Mittel, gewisse von ihrer sinnlichen Absicht verschiedene, meist dunkle Gefühlswirkungen hervorzubringen, schon vor Dauthendey dem E.T.A. Hoffmann zum Beispiel bekannt, und auch das musikalische Pendant, Tönen unwillkürlich gewisse Farbennüancen zu unterlegen, ist allen aufrichtigen Gebildeten eine alte Erfahrung. Die Wissenschaft ist ganz gewiß unterwegs, festzustellen, daß alle diese Erscheinungen peripherische Schwingungen darstellen, welche, von einem gemeinsamen Zentrum ausgehend, uns nur deshalb andersartig zum Bewußtsein kommen, weil unsere beschränkten Organe immer nur Stücke dieses weiten Kreises wahrzunehmen vermögen. Warum sollte also nicht auch hier die Kunst vorausgehen und mit diesen Mitteln neue Pfade finden in die Teilnahme des Einzelnen? Daß gerade diese feinsten Mittel, die nur dort, wo sie nicht auffallen und solange sie nicht auffallen, einen Zweck erfüllen können, zum Kunstprinzip einer schwächlichen, einseitigen Poesie gemacht werden, ist mit ein Grund, daß man die neuen Kunstbestrebungen im Publikum so fremd und mißtrauisch betrachtet, wenn man ihnen nicht überhaupt den Rücken kehrt. – Es ist eine Art berechtigtes Gekränktsein in diesem Abwenden, denn es ist in der Tat brutal von dem Künstler, eine so feine Erkenntnis vergröbert zu verwenden. Der Laie findet mit Schrecken, wie die Dichtung eine seiner kaumbewußten, ganzintimen Empfindungen immer und immer wieder in widerlicher Beredtsamkeit dem und jenem verrät, er fühlt sich persönlich verwundet durch diese Indiskretion, und beschämt kommt er dazu, fanatisch zu leugnen, daß solche Dinge in ihm jemals vorgehen könnten. »Ich habe niemals Töne gesehen und niemals Farben gehört«, schreit er entrüstet wie einer, dem man nachweisen will, daß er verrückt sei. Und doch könnte die Kunst bei vornehmer und leiser Verwertung ihrer letzten Erkenntnisse in jedem Unvoreingenommenen ungeahnte seelische Reichtümer erwecken, ganz zarte Glocken zu leisem beglückenden Erwachen bringen und helle Perspektiven aufdecken wie alte Träume oder Erinnerungen.

Eine Gruppe von Künstlern weiß ich, welche alle die neuen und intimen Mittel kennt, und sie mit Takt und mit der nötigen Zärtlichkeit, ohne brutale Übertreibung und technische Betonung anwendet, und es ist lieb, daß es eine uns nahe, nachbarliche Kunst ist, die sich dieses Vorzuges rühmen kann: Die Wiener Kunst. Eines haben die Wiener vor denen im Reich und vor vielen anderen voraus: sie haben Geschmack. Und mögen sie in ihrer Tätigkeit noch so bewußt und übermütig werden, immer bleibt dieses ganz Unbewußte neben ihnen, wie ein treuer heimlicher Schutzgeist. Es war ein so langer Stillstand in Wien, und es ist ein Beweis des schönen österreichischen Temperamentes, daß der erste Versuch zu so reicher und reifer Blüte führen konnte. Und wenn diese Kunst der Loris und Altenberg auch nur eine Epoche war und in schöne Manier erstarrt, sie werden nie mehr ganz einschlafen, die Wiener, selbst wenn kein solcher Schönheitsbüttel mit seinem kleinen Zorn und seiner großen Phrase hinter ihrer ästhetischen Schlafmützigkeit her sein sollte, wie Hermann Bahr.

Zunächst ein paar Worte über diesen Vielgenannten. Da giebt es solche, welche ihn nur lächerlich finden, und solche, welche sogar lächeln über ihn. Den Einen gilt er für banal und dumm, den Einen für klug und geistreich, man kann Leute treffen, die einen Künstler in ihm erkennen, neben solchen, die ihn als Kritiker schätzen, und nicht weit davon andere, welche ihm alle Fähigkeit zu beiden Berufen absprechen möchten. Alle haben recht und unrecht zugleich. Das macht: Hermann Bar ist gewiß Alles das schon gewesen, und was er noch nicht war, das wird er Alles nochmal – scheinen. Er ist nämlich gar keiner. Er ist nur eine Art Widerhall der jungen Wiener. Wie ein Schatten wiederholt er ihr Wesen in breiteren, dunklen Dimensionen und vergrößert und vergröbert die feinen leisen Bewegungen dieser vornehmen Aestheten, die er auch nur so versteht, wie er sie verkündet. Er weiß gar nicht viel von ihrer Kunst, aber für manches Unausgesprochene, Namenlose darin erfindet er einen glatten glänzenden Namen und schleudert den mit »schöner Güte« in die staunende Menge. Er fühlt sich als der Gebende dabei und kommt oft so weit, diese Rolle auch denjenigen gegenüber, deren tönendes Werkzeug er wurde, fortzuspielen. Das macht das Publikum irre; die Leute benehmen sich dann oft wie Kinder, welche den betreßten Lakaien auf dem Bock für den König halten, weil sie hinter seinem Talmiglanz den blassen ernsten Mann im Wagen gar nicht bemerken. So geschieht es wirklich: die Fernerstehenden halten Bahr für das, was er, mühsälig genug, nachahmt, und er, dessen einziges Talent die Pose ist, weiß wohl die Meister zu verdecken, welche er verkündet.

So kommt es, daß der Name Loris immer noch wie ein Märchen klingt; nur wenig Eingeweihte finden die seltsam prächtigen Verse des Loris oder Hugo von Hofmannsthal, wie er eigentlich heißt, in den kaum zugänglichen »Blättern für die Kunst«, die nur in einem geladenen Leserkreis beschränkte Verbreitung finden, oder auf den Seiten des »Pan«, wo sie wie in Marmor gegraben, mit stillen, stolzen Lettern prangen. Dieser stille Stolz entspricht am besten der Eigenart seiner glänzenden Gedichte, deren tiefster Zauber darin zu beruhen scheint, daß sie, unzufrieden mit ihrer eigenen breiten Pracht, einem noch größern, ewigen Glanz sich entgegensehnen. Sie sind wie einsame Frauen, diese Verse, die, reich an Geschmeid und Gewand, am Rande blühender Gärten warten auf irgend eine letzte leuchtende Erfüllung. Loris hat ja gewiß von Frankreich her manche Geste übernommen, und er träumt manchen Farbentraum einem Baudelaire oder einem Mallarmé nach; aber diese verschiedenen romanischen Erbstücke waren seinem reichen, ursprünglichen Besitz so verwandt, daß man sie nun kaum mehr zu sondern vermag.

Während Loris aus lauter Ehrfurcht vor der würdigen Schönheit auch Formsucher wurde, glaube ich, daß Peter Altenberg die seinen Stoffen so ungeheuer passende Gestalt unwillkürlich aus dem aufrichtigen Geständnis heraus gewonnen hat, und daß er sie erst, seit er berühmt wurde, bewußt und deshalb lange nichtmehr mit derselben Keuschheit, wenngleich immer noch graziös handhabt. Er ist der erste Verkünder des modernen Wien. Seine hohe gesellschaftliche Reife (fast Überreife) findet sich in diesen Skizzen ebenso wie die biedermairische Gemütlichkeit, der lichte Frohsinn seiner Häuserstirnen, die ewige Festlichkeit seiner Ringe, die beständig einem Makartzug oder einer Kompagnie Deutschmeister entgegenzuwarten scheinen, und dann wieder die traurig rauschende Melancholie seiner Garten – Alles ist in diesen Skizzen mit der größten Pünktlichkeit – nicht beschrieben, – eben nur notiert, festgestellt, sozusagen in aller Unschuld konstatiert. Es liegt eine unsagbare primitive Schönheit darin. Wien hat plötzlich seine Sprache gefunden: es baut sich gleichsam nochmals auf aus seinen innersten Elementen und wird ein Wien neben Wien, ein Wien im Spiegel – wie hinter einem Glas, weit, blaß, glänzend!

Mit Altenberg komme ich zu denjenigen Lyrikern (denn er gehört zu diesen, nicht zu den Novellisten), welche die alte Gedichtform auch nichtmehr äußerlich durch unmotiviert endende Verszeilen simulieren, sondern klipp und klar eingestehen, daß sie »Gedichte in Prosa« schreiben. Diese Aufrichtigkeit ist sehr lobenswert, man weiß gleich, wie man sich gegen sie zu kehren hat. Und es sei denn ein für allemal gesagt, daß das Wesen des Gedichtes keineswegs mit dem Reim und dem Rhythmus steht und fällt; denn wo es sich darum handelt, letzte Empfindungen in der unwillkürlichsten, also individuellsten Form austönen zu lassen, ist neben anderen auch eine Form möglich, welche der Prosa ziemlich ähnelt. Aber sie wird sich doch nie mit der Prosa der betreffenden Persönlichkeit verwechseln lassen, denn auch dieses Werk muß, als ein unbewußtes Tönen, dem bewußten, von Intellekt und Überlegung geleiteten Erzahlen gegenüber, Rhythmus haben, – nämlich den Rhythmus der ganzen Persönlichkeit, und also immer noch eine höhere gebundene Form darstellen als jede noch so poetische Prosa. Deshalb ist das »Gedicht in Prosa« eine durchaus falsche und irreführende Bezeichnung, und jeder Schaffende, welcher denkend und nicht gewohnheitsmäßig seine Schöpfungen also benennt, gesteht ja im Vorhinein zu – etwas – »in Prosa« verfaßt zu haben und steht dem, der von Gedichten zu sprechen hat, nichtmehr im Wege. Auch ist es ganz überflüssig, einen solchen Wink mit dem Zaunpfahl zu geben; denn hat einer, welcher zu lesen versteht, ein solches Buch durchwandert, ohne sich klar geworden zu sein, ob es Gedichte wären, so sind es gewiß keine – und, wer das Lesen noch nicht gelernt hat, fühlt sich durch die beschränkende Titelmarke nur vergewaltigt oder beschämt. Seit man es aufgegeben hat, den Wert und die Eigenart lyrischer Geständnisse durch die kleidsamen, uniformen Trachten des Sonetts, der Stanze u.a. zu beeinträchtigen, schreibt eben jeder seine ganz persönlichen Verse (worunter ja dann und ja ein Madrigal oder ein Sonett mit unterlaufen kaum), und diejenigen Arten derselben, welche die Zeilen füllen statt 3–5 cm vom Rande zu enden, anders zu benennen, dazu liegt doch nicht der geringste Grund vor. Es kann in der einen Gestalt wie in der anderen sich etwas darstellen, was trotz allem und allem kein Gedicht ist, und das reinreimigste Sonett ist noch lange nicht die Gewahr Gedicht zu sein, wie die randvollste Seite niemals eine Gefahr bedeutet dafür. Wohl aber ist es eine große Bequemlichkeit für jene, welche weder Gedichte noch Prosa zustande bringen, die unglaubliche Verschwommenheit ihrer Pubertätsprosa mit der Bezeichnung »Gedichte« zu adeln. Das sind diejenigen, die, um ihrer unreinen Reime willen aus dem Paradies kleiner Winkelblättchen vertrieben, zur Überzeugung kommen, daß die Prosa doch »das Leichtere« sei. Das ist ein sündhafter Irrtum. Einem Jüngling, der in sich lauscht, kann früh, in erster Unreife ein unsterbliches, ewiges Lied gelingen; er kann der Leidende dabei sein, es kann ihm geschehen, wie ein Traum ihm geschieht: er ist unschuldig daran. Es ist nicht ein Beweis für seine Kraft, sondern vielleicht für seine Reinheit, für das Klingende seines Gemüts, für ein zeitiges Erwachen seiner Seele. – Eine gute Prosa muß ihm deshalb auch 15 Jahre später nicht gelingen; denn diese ist nicht unbewußtes Gestehen, sondern bewußtes hartes Ringen mit Stoff und Form, ernste Männerarbeit.

Daher habe ich oft arges Mißtrauen gegen die Verfasser von »Gedichten in Prosa«. Ihr Buch beweist, daß sie keine Gedichte machen können, und ein eventuell beigelegter Brief beeilt sich zu bestätigen, daß die einfachste Prosa ihnen auch ziemlich schwer fallt. Wenn die sogenannte Form » Gedichte in Prosa« vollends ein ganzes Buch von 200–300 Seiten beherrscht, liegt der Gedanke nahe, daß nur einige darunter Gedichte sein können, andere aber gezwungen waren, sich eben nach dem Willen des Verfassers zu verkleiden. Denn dieses Gewand kann nur ganz bestimmten Gefühlsstoffen unwillkürlich gewesen sein, und ein Band davon ist eine ebensolche Vergewaltigung des intimen Empfindens wie ein Band von Sonetten. Es ist übrigens eine grunddeutsche Eigenschaft, die Uniformierungssucht des Deutschen, eine Art von Gefühlsvereinsmeierei mit gemeinsamem Statut und zwillingsgleichen Jacken…

Nur bei Altenberg kann man dieselbe Form ein buchlang, vielleicht auch zweibücherlang ertragen. Sein Stoffkreis ist verhältnismäßig eng, und jeder seiner leisen Beichten ist eben diese Form ganz natürlich. Wenn aber auch andere über die bisherigen Grenzen hinausgehende Stoffkreise drin anklingen werden, wird die Form schon als enge, gezierte Manier erscheinen, abgesehen davon, daß Peter Altenberg weitere Geständnisse nicht zu machen hat, wenn er aufrichtig sein und sich auch nicht wiederholen will. –

Andere Versuche in diesem Sinne haben Caesar Flaischlen, Julius Hart, Johannes Schlaf und von Heimischen Alfred Guth gemacht. Sie sind jeder in seine Erfindung vernarrt, halten sie natürlich für die Form der Zukunft, oder wenigstens für ihre Form, geben volle Bücher davon und bemerken nicht, wie sie manches schöne Gefühl um des harten Gesetzes willen zutode quälen. Alle Erfinder sehen nichts neben ihrer Erfindung und werden einseitig. Der Mensch, welcher das Lachen entdeckt hätte, würde zweifelsohne auf jede andere Äußerung hochmütig verzichtet haben. Und so sind diese auch. Am meisten »Gedichte« dürften in dem neuen Buche Caesar Flaischlens stehen. Er ist wie alle, die den Realismus hinter sich haben, ein guter Beobachter und feinhöriger Künstler geworden, der aus reichen inneren Quellen schöpft, und sein jüngstes Buch (»Von Alltag und Sonne«) ist in diesem Sinne um so glücklicher, als es eine Nachernte seines intimen Erlebens (etwan von 1891 bis 97) enthält. Briefstellen, Postkartenzeilen und Tagebuchblätter sind mit feinem, wählerischem Geschmack an einandergereiht, wie verblaßte Blumen. Ihre versonnene Schönheit aber lebt von der zärtlichen Erinnerung, mit welcher der Dichter sie umsorgt. Hier kann das Zufällige der Entstehung und die aufrichtige Mitteilung Bürge sein für die Notwendigkeit dieser Form. Sie rechtfertigt sich selbst durch die innige Teilnahme, mit welcher sie Lieder und Skizzen begleitet. Vor hohen und hellen Gefühlen geht sie auf wie ein Meer, und dann wieder überwölbt sie mit leisen schützenden Rhythmen irgend eine innige Bangigkeit. Das sucht auch Alfred Guth zu erreichen und er hat bei sich selbst manches schone Geständnis erlauscht. Nur seine Form wird leicht enge und monoton und scheint mir stark von Altenberg beeinflußt. – Johannes Schlaf hat von seinem neuen zweiten Teil von »In Dingsda« erst ein paar Bruchstücke im »Pan« veröffentlicht, die eine an Verschwommenheit grenzende Weichheit und Empfindlichkeit besitzen. Zu ähnlichen Wirkungen gelangt Julius Hart, der, nachdem er die ganze neue Kunst, lehrend und wehrend, in seinen oft trefflichen Kritiken begleitet hat, in seinem Buch »Stimmen in der Nacht« zwei formale Neuschöpfungen theoretisch erörtert. Es sind eigentlich Novellen, aber der Umstand, daß ihre Handlung in dem primären Gefühlsschauplatz, in der Seele einerseits zurückgehalten, andererseits dahin projiziert werden soll, nähert sie stark den subjektiven lyrischen Geständnissen, und stellt sie also an den Rand meiner Betrachtung. Julius Hart meint so die ursprüngliche Höhe und Frische der Empfindungssensationen, gleichsam direkt, ohne den erkaltenden Umweg durch die Komposition zu machen, in sein Werk hinüberzuleiten und vergißt, daß dies wohl die Lyrik für ihre Gefühlselemente gestattet, die dreidimensionale Handlung aber in dieser Art niemals übertragbar ist. Er hat ein unhaltbares Mittelding zwischen Gedicht und Novelle geschaffen, welches stellenweise ganz Gedicht ist und da seine tiefe Poesie nicht verleugnet.

Alle Bücher, von denen ich hier gesprochen habe, nicht zum wenigsten die letztgenannten, haben ein Gemeinsames: ihre künstlerische Ausstattung. An Stelle der sinnlosen Clichés ist allenthalben ein begleitender Buchschmuck getreten, Papier und Druckertype sogar haben sich der Art des Buches besonders angepaßt.

Ein freudiges Zusammentun der Künste und Künstler macht sich bemerkbar. Nicht nur der Inhalt ihrer Werke ist freudig und erwartungsvoll, auch ihr äußeres Gewand wird würdig und feierlich. Und in alle Dinge steigt diese leise sehnsüchtige Schönheit; die Möbel, Teppiche und die kleinsten Dinge täglichen Gebrauches um euch wird sie ganz unvermutet verwandeln. Und plötzlich werdet ihr die einzigen sein, die noch die Nutzkleider des Alltags tragen. Und ihr werdet erschrocken auch eure Seelen schmücken zu dem festlichen Empfang der neuen Zeit, deren bescheidener, unbeholfener Verkünder ich sein will in diesen Worten!



Quellennachweis

Vortrag, gehalten am 5. März 1898 im Deutschen Dilettantenverein in Prag. Verfaßt wohl kurz vorher in Berlin. Erstdruck1965. Aus: Rainer Maria Rilke: Werke in 3 Bänden. Hrsg. v. Horst Nalewski. Leipzig: Insel, 1978. 2. Band, S. 650ff.