Moderne Lyrik (Hebbel): Unterschied zwischen den Versionen

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Im Allgemeinen hat man von jeher zwei Hauptrichtungen unter schieden: die '''geistige''', die bei uns durch '''Schiller''' repräsentirt wird und die man nicht so kurzweg die reflective nennen sollte, und die '''gemüthliche''', die '''Goethe''' vertritt. Darin hatte man auch ganz recht, man behielt nur nicht genug im Auge, daß beide Richtungen in der Phantasie ihre gemeinschaftliche Wurzel haben, welche die geistige allein vor der Abstraction und die gemüthliche vor dem Sturz in die nüchternste Prosa bewahren kann. Denn freilich, wenn jeder Gedanke ein Gedicht oder auch nur der <Keim> zu einem Gedicht wäre, so hätte Johann Jacob Wagner, der würzburger Philosoph, Recht gehabt, als er seine Dichterschule schrieb und in ihr den Beweis lieferte, daß man jederzeit aus einem scharfen Kopf ein classischer Dichter werden könne. Und wenn jedes Juchhe und jedes Oweh, das im Wechsel der Gefühle aus dem so oder so bewegten Herzen aufsteigt, nur seine Wahrheit darzuthun und etwa noch seine Entstehungsgeschichte hinzuzufügen brauchte, um für poetisch zu gelten, so wäre Vater Gleim mit großem Unrecht ausgestrichen worden, so dürften die Vogl und Genossen nie ausgestrichen werden, so müßten die nürnberger Meistersänger alle wieder auferstehen, so gäbe es aber auch keinen Unterschied zwischen Poesie und Prosa, als den Reim. Es muß aber ein schöpferischer Akt der Phantasie hinzukommen, der den allgemeinen Gedanken individualisirt und umgekehrt das subjective Gefühl generalisirt, und die Individuen, in denen dieser Act sich vollzieht, treten so selten hervor, daß man noch in tausend Jahren keine Ueberbevölkerung des Parnasses zu besorgen haben wird. Den Stadtpfeifern und Thurmbläsern gegenüber, die alljährlich unsere Musenalmanache füllen, wird natürlich mit einer Definition nichts ausgerichtet, denn sie verachten sie entweder, oder fühlen sich, wundersamerweise, mit ihr in Uebereinstimmung. Aber wem um Einsicht zu thun ist, der gehe dem hier gegebenen Fingerzeige nach und mache auf Goethe und Schiller die Anwendung. Bei Goethe leuchtet es auf den ersten Blick ein, daß alle seine Gedichte Perspectiven mit unendlichen Spiegelungen eröffnen und sich nur darum so eng an die von ihm nicht ohne Grund hochgepriesene Gelegenheit anschließen, weil er den Standpunkt möglichst scharf fixiren muß; aber auch bei Schiller ist nicht zu verkennen, daß er den philosophischen Gehalt, der ihm allerdings immer vorschwebt, keineswegs, wie etwa Lucrez, als einen schon errungenen, blos ausbreitet und in einen Goldrahmen faßt, sondern daß er uns sein Kämpfen um ihn und also seine Abhängigkeit von ihm in allen Stadien darstellt. So generalisirt der Eine sein Besonderes und individualisirt der Andere sein Allgemeines, bis sie, von ganz entgegengesetzten Enden ausgehend, in der Mitte des Wegs zusammentreffen und die beiden Hälften der Menschheit innig mit einander verschmelzen. Es versteht sich von selbst, daß nur von den besten Stücken dieser Männer die Rede sein kann.
Im Allgemeinen hat man von jeher zwei Hauptrichtungen unterschieden: die '''geistige''', die bei uns durch '''Schiller''' repräsentirt wird und die man nicht so kurzweg die reflective nennen sollte, und die '''gemüthliche''', die '''Goethe''' vertritt. Darin hatte man auch ganz recht, man behielt nur nicht genug im Auge, daß beide Richtungen in der Phantasie ihre gemeinschaftliche Wurzel haben, welche die geistige allein vor der Abstraction und die gemüthliche vor dem Sturz in die nüchternste Prosa bewahren kann. Denn freilich, wenn jeder Gedanke ein Gedicht oder auch nur der <Keim> zu einem Gedicht wäre, so hätte Johann Jacob Wagner, der würzburger Philosoph, Recht gehabt, als er seine Dichterschule schrieb und in ihr den Beweis lieferte, daß man jederzeit aus einem scharfen Kopf ein classischer Dichter werden könne. Und wenn jedes Juchhe und jedes Oweh, das im Wechsel der Gefühle aus dem so oder so bewegten Herzen aufsteigt, nur seine Wahrheit darzuthun und etwa noch seine Entstehungsgeschichte hinzuzufügen brauchte, um für poetisch zu gelten, so wäre Vater Gleim mit großem Unrecht ausgestrichen worden, so dürften die Vogl und Genossen nie ausgestrichen werden, so müßten die nürnberger Meistersänger alle wieder auferstehen, so gäbe es aber auch keinen Unterschied zwischen Poesie und Prosa, als den Reim. Es muß aber ein schöpferischer Akt der Phantasie hinzukommen, der den allgemeinen Gedanken individualisirt und umgekehrt das subjective Gefühl generalisirt, und die Individuen, in denen dieser Act sich vollzieht, treten so selten hervor, daß man noch in tausend Jahren keine Ueberbevölkerung des Parnasses zu besorgen haben wird. Den Stadtpfeifern und Thurmbläsern gegenüber, die alljährlich unsere Musenalmanache füllen, wird natürlich mit einer Definition nichts ausgerichtet, denn sie verachten sie entweder, oder fühlen sich, wundersamerweise, mit ihr in Uebereinstimmung. Aber wem um Einsicht zu thun ist, der gehe dem hier gegebenen Fingerzeige nach und mache auf Goethe und Schiller die Anwendung. Bei Goethe leuchtet es auf den ersten Blick ein, daß alle seine Gedichte Perspectiven mit unendlichen Spiegelungen eröffnen und sich nur darum so eng an die von ihm nicht ohne Grund hochgepriesene Gelegenheit anschließen, weil er den Standpunkt möglichst scharf fixiren muß; aber auch bei Schiller ist nicht zu verkennen, daß er den philosophischen Gehalt, der ihm allerdings immer vorschwebt, keineswegs, wie etwa Lucrez, als einen schon errungenen, blos ausbreitet und in einen Goldrahmen faßt, sondern daß er uns sein Kämpfen um ihn und also seine Abhängigkeit von ihm in allen Stadien darstellt. So generalisirt der Eine sein Besonderes und individualisirt der Andere sein Allgemeines, bis sie, von ganz entgegengesetzten Enden ausgehend, in der Mitte des Wegs zusammentreffen und die beiden Hälften der Menschheit innig mit einander verschmelzen. Es versteht sich von selbst, daß nur von den besten Stücken dieser Männer die Rede sein kann.




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Gesamter Text (mit Literaturangaben) [http://www.uni-due.de/lyriktheorie/texte/1853_hebbel.html hier]
Gesamter Text (mit Literaturangaben) [http://www.uni-due.de/lyriktheorie/texte/1853_hebbel.html hier]


Anmerkung: "Moderne Lyrik" bezieht sich hier auf zwei Neuerscheinungen, die Hebbel kritisch bespricht:
* Adolph Pichler: Gedichte. Innsbruck: Wagner 1853
* Carl Reinhold [d.i. Christian Reinhold Köstlin]: Gedichte. Stuttgart: Mäcken 1853
Hebbel zeichnet die Geschichte der deutschen Lyrik nach Goethe und Schiller als Abstiegsprozeß, aus dem nur, jeweils graduell kleiner, Uhland und danach Freiligrath und Lenau herausragen. Alles andere, Heine, Mörike (von Droste-Hülshoff zu schweigen) und der Rest sind ihm keiner Erwähnung wert.

Aktuelle Version vom 9. November 2011, 18:42 Uhr

Friedrich Hebbel: Moderne Lyrik

Im Allgemeinen hat man von jeher zwei Hauptrichtungen unterschieden: die geistige, die bei uns durch Schiller repräsentirt wird und die man nicht so kurzweg die reflective nennen sollte, und die gemüthliche, die Goethe vertritt. Darin hatte man auch ganz recht, man behielt nur nicht genug im Auge, daß beide Richtungen in der Phantasie ihre gemeinschaftliche Wurzel haben, welche die geistige allein vor der Abstraction und die gemüthliche vor dem Sturz in die nüchternste Prosa bewahren kann. Denn freilich, wenn jeder Gedanke ein Gedicht oder auch nur der <Keim> zu einem Gedicht wäre, so hätte Johann Jacob Wagner, der würzburger Philosoph, Recht gehabt, als er seine Dichterschule schrieb und in ihr den Beweis lieferte, daß man jederzeit aus einem scharfen Kopf ein classischer Dichter werden könne. Und wenn jedes Juchhe und jedes Oweh, das im Wechsel der Gefühle aus dem so oder so bewegten Herzen aufsteigt, nur seine Wahrheit darzuthun und etwa noch seine Entstehungsgeschichte hinzuzufügen brauchte, um für poetisch zu gelten, so wäre Vater Gleim mit großem Unrecht ausgestrichen worden, so dürften die Vogl und Genossen nie ausgestrichen werden, so müßten die nürnberger Meistersänger alle wieder auferstehen, so gäbe es aber auch keinen Unterschied zwischen Poesie und Prosa, als den Reim. Es muß aber ein schöpferischer Akt der Phantasie hinzukommen, der den allgemeinen Gedanken individualisirt und umgekehrt das subjective Gefühl generalisirt, und die Individuen, in denen dieser Act sich vollzieht, treten so selten hervor, daß man noch in tausend Jahren keine Ueberbevölkerung des Parnasses zu besorgen haben wird. Den Stadtpfeifern und Thurmbläsern gegenüber, die alljährlich unsere Musenalmanache füllen, wird natürlich mit einer Definition nichts ausgerichtet, denn sie verachten sie entweder, oder fühlen sich, wundersamerweise, mit ihr in Uebereinstimmung. Aber wem um Einsicht zu thun ist, der gehe dem hier gegebenen Fingerzeige nach und mache auf Goethe und Schiller die Anwendung. Bei Goethe leuchtet es auf den ersten Blick ein, daß alle seine Gedichte Perspectiven mit unendlichen Spiegelungen eröffnen und sich nur darum so eng an die von ihm nicht ohne Grund hochgepriesene Gelegenheit anschließen, weil er den Standpunkt möglichst scharf fixiren muß; aber auch bei Schiller ist nicht zu verkennen, daß er den philosophischen Gehalt, der ihm allerdings immer vorschwebt, keineswegs, wie etwa Lucrez, als einen schon errungenen, blos ausbreitet und in einen Goldrahmen faßt, sondern daß er uns sein Kämpfen um ihn und also seine Abhängigkeit von ihm in allen Stadien darstellt. So generalisirt der Eine sein Besonderes und individualisirt der Andere sein Allgemeines, bis sie, von ganz entgegengesetzten Enden ausgehend, in der Mitte des Wegs zusammentreffen und die beiden Hälften der Menschheit innig mit einander verschmelzen. Es versteht sich von selbst, daß nur von den besten Stücken dieser Männer die Rede sein kann.


Erstdruck: Illustrirte Zeitung. Wöchentliche Nachrichten über alle Ereignisse, Zustände und Persönlichkeiten der Gegenwart, über Tagesgeschichte, öffentliches und gesellschaftliches Leben, Handel, Gewerbe und Industrie, Wissenschaft und Kunst, Musik, Theater und Moden. 1853, Nr. 544, 3. Dezember, S. 355-356. (pdf

Gesamter Text (mit Literaturangaben) hier


Anmerkung: "Moderne Lyrik" bezieht sich hier auf zwei Neuerscheinungen, die Hebbel kritisch bespricht:

  • Adolph Pichler: Gedichte. Innsbruck: Wagner 1853
  • Carl Reinhold [d.i. Christian Reinhold Köstlin]: Gedichte. Stuttgart: Mäcken 1853

Hebbel zeichnet die Geschichte der deutschen Lyrik nach Goethe und Schiller als Abstiegsprozeß, aus dem nur, jeweils graduell kleiner, Uhland und danach Freiligrath und Lenau herausragen. Alles andere, Heine, Mörike (von Droste-Hülshoff zu schweigen) und der Rest sind ihm keiner Erwähnung wert.