Begriff und Methoden der Poetik
Eugen Wolff: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung (1899)
Begriff und Methoden der Poetik.
§ 1. Begriff der Poetik.
Poetik ist die Wissenschaft von den Gesetzen der Poesie.
Eine Wissenschaft ist die systematisch geordnete Summe dessen,
was wir über ein Gebiet wissen. Folglich ist Material der Poetik,
aus dem sie ihre Gesetze ableitet, die systematisch geordnete Summe
dessen, was wir über die Poesie wissen; d. h. Gegenstand der Poetik
ist die systematisch geordnete Geschichte der Weltpoesie.
Als Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Poetik ergeben sich:
a) Ausgehen von der Weltpoesiegeschichte,
b) Ordnung der Weltpoesiegeschichte nach einheitlichen Gesichtspunkten.
Die Poetik beruht somit auf einem Rückblick über alle bisherige Poesie, um deren Gesetze abzuleiten.
§ 2. Ursprüngliche Auffassung der Poetik.
Ursprünglich hat man den rein wissenschaftlichen Charakter der Poetik verkannt, ihr vielmehr ganz oder teilweise praktischen Zweck unterschieben wollen. Damals blickte die Poetik wesentlich vorwärts, um Regeln für alle zukünftige Poesie aufzustellen. Die Poetik gab sich dogmatisch.
Aus welchen Quellen leiteten sich diese Regeln her? Sie fußten auf Aussprüchen angesehener Kunstrichter des Altertums, das in der Entstehungszeit der deutschen und überhaupt der modernen Poetik, im Zeitalter der Renaissance, als unbedingte Autorität in Fragen der Kunst galt.
§ 3. Autoritativ-dogmatische Poetik: Horaz.
Wie die Renaissance sich überall enger an die Vermittlung der Römer als an die griechischen Quellen der antiken Kunst anschloß, war es zunächst Horaz, dessen Epistel an die Pisonen, ursprünglich ein Gelegenheitsgedicht, zum Rang einer Poetik erhoben wurde. Ohne Vollständigkeit zu erstreben oder auch nur das Wesen der Dichtkunst in den Vordergrund stellen zu wollen, ging Horaz davon aus, daß zu den Erfordernissen des vollendeten Dichters nicht bloß Begabung gehöre, die er als selbstverständlich erwähnt, sondern auch treue Beobachtung behufs Nachahmung der Wirklichkeit, ferner Studium und zur Erreichung formeller Meisterschaft Uebung, ebenso Fähigkeit zu einheitlicher Ordnung der Gedanken, schließlich eine Reihe besonderer Eigenschaften namentlich für die dramatische Poesie. Jhm war es vor allem darum zu thun, eine in seiner Zeit eingerissene schwindelhafte Liederlichkeit zu geißeln, die - wie zu manchen Zeiten sonst - prätendierte, daß Talent sowohl den Charakterhalt als Studium und formelle Durchbildung ersetzen könne. Jndem die Renaissance-Poetik diese Beziehung der Epistel außer acht ließ, wurde der kunstmäßigen Form, die Horaz neben der Begabung zur Geltung bringen wollte, entscheidender Wert und breitester Raum gewährt, und jede gelegentliche Aeußerung dieser römischen Satire zum Kanon erhoben.
Gewiß ist auch in der frühesten modernen Poetik schon eine
selbständige Bethätigung zu verspüren: aber sie beschränkte sich in Ergründung
des poetischen Wesens gerade darauf, einseitig diejenigen
Punkte herauszugreifen, die dem eigenen lehrhaften und formalistischen
Geiste Raum zu bieten schienen. "Entweder nützen oder ergötzen
wollen die Dichter oder zugleich beides, das Angenehme und Nützliche
des Lebens, zur Aussprache bringen": solche gelegentliche Feststellung
ward als Begriffsbestimmung der Poesie ausgegeben, überdies mit einseitiger Betonung des Nützlichen. - "Wie die Malerei so die
Poesie: es giebt eine, die mehr einnimmt, wenn man näher hinzutritt,
und eine, wenn man sie in weiterem Abstand betrachtet": dieser
äußerliche Vergleich unterlag bis zu Lessings Tagen einer Verallgemeinerung,
als ob Horaz damit für die Poesie habe die Gesetze der
Malerei empfehlen wollen.
Wie die metrischen Untersuchungen entscheidend in den Vordergrund
traten, vollbrachte Martin Opitz 1624 in seinem "Buch von
der deutschen Poeterei" die Entdeckung des deutschen Versgesetzes im
Unterschied von dem antiken. Abgesehen von dieser bedeutsamen Regung
der Selbständigkeit verharrte die Poetik unter der Autorität
des Altertums und seiner Mittler aus den modernen Renaissance-
Völkern.
§ 4. Fortsetzung: Aristoteles.
Selbst der hervorragendste Kunstrichter und praktische Philosoph des Altertums, Aristoteles, kam nicht in seinem reinen griechischen Urtext zur Geltung, vielmehr übernahm ihn die deutsche Poetik in der Auffassung französischer Kommentatoren.
Opitz hat noch keinen entscheidenden Einfluß von Aristoteles erfahren.
Verständnislos benutzt haben ihn wohl die Theoretiker der
jüngeren Dichterschulen des 17. Jahrhunderts. Erst Gottsched sucht
1730 in seinem "Versuch einer kritischen Dichtkunst" die Theorien
des Stagiriten grundsätzlich durchzuführen. Auch er verkannte, in
Uebereinstimmung mit den Franzosen, den eigentlichen Charakter der
Aristotelischen Poetik. Sie fußte auf reichem Erfahrungsmaterial,
namentlich auf voller geschichtlichen Würdigung der griechischen Tragödie
und des Epos. Wiederum stellt die moderne Poetik die Kennzeichen
und Gesetze, welche der antike Kunstrichter an den ihm vorliegenden
Dichtwerken entdeckt, als Regeln und Richtschnur für alle
künftige Poesie hin.
Als Ursache für Entstehung der Dichtkunst faßt Aristoteles den
Nachahmungstrieb auf; so sucht er die Dichtkunst von andern Arten
der Nachahmung zu scheiden, die idealisierenden Mittel festzustellen,
durch welche sie das Vorbild zur Kunst gestaltet. Der unkünstlerische, naturalistische Sinn der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts
las aus alledem nur seine eigene Geistlosigkeit heraus: Nachahmung,
und zwar möglichst unverfälschte Nachahmung der Natur und platte
Wiedergabe des Rohstoffes sei das Wesen und der Zweck aller Kunst.
Ganz in Abhängigkeit von der Lehre der französischen Klassiker
des 17. Jahrhunderts nimmt Gottsched die gelegentlichen praktischen
Winke des Aristoteles über die drei Einheiten der Tragödie mit pedantischer
Veräußerlichung als Grundgesetze über das Wesen dieser Kunstform
hin.
Zu derselben Zeit, da sich die spekulative Philosopie den Banden
des Aristoteles entwand, um mit Descartes modern, mit Leibniz
deutsch zu philosophieren, hebt sich somit eine neue Herrschaft des
Stagiriten auf dem Gebiete der Poetik an. Noch Lessing steht ganz
im Bann dieser großen Autorität, ja gerade er stellt Aristoteles als
Kanon hin, von einer Geltung wie Euklid in der Mathematik. Nur
griff seine Hamburgische Dramaturgie (1767-1769) zum ersten mal
kongenial auf den Urtext des Aristoteles zurück und hob den humanistischen
Kern dieser antiken Kunstlehre heraus: die tragischen Leidenschaften
und ihre Katharsis.
Noch heute findet die Autorität des Aristoteles weithin dogmatische
Anerkennung. Doch hat sich inzwischen aus verschiedenen Keimen
das Recht selbständiger Forschung über das Wesen der Poesie zur
Geltung durchgerungen.
§ 5. Fortsetzung: Die Franzosen.
Von den neueren Völkern waren es die Franzosen, die um die Wende des 17. und 18. Jahrhunderts, wie auf allen Gebieten, auch in der Poetik als Muster galten. Wurden doch selbst die antiken Kunstlehren erst durch französische Vermittlung nach Deutschland übernommen.
Den Renaissance-Poetiken, die ausdrücklich auf dem Altertum fußen, folgen Versuche, in der Theorie der Dichtkunst den französischen Geist selbstthätig zur Wirkung zu bringen. Boileau vor allem prägt den Geist seines Volkes und seines Zeitalters - des Zeitalters von Ludwig XIV. - in der Poetik aus. Noch weithin zeigt sich Berührung mit Horaz, aber zum guten Teil entspringt sie aus Verwandtschaft der beiden kritischen Köpfe.
Mit Boileau gelangt der "gesunde Menschenverstand" (bon sens)
in Auffassung der Poesie zur Herrschaft; nichts ist ihm schön als das
Wahre; Verstiegenheit der Phantasie erregt seinen Spott - so war
er zu einer ästhetischen Autorität auch des deutschen Rationalismus
prädestiniert.
Nächstdem ist es namentlich Hedelin, der Abt von Aubignac,
der bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland anerkannte
Geltung, in erster Linie für theatralische Fragen, genießt. Auch sonst
entfaltet jeder deutsche Beitrag zur Poetik bis in Lessings Tage eine
bunte Musterkarte französischer Autoritäten.
§ 6. Spekulativ-dogmatische Poetik.
Jnzwischen versucht die philosophische Spekulation selbständig ihre Schwingen.
Neben Gottsched hergehend, unternehmen die Züricher Kunstrichter
Bodmer und Breitinger die Begründung einer eigenen Kunstlehre
aus der Phantasie. Obschon von eigenem Geiste durchdrungen,
zeigen sich ihre (in der Hauptsache 1740 erschienenen) theoretischen
Schriften in den Einzelfragen noch weithin von fremden Autoritäten
abhängig. Nicht anders ergeht es Gottscheds hervorragendstem Schüler
Johann Elias Schlegel, der (noch in den vierziger Jahren) das
Verhältnis der Kunst zur Natur weniger sklavisch darstellen will.
Begründer der ausgebildeten, geschlossen systematischen Theorie
der Kunst auf spekulativer Grundlage wird indessen erst Alexander
Baumgarten, dessen "Aesthetika" (Band I: 1750, Band II:
1758) der neuen Wissenschaft den Namen gab. Wie dieser Name
sagt, sieht Baumgarten in ihr eine Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis,
deren Vollkommenheit, die Schönheit, damit zum Prinzip
der Kunst erhoben war.
Seinen Ausgang nahm Baumgarten von der Philosophie Christian
Wolfs, die weniger ihre Aufgabe in Ergründung des Welträtsels
als in dem formalistischen Streben sah, Ordnung in die Uebersicht
aller Gebiete des menschlichen Geistes zu bringen: so führte das Streben nach Klassifizierung notgedrungen zu einer Abzweigung dieser
eigenartigen Seelenfunktion.
Jn Kant erhob sich die deutsche Philosophie zu klassischer Höhe.
Auf dem Gebiete der Aesthetik bewirkt Kants "Kritik der Urteilskraft"
(1790) nicht eine gleiche Umwälzung wie in der modernen Weltanschauung
seine "Kritik der reinen Vernunft". Fruchtbar wurde vor
allem seine eindrucksvolle Begriffsbestimmung des Schönen und des
Erhabenen, sowie die Unterordnung des Sinnentriebes und so auch
der ästhetischen Neigung unter den Moraltrieb, die eherne Unterjochung
des Natürlich-Gefälligen unter das Geistig-Notwendige.
Unsere klassischen Dichter fühlten sich von dieser kategorischen
Schroffheit abgestoßen. Jn den Xenien parodierten sie den rigoristischen
Zug des großen Königsberger Philosophen:
"Gewissensskrupel.
Gerne dien' ich den Freunden, doch thu' ich es leider mit Neigung,
Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.
Decisum.
Da ist kein andrer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten,
Und mit Abscheu alsdann thun, wie die Pflicht dir gebeut."
Schiller war es, der einen Ausgleich zwischen Naturtrieb und Geist,
eine freiwillige Unterwerfung des Sinneninstinktes unter das Sittengesetz
suchte und gerade in "ästhetischer Erziehung" fand: so offenbarte
sich ihm die Kunst als Mittlerin zwischen den menschlichen Leidenschaften
und Pflichten, als Weg zur Vergeistigung der menschlichen
Natur.
Die spekulative Aesthetik erreichte ihren Höhepunkt in Hegel: er
faßt die Kunst nicht allein als eine Erscheinungsform des absoluten
Geistes, vielmehr als ein geschichtliches Stadium desselben
und leitet so zu der fruchtbaren entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung
über, welche sich nicht darauf beschränkt, die Künste in ihrem heutigen
Nebeneinander hinzunehmen, sondern ihre Entstehung und ihr ursprüngliches
Verhältnis zu erfassen sucht. Die Durchführung dieses richtigen
und epochemachenden Prinzips scheitert bei Hegel an der willkürlichen
Konstruktion einer solchen Geschichte des menschlichen Geistes. Namentlich
handelt er die Religion als eine höhere Stufe des Geistes hinter der Kunst ab, ohne ernstlich nach der geschichtlichen Priorität
zu fragen und damit den Entstehungsprozeß der Poesie geschichtlich
zu belauschen.
§ 7. Empirische Poetik.
Mit der Ausdehnung und den Erfolgen der Einzelforschung sah sich die Wissenschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts mehr und mehr auf einen induktiven d. i. aus der Erfahrung ableitenden Betrieb hingedrängt. Von dem Zug der modernen Naturwissenschaft, aus umfassender Beobachtung des Einzelmaterials durchgehende Gesetze abzuleiten, wurde auch die Geisteswissenschaft ergriffen. Auf verschiedenen Gebieten verfügt sie thatsächlich bereits über ein genügend reiches Erfahrungsmaterial, daß es sich selbst eine Binde vor die Augen legen hieße, wenn die Philosophie, und so auch die Kunstphilosophie, noch länger allein nach allgemeinen Kategorien von außen her an ihre Gegenstände heranträte.
Für die Poetik war die neue Aufgabe: statt aus der Jdee eines
Einzelgeistes deduktiv Gesetze zu formulieren und diese durch Beispiele
zu belegen, vielmehr umgekehrt Beispiele poetischer Bethätigung in
möglichst großer Zahl zu sammeln, um aus ihrer systematischen Ordnung
die Gesetze abzuleiten.
Einen Versuch zur Erfüllung dieser Forderung unternahm Wilhelm
Scherer. Jm Sommer 1885 hielt er Universitätsvorlesungen
über Poetik, ein Jahr darauf starb er. Das aus seinem Nachlaß
herausgegebene Manuskript der Vorlesungen will somit nicht als abgeschlossenes
System, sondern nur als Entwurf beurteilt sein.
Scherer bezeichnet als sein Programm: "die dichterische Hervorbringung,
die wirkliche und die mögliche, vollständig zu beschreiben in
ihrem Hergang, in ihren Ergebnissen, in ihren Wirkungen". Eine
Poetik, die sich derart grundsätzlich auf Beschreibung des Materials
beschränkt, würde - wie von vorn herein einleuchtet - rein empirisch
bleiben, nur die Erfahrung geben, ohne sie zu erklären, geistig
zu durchdringen. Jn einem an sich berechtigten Eifer, vorschnelle
Folgerungen abzuwehren, will sich Scherer denn auch philosophischer
Schlußfassung möglichst entschlagen. Dieses Streben, an der Philosophie vorbeizugehen, läßt die äußere, materielle Erscheinung einseitig
in den Vordergrund treten und den geistigen Prozeß in der Dichterseele
dahinter verschwinden. Wo möglichst nur das, was mit Händen
greifbar, als Erfahrungsmaterial anerkannt ist, wird naturgemäß für
das innere Wesen der Dichtung leicht die äußere Erscheinungsform
hingenommen.
Dieses selbe Streben, statt an den Geist sich möglichst weit an
die Natur zu halten, läßt Scherer über den Rahmen der philosophischen
und selbst der litteraturgeschichtlichen Erfahrung nach rein naturgeschichtlichen
Beobachtungen blicken, die namentlich für die Entstehnng
der Poesie zur Verwertung kommen. Eine solche unmittelbare Uebertragung
tierischer Funktionen (wie der Liebeslockrufe als erster Form
poetischer Aeußerungen) auf das Gebiet des menschlichen Geistes bleibt
nun in jedem Falle materialistisch; für die Poesie ist dies Verfahren
um so weniger statthaft, als von ihr nicht vor Entwicklung der artikulierten
Sprache die Rede sein kann.
Bei alledem bringt Scherers Versuch eine Fülle von fruchtbaren
Einzelbemerkungen und glücklich herangezogenen litteraturgeschichtlichen
Belegen bei. Daß nicht in noch umfassenderem Maße die Weltlitteratur
zugrunde gelegt und so der naturwissenschaftliche und nationalökonomische
Zug stärker zurückgedrängt ist, erklärt sich unschwer aus
der Entstehung und dem jähen Abbruch des Werkes.
§ 8. Psychologisch-induktive Poetik.
Ungefähr gleichzeitig mit Scherers unphilosophischer Poetik gab Wilhelm Dilthey Bausteine für eine neue Poetik durch seine Abhandlung über "Die Einbildungskraft des Dichters" (1887 in dem Eduard Zeller gewidmeten Sammelwerk verschiedener Autoren: "Philosophische Aufsätze").
Auch hier wird der Ruf nach einer induktiven Poetik erhoben,
und Dilthey stützt sich im Prinzip auf das richtige, allein mögliche
Material der Erfahrung über die Litteratur: d. i. die Litteraturgeschichte,
ohne aus der Naturgeschichte hypothetische Analogien zu
übertragen. Als Philosoph vergißt Dilthey ebenso wenig, daß die
Aesthetik Kunstphilosophie ist.
Besonders bedeutsam erscheint, daß Dilthey auch im Hinblick auf die Poesie wiederholt die Geschichtlichkeit des Seelenlebens betont, so daß er sich der geschichtlichen Begrenztheit ästhetischer Gesetze nicht verschließt, aber, über die bloße Empirie hinaus, die Allgemeingültigkeit gewisser Grundzüge sucht. Dilthey geht so weit, von entwicklungsgeschichtlicher Auffassung zu sprechen.
Die Ausführung dieses fruchtbaren Gedankens wird beschränkt
durch Berufung auf die Methode "der wechselseitigen Erhellung, wie
sie Scherer bezeichnet hat", d. i. auf die Vergleichung beliebiger,
ohne historischen Zusammenhang herangezogener Beispiele. So sind
an die umfassende und feine psychologische Untersuchung einstweilen
nur wenige Seiten bestätigender Zeugnisse gereiht. Und dieser Schatz
der Erfahrung ist als starre Masse betrachtet, Erscheinungen verschiedener
Zeiten sind als klassische Beispiele beliebig durch einander geschoben
- mit einem Wort, auch in dieser verheißungsvollen Programmschrift
noch ist die Litteraturgeschichte nur als Raritätenkasten,
in den sich nach Bedürfniß hineingreifen läßt, statt als fließender
Organismus behandelt.
§ 9. Entwicklungsgeschichtliche Poetik.
Noch ist die Anschauung weit verbreitet, daß durch "klassische Beispiele" aus der Neuzeit oder aus früheren Blüteperioden der Litteratur allgemeingültige Gesetze der Poetik gewonnen werden könnten. Wo indes eine wissenschaftliche Allgemeingültigkeit erreicht werden soll, ist die Vorbedingung in jeder ausgebildeten Wissenschaft Allumfassung des Materials. Will also die induktive Poetik aus dem Stadium der Experimente in das des wissenschaftlichen Systems übergehen, so muß sie auf zusammenhängender Betrachtung der Geschichte der Weltpoesie fußen.
Liegt es an sich schon nahe, daß ein jeder Ueberblick den geschichtlichen
Zusammenhang in geschichtlicher Folge durchläuft, so
benötigt die induktive Poetik um so mehr dieser Verfahrungsweise, als
sich aus Verfolgung der geschichtlichen Wandlungen und Umbildungen
die allein zuverlässige Erklärung für die mancherlei offenbaren Abweichungen
innerhalb derselben poetischen Arten und Formen gewinnen läßt, für Abweichungen, die bei ungeschichtlicher bloßen Nebeneinanderstellung
an der Möglichkeit allgemeingültiger Begriffsbestimmung der
Poesie Zweifel aufkommen ließen.
Wenn wir alle inneren und äußeren Uebereinstimmungen der so
verschieden gearteten und gestalteten Zweige der Weltpoesie zusammenhängend
überblicken, so muß damit das Grundprinzip aller
Poesie herauszuheben sein; es muß auch aus dem geschichtlichen Zusammenhang
und der geschichtlichen Entwicklung das Prinzip der
Wandlungen erhellen, denen die Poesie unterworfen war.
Zusammenhängende Aufwicklung der geschichtlich gegebenen Erscheinungen,
systematische Geschichte der Weltpoesie, erscheint danach
als notwendige Grundlage der induktiven Poetik. Und diese hört auf,
empirisch zu sein, wird wahrhaft zur Kunstphilosophie, sobald sie die
Teile des Materials nicht mehr als Regel, sondern als geregelt betrachtet,
sobald sie die psychologische Quintessenz des Ganzen zum
alleinigen Gesetz erhebt: denn die Einzelerscheinungen nach ewigen
Prinzipien zu ergründen, ist das Wesen der Philosophie.
Aber die Poetik hört damit auch auf, die Gesetze einer einzig
wahren Poesie zu suchen: sie ergründet die Entwicklungsgesetze der
Poesie nach den Grundzügen wie den Variationen - nicht nur die
Methode, auch der Gehalt der neuen Poetik ist entwicklungsgeschichtlich.
§ 10. Fortsetzung: Einschränkungen.
Wir werden von vorn herein genötigt sein, die Bedenken und Beschränkungen ins Auge zu fassen, denen die entwicklungsgeschichtliche Poetik unterliegen könnte.
1. Wir wollen auf poetischem Material fußen, um die Poesie
zu erklären. Die Poetik will die Poesie regeln - und soll sich nun
von der Poesie regeln lassen!
Kennen wir die Gesetze, welche die Dichtung der Vergangenheit
in sich trägt, dann kennen wir freilich diejenigen, welche der zukünftigen
Litteratur zukommen, nur so weit wie wir überhaupt Zukünftiges
mit geschichtsphilosophischem Geist voraussetzen können. Weiter
vermag aber keine Wissenschaft zu dringen. Genug, daß wir mit den
Grundzügen der Poesieentwicklung, d. i. mit den Gesetzen, welche der Gesamtpoesie der Vergangenheit zugrunde liegen, einen Maßstab
für Beurteilung der Einzelerscheinungen in Vergangenheit und Gegenwart
gewonnen haben.
2. Die Poetik will allgemeingültig sein - und nimmt doch
verschieden gestaltete Entwicklungsstufen der Poesie an!
Jndes erkennt sie nicht jede Entwicklungsstufe für sich als gesetzgebend
an, was ein Chaos von Widersprüchen ergäbe. Die Poetik
erkennt vielmehr jede Entwicklungsstufe nur als eine Potenz, eine
Aeußerungsform der Entwicklung an und erst aus dem Jneinandergreifen
und einheitlichen Grundzug dieser Potenzen erschließt sie das
durchgehends zugrunde liegende Prinzip der Entwicklung. Dieses ist
zugleich partikulär für jede einzelne Entwicklungsstufe und allgemeingültig
für alle Stufen insgesamt, somit unanfechtbar gesetzgebend.
Es giebt ein einheitliches Wesen der Poesie, aber es hat viele
Offenbarungsformen, und die identischen Urzellen derselben werden
dem Beschauer erst durch geordnetes Zusammenrücken sichtbar.
3. Die entwicklungsgeschichtliche Poetik hat ihre Untersuchung
mit dem Beginn der Entwicklung, mit der Urpoesie, einzusetzen -
aber sie muß sich mit der ältesten geschichtlich erschließbaren Poesie
als Ausgangspunkt begnügen! Wie die Dichtung der Zukunft liegt
auch die der vorgeschichtlichen Vergangenheit in Dunkel gehüllt.
Ausschlaggebend ist: ob der vorhandene Ausschnitt der Weltpoesiegeschichte
von der ältesten ergründeten Zeit bis auf die Gegenwart
ausgedehnt d. h. entwicklungsreich genug ist, um ein bestimmtes Entwicklungsprinzip
erkennen zu lassen. Besteht diese Möglichkeit, dann
dürfen wir hypothetisch den Faden ebenso rückwärts in vorgeschichtliche
Zeit spinnen, wie wir ihn durch Aufstellung von Gesetzen, wenigstens
bedingungsweise, vorwärts in eine ständig ergänzende und revidierende
Zukunft ziehen. Nachdem wir die in geschichtlicher Zeit waltenden
Gesetze erkannt haben, werden wir zum mindesten voraussetzen dürfen,
daß die Entwicklung der Poesie in geschichtlich noch nicht erschlossener
Zeit nicht nach entgegengesetzten Normen erfolgte.
Je umfassender, je voller ausgeführt, je tiefer eingehend die Jnduktion,
desto präziser werden die Ergebnisse sein. Vorerst wird es
möglich und notwendig sein, in den Grundzügen die Richtung der
Poesieentwicklung zu erkennen.
[Fortsetzung: Definitionen der Poesie]
Aus: Wolff, Eugen: Poetik: Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung. Ein Grundriß. Oldenburg, Leipzig: Schulzesche Hof-Buchhandlung, 1899.
Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2019. URL: http://www.deutschestextarchiv.de/.
- Wolff, Eugen
- Die Gesetze der Poesie in ihrer geschichtlichen Entwicklung
- Erschienen 1899
- Deutsches Textarchiv
- Ästhetik
- Poetik
- Horaz
- Aristoteles
- Opitz, Martin
- Gottsched, Johann Christoph
- Lessing, Gotthold Ephraim
- Boileau, Nicolas
- Hédelin, François
- Bodmer, Johann Jakob
- Breitinger, Johann Jakob
- Schlegel, Johann Elias
- Baumgarten, Alexander
- Wolf, Christian
- Kant, Immanuel
- Schiller, Friedrich
- Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
- Scherer, Wilhelm
- Dilthey, Wilhelm