Weltliteratur

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Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, 1836

"Ich sehe immer mehr, fuhr Goethe fort, daß die Poesie ein Gemeingut der Menschheit ist, und daß sie überall und zu allen Zeiten in hunderten und aber hunderten von Menschen hervortritt. Einer macht es ein wenig besser als der andere und schwimmt ein wenig länger oben als der andere, das ist alles. Der Herr v. Matthisson muß daher nicht denken, er wäre es, und ich muß nicht denken, ich wäre es, sondern jeder muß sich eben sagen, daß es mit der poetischen Gabe keine so seltene Sache sey, und daß niemand eben besondere Ursache habe, sich viel darauf einzubilden, wenn er ein gutes Gedicht macht. Aber freylich wenn wir Deutschen nicht aus dem engen Kreise unserer eigenen Umgebung hinausblicken, so kommen wir gar zu leicht in diesen pedantischen Dünkel. Ich sehe mich daher gerne bey fremden Nationen um und rathe jedem, es auch seinerseits zu thun. National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen. Aber auch bey solcher Schätzung des Ausländischen dürfen wir nicht bey etwas Besonderem haften bleiben und dieses für musterhaft ansehen wollen. Wir müssen nicht denken, das Chinesische wäre es, oder das Serbische, oder Calderon, oder die Nibelungen; sondern im Bedürfniß von etwas Musterhaftem müssen wir immer zu den alten Griechen zurückgehen, in deren Werken stets der schöne Mensch dargestellt ist. Alles übrige müssen


Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 3


"Im ästhetischen Fach sieht es freylich bey uns am schwächsten aus und wir können lange warten, bis wir auf einen Mann wie Carlyle stoßen. Es ist aber sehr artig, daß wir jetzt, bey dem engen Verkehr zwischen Franzosen, Engländern und Deutschen, in den Fall kommen uns einander zu corrigiren. Das ist der große Nutzen, der bey einer Weltliteratur herauskommt und der sich immer mehr zeigen wird. Carlyle hat das Leben von Schiller geschrieben und ihn überall so beurtheilt, wie ihn nicht leicht ein Deutscher beurtheilen wird. Dagegen sind wir über Shakspeare und Byron im Klaren und wissen deren Verdienste vielleicht besser zu schätzen als die Engländer selber."

Ebd. S. 374


Gutzkow, Karl: Börne's Leben, 1840

Die kurz nach der Julirevolution gestiftete Europe litteraire, die dem Gedanken Goethes von einer Weltliteratur großen Vorschub hätte leisten können, aber bald der zu kostspieligen Begründung wegen eingehen mußte, hatte, um in Deutschland Eingang zu finden, erklärt: Die Politik bleibt von unsern Spalten ausgeschlossen. Dies schien Börne schimpflich: denn eine Freiheit haben und sie nicht benutzen, war ihm noch mehr als eine Thorheit.


Gutzkow, Karl: Börne's Leben. Hamburg, 1840, S. 105f


Karl Marx / Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, 1848

Die Bourgeoisie hat durch die Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet. Sie hat zum großen Bedauern der Reaktionäre den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen. Die uralten nationalen Industrieen sind vernichtet worden und werden noch täglich vernichtet. Sie werden verdrängt durch neue Industrieen, deren Einführung eine Lebensfrage für alle civilisirte Nationen wird, durch Industrieen, die nicht mehr einheimische Rohstoffe, sondern den entlegensten Zonen angehörige Rohstoffe verarbeiten, und deren Fabrikate nicht nur im Lande selbst, sondern in allen Welttheilen zugleich verbraucht werden. An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen von einander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.

Marx, Karl; Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei. London, 1848, S. 5f


Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen, 1848

3. Die "Weltliteratur." Die Aufstopplung aller poetischen Schätze aller Nationen aus allen Zeiten muß die eigene Productivität erdrücken. Ein Uebersetzervolk kann nicht mehr ein Dichtervolk sein, die nach allen Seiten billige, anerkennende, aneignende Universalität ist ebenso ein Zei- chen der erlöschenden, eigenen Zeugungskraft, als der Kosmopolitismus ein Zeichen schwachen Nationalgefühls. Starke Nationen sind ungerecht. Die Phantasie des Mittelalters war wohl auch die Frucht einer Mischung der verschiedensten Völker-Elemente, aber diese Mischung war naiv; es war nicht eine Anerkennung und absichtliche Aneignung des Fremden als Fremden, man glaubte die fremden Sagen als eigene, setzte ihre Helden auf den eigenen Boden, trug in ihre Schicksale ohne Weiteres die eigene Anschauung hinein, es war ein allgemeines Amalgam.


Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 2,2. Reutlingen u. a., 1848, S. 520


Schauberg, Joseph: Vergleichendes Handbuch der Symbolik der Freimaurerei, 1861

Die Idee der Einheit des menschlichen Geschlechtes wird um so vollkommener dargestellt und verwirklicht, je mehr und inniger der einzelne Mensch mit seinen Gefühlen, Gedanken und Thaten in und mit der Menschheit lebt und leben kann. Was den geistigen Verkehr der Menschen hemmt, ist mit der Idee der Menschheit unvereinbar und frei muss besonders das Wort und die Schrift in dem einzelnen Staate wie zwischen allen Staaten sein. Diese Freiheit des Wortes und der Schrift hat eine Weltliteratur geschaffen, hat die Kunst und die Wissenschaft unter die Pflege und Obhut des ganzen Menschengeschlechtes gestellt und die Bildung zu einem Gemeingute der Menschheit gemacht. Ein grosser Gedanke, im entferntesten Winkel der Erde gedacht, eilt in wenigen Wochen von Volk zu Volk, von Welttheil zu Welttheil, und wird zum Gedanken des menschlichen Geschlechtes. Raum und Zeit haben fast aufgehört zu sein; wir leben in und mit allen Völkern der Gegenwart und der Vergangenheit und hierin liegt unsere höchste Menschlichkeit, unsere wahre Gottähnlichkeit. In dem Sohne ist Gott nicht allein zu den Menschen herabgestiegen, die Menschen haben mit dem Sohne sich auch zum Himmel erhoben.


Schauberg, Joseph: Vergleichendes Handbuch der Symbolik der Freimaurerei, Bd. 1. Schaffhausen, 1861, S. 666f


Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik, 1873

Die Nationalität Deutschlands gegenüber anderen Staaten ist durch seine vielhäuptige Zertrümmerung schon nahe daran gewesen, ganz aufgerieben zu werden; die Verwirrung unzähliger Mundarten hat Einer Mundart den Weg zur Allherrschaft gebahnt bei uns wie bei den Griechen und den Italiänern und anderswo; bald auch wird vor dem mannigfaltigen litterarischen Reichthum, den alle Völker anhäufen, nirgend mehr eine Nationallitteratur bestehn, sondern eine Weltlitteratur an deren Stelle treten. Das ist dann freilich auch eine Einheit: ob aber dieselbe, von der die Menschheit ausgegangen?

Wackernagel, Wilhelm: Poetik, Rhetorik und Stilistik: Academische Vorlesungen. Hrsg. v. L. Sieber. Halle, 1873, S. 68


Beyer, Conrad: Deutsche Poetik, 1882

Der universelle, sprach- und reimgewandte Heros poetischer Form, Fr. Rückert, welcher in mir die Erwägung anregte, ob denn nicht die litterarischen Reichtümer aller Völker bald an Stelle der Nationallitteraturen die von ihm angebahnte Weltlitteratur schaffen würden, schien mir am meisten geeignet, die Abstraktion der Gesetze einer Poetik zu ermöglichen und durch seine mehr als 200,000 Verse umfassenden Dichtungen in das Geheimnis der deutschen Verskunst einzuführen. Da ich mir jedoch vornahm, keinen Lehrsatz ohne Beispiel zu lassen, so hätte ich mir durch starres Beschränken auf Rückertsche Beispiele den Vorwurf der Einseitigkeit zuziehen müssen, indem bei Rückert doch so Manches fehlt, was als ein Vorzug anderer bedeutender Dichter und Zeitgenossen angesehen werden muß.

Beyer, Conrad: Deutsche Poetik. Handbuch der deutschen Dichtkunst nach den Anforderungen der Gegenwart. Erster Band. Stuttgart, 1882, S. 10f

Joh. Gottfried von Herder (1744-1803). Er öffnete die Schätze des Auslandes und regte die Weltlitteratur an; sein Vorzüglichstes ist: Stimmen der Völker in Liedern; Cid; Parabeln und Paramythien.

Ebd. S. 56


Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft, 1969

Eine systematische Einführung in die Probleme der Weltliteraturwissenschaft will Albert Guerards Buch1 geben, das im Prinzipiellen ähnlich umfassend ist wie Friederichs Bibliographie. Es betont die Einheit der Literatur auf Grund der Einheit des Menschlichen: "Literature should be taught as Literature in English, not as English Literature". Weltliteratur erscheint als die Einheit des wahrhaft Lebendigen, nicht als die bloße Gesamtheit ("universal literature") aller Literaturen und Werke. Jene einheitliche Weltliteratur aber gliedert er nach ihren verschiedenen "tendencies" (d. h. nach den Typen Klassik und Romantik, Realismus und Symbolismus), nach den Gattungen und schließlich nach den Perioden. Damit interessieren ihn weniger die Probleme der zwischenliterarischen Beziehungen ("comparative literature") als die Prinzipien von Poetik und Historik, die er "general literature" nennt; vor allem die Poetik wird hier zum Hauptgebiet der Weltliteraturwissenschaft. Dem gegenüber scheint uns die prinzipielle Trennung von Poetik und Weltliteraturwissenschaft, wie wir sie im Vorstehenden durchgeführt haben, richtiger und klarer zu sein; Weltliteratur ist für uns eine dynamische, geschichtliche Größe, im Gegensatz zu dem Phänomen der Dichtung an sich, wie es die Poetik studiert. Sie erscheint damit hier als Gegenstand der Literarhistorie; ihre zwei wichtigsten Konzeptionen sollen im Folgenden umrissen werden.


b) Weltliteratur und vergleichende Literaturwissenschaft

Was kann "europäische Literatur", "Weltliteratur" bedeuten? Zwei gegensätzliche, aber gleich oberflächliche Möglichkeiten der Auffassung bestehen zunächst darin, sie entweder als Summe aller nationalen Einzelliteraturen zu nehmen oder in ihr die engste Auswahl der ganz großen, der zeitlosen weltliterarischen Klassiker zu sehen. Jene additive Methode beherrscht die der reinen Stoffvermittlung dienenden Handbücher, besonders wo es darum geht, eine Mehrzahl von Darstellungen von verschiedenen Bearbeitern durch "Buchbindersynthese" zu einer Geschichte der Weltliteratur zu vereinigen. Eppelsheimers1 bewährtes Handbuch befriedigt insofern höhere Ansprüche, als es bei aller Beschränkung auf Sammlung und Ordnung des Materials und auf einen praktischen Zweck klug und umsichtig wählt und in ausgezeichneten Stichworten charakterisiert, und als es die abendländischen Literaturen nach den gemeinsamen Epochen ordnet, also die Einheit des literarischen Europa in der Abfolge seiner Stile darzustellen versucht. Shipleys Enzyklopädie2 ist dagegen eine bloße Sammlung alphabetisch geordneter Abhandlungen über die verschiedenen Literaturen und von kleinen biographischen Artikeln.


Es gibt aber auch die Konzeption der Weltliteratur als des Pantheons der "großen" Werke und Dichter, die über ihre Zeit und ihren Raum hinausragen und sich in der menschlichen Allgemeingültigkeit über alle Entfernungen die Hand reichen, ja sich erst gegenseitig erläutern. "Nur wer Hafis liebt und kennt, weiß was Calderon gesungen." So sind auch moderne Darstellungen nicht selten, in denen über alle geschichtlichen Bedingungen hinweg Stifter aus Eckhart, Horaz aus Mallarme und Aristophanes aus Heinrich Heine erläutert werden. In großem Stil, in bewußt dichterischer Vogelschau faßt auch der ungarische Schriftsteller Michael Babits die "Weltliteratur als die Literatur des Menschen als solchen", in "aristokratischem Begriff", und sucht in ihr "die gemeinsame Währung des Geistes", immer bestrebt, durch die überraschendsten Querverbindungen diese Geschichtslosigkeit zu erzielen (auch wenn die Gesamtdisposition auf die zeitliche Ordnung nicht verzichten kann). Es ist nicht schwer und wurde schon oben in bezug auf Croce und Mahrholz versucht, die Fragwürdigkeit dieses Begriffs der "Überzeitlichkeit" der Dichtung zu zeigen. Es ist offensichtlich unzulässig, den geschichtlichen Wandel in der Bewertung gerade großer Geister zu übersehen und Geschichte nur als Oberflächenerscheinung zu fassen. Bleibt jene summierende Methode in ihrer Stofflichkeit diesseits der Geschichte, so wird sie hier übersprungen. Praktisch werden allerdings die Versuche, in einheitlicher Darstellung eine Synthese der europäischen oder universalen Literaturgeschichte zu geben, schlechte und rechte Kompromisse von persönlicher Höhenschau und kompilatorischer Chronik sein müssen. Bedenkt man die schon in der Disposition von Baldenspergers Bibliographie angedeutete Vieldimensionalität des weltliterarischen Problems und die jedes Bewußtsein übersteigende Breite und Tiefe des Gegenstandes, so wird man jeder "Weltliteraturgeschichte" skeptisch gegenübertreten. Wenn solche Werke heute in größerer Zahl erscheinen, so wird man sie als zwar notwendige, aber auch notwendig beschränkte und methodisch wenig ergiebige Versuche gelten lassen müssen. Wir beschränken uns darauf, unten einige Beispiele anzuführen3.

1 Hanns W. Eppelsheimer, Handbuch der Weltliteratur. 2. Auflage. Frankfurt a. M. 1947 und 1950. 2 Encyclopedia of Literature. Edited by Joseph T. Shipley. 2 vols. New York 1946.

3 Michael Babits, Geschichte der europäischen Literatur. Aus dem Ungarischen. Zürich-Wien 1949. - Robert Lavalette, Literaturgeschichte der Welt. Zürich 1948. - Laurie Magnus, A History of European Literature. London 1945. - Paul van Tieghem, Histoire litteraire de l'Europe et de l'Amerique de la Renaissance a nos jours. 2e edition Paris 1946. - Nicolas Segur, Histoire de la litterature europeenne. 5 vols. Neuchatel-Paris 1948 ff.


Wehrli, Max: Allgemeine Literaturwissenschaft. Zweite, durchgesehen Auflage. Bern u. a., 1969, S. 152-154