Orientalischer Poesie Urelemente (Goethe)

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Orientalischer Poesie Ur-Elemente

In der Arabischen Sprache wird man wenig Stamm-und Wurzelworte finden, die, wo nicht unmittelbar, doch mittelst geringer An- und Umbildung sich nicht auf Kamel, Pferd und Schaaf bezögen. [1] Diesen allerersten Natur- und Lebensausdruck dürfen wir nicht einmal tropisch nennen. Alles, was der Mensch natürlich frey ausspricht sind Lebensbezüge; nun ist der Araber mit Kamel und Pferd so innig verwandt als Leib mit Seele, ihm kann nichts begegnen, was nicht auch diese Geschöpfe zugleich ergriffe und ihr Wesen und Wirken mit dem seinigen lebendig verbände. Denkt man zu den obengenannten noch andere Haus- und wilde Thiere hinzu, die dem frey umherziehenden Beduinen oft genug vors Auge kommen, so wird man auch diese in allen Lebensbeziehungen antreffen. Schreitet man nun so fort und beachtet alles übrige Sichtbare: Berg und Wüste, Felsen und Ebene, Bäume, Kräuter, Blumen, Fluß und Meer und das vielgestirnte Firmament, so findet man daß dem Orientalen bey allem alles einfällt, so daß er, übers Kreuz das Fernste zu verknüpfen gewohnt, durch die geringste Buchstaben- und Silbenbiegung Widersprechendes aus einander herzuleiten kein Bedenken trägt. Hier sieht man daß die Sprache schon an und für sich productiv ist und zwar, in so fern sie dem Gedanken entgegenkommt, rednerisch, in so fern sie der Einbildungskraft zusagt, poetisch.

Wer nun also, von den ersten notwendigen Ur-Tropen ausgehend, die freyeren und kühneren bezeichnete, bis er endlich zu den gewagtesten, willkührlichsten, ja zuletzt ungeschickten, conventionellen und abgeschmackten, gelangte, der hätte sich von den Hauptmomenten der orientalischen Dichtkunst eine freye Uebersicht verschafft. [2] Er würde aber dabey sich leicht überzeugen, daß von dem was wir Geschmack nennen, von der Sonderung nämlich des Schicklichen vom Unschicklichen, in jener Literatur gar nicht die Rede seyn könne. Ihre Tugenden lassen sich nicht von ihren Fehlern trennen, beyde beziehen sich auf einander, entspringen aus einander und man muß sie gelten lassen ohne Mäckeln und Markten. Nichts ist unerträglicher, als wenn Reiske und Michaelis jene Dichter bald in den Himmel heben, bald wieder wie einfältige Schulknaben behandeln.

Dabey läßt sich jedoch auffallend bemerken, daß die ältesten Dichter, die zunächst am Naturquell der Eindrücke lebten und ihre Sprache dichtend bildeten, sehr große Vorzüge haben müssen; diejenigen, die in eine schon durchgearbeitete Zeit, in verwickelte Verhältnisse kommen, zeigen zwar immer dasselbe Bestreben, verlieren aber allmählig die Spur des Rechten und Lobenswürdigen. Denn wenn sie nach entfernten und immer entfernteren Tropen haschen, so wird es baarer Unsinn; höchstens bleibt zuletzt nichts weiter als der allgemeinste Begriff, unter welchem die Gegenstände allenfalls möchten zusammen zu fassen seyn, der Begriff der alles Anschauen, und somit die Poesie selbst aufhebt.


[Nächster Abschnitt: Von Tropen zu Gleichnissen (Goethe)]


Quelle

  • Johann Wolfgang von Goethe: Besserem Verständniss [später: Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-Östlichen Divans. In: Goethe: West-Östlicher Divan. Neue, völlig revidierte Ausgabe. Hrsg. Hendrik Birus. 2 Teilbände. Berlin: dtv Klassiker Verlag 2010. Teilband 1: Texte und Kommentar 1, S. 196-198.


Anmerkungen

[1] Eine unhaltbare Theorie, für die bislang keine Quelle gefunden wurde.
[2] Goethe skizziert hier die kühne Idee einer Literaturgeschichte als Metapherngeschichte. (Originalanmerkung 
    aus dem Kommentar in Goethe, West-Östlicher Divan, a.a.O., 2. Teilband, S. 1508