Von Tropen zu Gleichnissen (Goethe)

Aus Lyrikwiki


[Vorhergehender Abschnitt: Orientalischer_Poesie_Urelemente_(Goethe)]

Übergang von Tropen zu Gleichnissen

Weil nun alles Vorgesagte auch von den nahe verwandten Gleichnissen gilt, so wäre durch einige Beyspiele unsere Behauptung zu bestätigen. Man sieht den im freyen Felde aufwachenden Jäger, der die aufgehende Sonne einem Falken vergleicht:

That und Leben mir die Brust durchdringen,
Wieder auf den Füßen steh' ich fest:
Denn der goldne Falke, breiter Schwingen,
Ueberschwebet sein azurnes Nest. [1]

Oder noch prächtiger einem Löwen:

Morgendämmrung wandte sich in's Helle,
Herz und Geist auf einmal wurden froh,
Als die Nacht, die schüchterne Gazelle,
Vor dem Dräun des Morgenlöwens floh. [2]

Wie muß nicht Marco Polo, der alles dieses und mehr geschaut, solche Gleichnisse bewundert haben!

Unaufhörlich finden wir den Dichter wie er mit Locken spielt.

Es stecken mehr als funfzig Angeln
In jeder Locke deiner Haare; [3]

ist höchst lieblich an ein schönes lockenreiches Haupt gerichtet, die Einbildungskraft hat nichts dawider sich die Haarspitzen hakenartig zu denken. Wenn aber der Dichter sagt, daß er an Haaren aufgehängt sey, so will es uns nicht recht gefallen. Wenn es nun aber gar vom Sultan heißt:

In deiner Locken Banden liegt
Des Feindes Hals verstrickt;

so giebt es der Einbildungskraft entweder ein widerlich Bild oder gar keins.

Daß wir von Wimpern gemordet werden, möchte wohl angehn, aber an Wimpern gespießt seyn[4], kann uns nicht behagen; wenn ferner Wimpern, gar mit Besen verglichen, die Sterne vom Himmel herabkehren, so wird es uns doch zu bunt. Die Stirn der Schönen als Glättstein der Herzen[5]; das Herz des Liebenden als Geschiebe von Thränenbächen fortgerollt und abgerundet: dergleichen mehr witzige als gefühlvolle Wagnisse nöthigen uns ein freundliches Lächeln ab.

Höchst geistreich aber kann genannt werden, wenn der Dichter die Feinde des Schahs wie Zeltenbehör behandelt wissen will.

Seyen sie stets wie Späne gespalten, wie Lappen zerrissen!
Wie die Nägel geklopft! und wie die Pfähle gesteckt! [6]

Hier sieht man den Dichter im Hauptquartier; das immer wiederholte Ab- und Aufschlagen des Lagers schwebt ihm vor der Seele.

Aus diesen wenigen Beyspielen, die man ins Unendliche vermehren könnte, erhellet, daß keine Gränze zwischen dem was in unserm Sinne lobenswürdig und tadelhaft heißen möchte gezogen werden könne, weil ihre Tugenden ganz eigentlich die Blüthen ihrer Fehler sind. Wollen wir an diesen Productionen der herrlichsten Geister Theil nehmen, so müssen wir uns orientalisiren, der Orient wird nicht zu uns herüber kommen. Und obgleich Uebersetzungen höchst löblich sind, um uns anzulocken, einzuleiten, so ist doch aus allem Vorigen ersichtlich, daß in dieser Literatur die Sprache als Sprache die erste Rolle spielt. Wer möchte sich nicht mit diesen Schätzen an der Quelle bekannt machen!

Bedenken wir nun daß poetische Technik den größten Einfluß auf jede Dichtungsweise nothwendig ausübe; so finden wir auch hier daß die zweizeilig gereimten Verse der Orientalen [7] einen Parallelismus fordern, welcher aber, statt den Geist zu sammeln, selben zerstreut, indem der Reim auf ganz fremdartige Gegenstände hinweist. Dadurch erhalten ihre Gedichte einen Anstrich von Quodlibet [8], oder vorgeschriebenen Endreimen [9], in welcher Art etwas Vorzügliches zu leisten freilich die ersten Talente gefordert werden. Wie nun hierüber die Nation streng geurtheilt hat, sieht man daran, daß sie in fünf hundert Jahren nur sieben Dichter als ihre Obersten anerkennt.


Quelle

  • Johann Wolfgang von Goethe: Besserem Verständniss [später: Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-Östlichen Divans. In: Goethe: West-Östlicher Divan. Neue, völlig revidierte Ausgabe. Hrsg. Hendrik Birus. 2 Teilbände. Berlin: dtv Klassiker Verlag 2010. Teilband 1: Texte und Kommentar 1, S. 198-200.


Anmerkungen

  • Der Terminus "Gleichnis" umfaßt hier gemäß dem Sprachgebrauch des 18. Jhs. (...) auch verwandte Ähnlichkeits-Figuren wie "Vergleich" und "fortgesetzte Metapher". A.a.O., Teilband 2, S. 1510.

("fortgesetzte Metapher", metaphora continuata, nach Quintilian eine Spielart der "Allegorie")

[1] Von Goethe selbst unter Verwendung orientalischer Motive gedichtet. A.a.O. S. 1511.
[2] Von Goethe unter Verwendung eines osmanischen Gedichts von Ali Čelebi (gest. 1543/44) gedichtet
[3] Wörtlich aus Hafis, Dal 135 in Hammer-Purgstalls Übersetzung, Reprint der Originalausgabe von 1812, 
   Hafiz: Der Divan. Kelkheim: YinYang Media Verl. 1999, 2002, Bd. 1, S. 407.
[4] So Hafis in Lam 3, Hafis, a.a.O. Bd. 2, S. 135.
[5] So in Goethes eigenem Gedicht "An Hafis", West-Östlicher Divan, a.a.O. Teilbd. 1, S. 217, V. 5-10.
[6] Aus einem Gedicht des persischen Dichters Anvari (1126-1189), übersetzt von Hammer-Purgstall.
[7] Die dominierende Reinform der arabischen und persischen Lyrik, wie sie vor 200 Jahren in der Form 
  des Ghasels eingedeutscht wurde, die in Distichen so fortschreitet: aa ba ca da...
[8] Von Lat. "Was beliebt", Sammelsurium, "poetisches Allerlei"
[9] frz. bouts rimés, noch in der Goethezeit beliebtes Gesellschaftsspiel, bei dem jeder in der Runde 
  nach von seinem Nachbarn vorgeschriebenen Endreimen ein Gedicht verfassen muß.