Unverständlichkeit (Enzensberger): Unterschied zwischen den Versionen
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Aktuelle Version vom 8. Dezember 2018, 12:14 Uhr
Antiware, die sich der Manipulation „pur“ widersetzt, sind noch die engagiertesten „Fertigfabrikate“ Majakowskis. Ebenso ist der freischwebendste Text von Arp oder Eluard bereits dadurch poesie engagée, daß er überhaupt Poesie ist: Widerspruch, nicht Zustimmung zum Bestehenden.
Unverständlichkeit
Diesem Widerspruch antwortet von eh und je der Vorwurf, das moderne Gedicht sei „unverständlich“. An ihm ist bemerkenswert, daß er nicht spezifisch, im Hinblick auf den einen oder anderen Text, sondern stets pauschal erhoben wird. Das legt den Verdacht nahe, daß er nicht in wirklichen Leseerfahrungen, sondern im Ressentiment gründet. Wäre es anders, so müßte es sich herumgesprochen haben, daß Verständlichkeit oder Unverständlichkeit etwas ganz anderes bedeuten, je nachdem, ob von einem Gedicht von Brecht, von Apollinaire oder von Pound die Rede ist. Jeder dieser Autoren stellt seine Leser vor andere Schwierigkeiten. Der Vorwurf, sie seien allesamt unverständlich, meint etwas ganz anderes. Er spricht aus und kaschiert zugleich die Tatsache, daß Poesie, wie Kultur überhaupt, in der bisherigen Geschichte immer nur Sache der wenigen, der happy few, gewesen ist. Darin drückt sich aus, worauf unsere Gesellschaft beruht. Der Vorwurf, sie seien unverständlich, macht die Poeten zu Sündenböcken für die Entfremdung, so als läge es nur an ihnen, sie über Nacht zu beheben. Zwar verfügen wir heute über die technischen Mittel, Kultur allgemein zugänglich zu machen. Die Industrie, die sie handhabt, reproduziert jedoch die gesellschaftlichen Widersprüche, die das verhindern; ja sie verschärft sie, indem sie der materiellen Ausbeutung die geistige verbindet. Sauber zentrifugiert sie die produktiven Kräfte, dergestalt daß sich die Poesie vor die Wahl gestellt sieht, entweder auf sich selbst oder auf ihr Publikum zu verzichten. Das Ergebnis ist auf der einen Seite eine immer höher gezüchtete Poetik für ein nach Null konvergierendes Publikum, auf der anderen Seite, präzise davon abgetrennt, die ständig primitiver werdende Massenversorgung mit Poesie-Ersatz, sei es in den kommerziellen Formen des Bestsellers, des Digest, des Films und des Fernsehens, sei es mit den staatlich geförderten Surrogaten der politischen Propaganda.
Selbstverständlichkeit
So banal er sich anhört, so nützlich und unterhaltsam ist es, über den Vorwurf der Unverständlichkeit, der gegen die moderne Poesie erhoben wird, noch eine Weile nachzudenken. Er enthält ein wahres Moment insofern, als er an die Dunkelheit aller Gedichte erinnert. Auch Pindar und Goethe sind dunkel, nur ist diese „Unverständlichkeit“ vergessen, verdrängt, unschädlich gemacht worden. Die Klassiker sind au fond nicht weniger unerträglich als die Autoren der Moderne. Widerspruch ist auch ihre Poesie. Aber diese Unerträglichkeit darf nicht zugegeben werden. Sie zu tarnen, zu entschärfen, dem Bestehenden kommensurabel zu machen, ist eine Aufgabe, für die sich die Gesellschaft eigene Institutionen geschaffen hat. Deren Mühlen freilich mahlen langsam. Die moderne Poesie ist noch nicht durch sie gegangen; daher die Feindseligkeit, mit der ihr immer noch begegnet wird. Was sie unverständlich schimpft, ist letzten Endes das Selbstverständliche, von dem alle große Werke sprechen und das vergessen sein, vergessen bleiben soll, weil es von der Gesellschaft nicht geduldet, nicht eingelöst wird.
Aus: Hans Magnus Enzensberger, Vorwort [in späteren Ausgaben Nachwort] der Anthologie "Museum der modernen Poesie", Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1960. (Ausschnitt in der Ausgabe von 1980 und öfter (Suhrkamp Taschenbuch) in Band 2, S. 777f)
Hier Register und Materialien.