Naturformen der Poesie

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Naturformen der Poesie.

Es giebt nur drey ächte Naturformen der Poesie: die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama. Diese drey Dichtweisen können zusammen oder abgesondert wirken. In dem kleinsten Gedicht findet man sie oft beysammen, und sie bringen eben durch diese Vereinigung im engsten Raume das herrlichste Gebild hervor, wie wir an den schätzenswerthesten Balladen aller Völker deutlich gewahr werden. Im älteren griechischen Trauerspiel sehen wir sie gleichfalls alle drey verbunden und erst in einer gewissen Zeitfolge sondern sie sich. So lange der Chor die Hauptperson spielt zeigt sich Lyrik oben an, wie der Chor mehr Zuschauer wird treten die andern hervor, und zuletzt wo die Handlung sich persönlich und häuslich zusammenzieht, findet man den Chor unbequem und lästig. Im französischen Trauerspiel ist die Exposition episch, die Mitte dramatisch und den fünften Act, der leidenschaftlich und enthusiastisch ausläuft, kann man lyrisch nennen.

Das Homerische Heldengedicht ist rein episch; der Rhapsode waltet immer vor, was sich ereignet erzählt er; niemand darf den Mund aufthun, dem er nicht vorher das Wort verliehen, dessen Rede und Antwort er nicht angekündigt. Abgebrochene Wechselreden, die schönste Zierde des Drama's, sind nicht zulässig.

Höre man aber nun den modernen Improvisator auf öffentlichem Markte, der einen geschichtlichen Gegenstand behandelt; er wird, um deutlich zu seyn, erst erzählen, dann, um Interesse zu erregen, als handelnde Person sprechen, zuletzt enthusiastisch auflodern und die Gemüther hinreissen. So wunderlich sind diese Elemente zu verschlingen, die Dichtarten bis ins Unendliche mannigfaltig; und desshalb auch so schwer eine Ordnung zu finden, wornach man sie neben oder nach einander aufstellen könnte. Man wird sich aber einigermassen dadurch helfen dass man die drey Hauptelemente in einem Kreis gegen einander überstellt und sich Musterstücke sucht, wo jedes Element einzeln obwaltet. Alsdann sammle man Beyspiele die sich nach der einen oder nach der andern Seite hinneigen, bis endlich die Vereinigung von allen dreyen erscheint und somit der ganze Kreis in sich geschlossen ist.

Auf diesem Wege gelangt man zu schönen Ansichten, sowohl der Dichtarten, als des Charakters der Nationen und ihres Geschmacks in einer Zeitfolge. Und obgleich diese Verfahrungsart mehr zu eigner Belehrung, Unterhaltung und Massregel, als zum Unterricht anderer geeignet seyn mag, so wäre doch vielleicht ein Schema aufzustellen, welches zugleich die äusseren zufälligen Formen und diese inneren nothwendigen Uranfänge in fasslicher Ordnung darbrächte. Der Versuch jedoch wird immer so schwierig seyn als in der Naturkunde das Bestreben den Bezug auszufinden der äusseren Kennzeichen von Mineralien und Pflanzen zu ihren inneren Bestandtheilen, um eine naturgemässe Ordnung dem Geiste darzustellen.



Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819. S. 381-383