Nadowessische Totenklage
Gedicht von Friedrich Schiller, das zuerst im "Musenalmanach für das Jahr 1798" veröffentlicht wurde (mit der Fußnote: Nadowessier, ein Völkerstamm in Nordamerika). Für eine spätere Ausgabe erwog er den Titel "Nadowessiers Totenlied". Im Juni 1797 hatte er "Jonathan Carver's Voyage through the Interior Parts of North America during the Years 1766-1769" (oder die deutsche Übersetzung, die 1780 unter dem Titel "Johann Carvers Reisen durch die inneren Gegenden von Nordamerika" erschien) gelesen. Dem Kapitel "Of the Manner in which they treat their Dead" entnahm er seinen Stoff. Das Gedicht entstand am 3. Juli und wurde am nächsten Tag an Goethe geschickt. Am 5. Juli schrieb Goethe zurück: "Das Totenlied, das hier zurückkommt, hat seinen echten realistisch humoristischen Charakter, der wilden Naturen, in solchen Fällen, so wohl ansteht. Es ist ein großes Verdienst der Poesie, uns auch in diese Stimmungen zu versetzen, so wie es verdienstlich ist, den Kreis der poetischen Gegenstände immer zu erweitern."
Schiller schrieb ihm am 7., er habe "nicht übel Lust", 4 oder 5 "kleine nadowessische Lieder" zu schreiben, aber sein Freund Körner und vor allem Wilhelm von Humboldt waren nicht angetan. Schiller an Goethe am 23. Juli: "An dem nadowessischen Lied findet Humboldt ein Grauen, und was er dagegen vorbringt, ist bloß von der Roheit des Stoffs hergenommen. Es ist doch sonderbar, daß man in poetischen Dingen und bei einer großen Annäherung auf einer Seite doch wieder in so direkten Oppositionen sein kann."
Lange nach Schillers Tod wird das Gedicht Thema in einem Gespräch mit Eckermann vom 23. März 1829:
»Ich habe diesen Morgen«, sagte ich [Eckermann], »seine ›Nadowessische Totenklage‹ gelesen und mich gefreut, wie das Gedicht so vortrefflich ist.«
»Sie sehen,« antwortete Goethe, »wie Schiller ein großer Künstler war und wie er auch das Objektive zu fassen wußte, wenn es ihm als Überlieferung vor Augen kam. Gewiß, die ›Nadowessische Totenklage‹ gehört zu seinen allerbesten Gedichten, und ich wollte nur, daß er ein Dutzend in dieser Art gemacht hätte. Aber können Sie denken, daß seine nächsten Freunde ihn dieses Gedichtes wegen tadelten, indem sie meinten, es trage nicht genug von seiner Idealität? – Ja, mein Guter, man hat von seinen Freunden zu leiden gehabt! – Tadelte doch Humboldt auch an meiner Dorothea, daß sie bei dem Überfall der Krieger zu den Waffen gegriffen und dreingeschlagen habe! Und doch, ohne jenen Zug ist ja der Charakter des außerordentlichen Mädchens, wie sie zu dieser Zeit und zu diesen Zuständen recht war, sogleich vernichtet, und sie sinkt in die Reihe des Gewöhnlichen herab. Aber Sie werden bei weiterem Leben immer mehr finden, wie wenige Menschen fähig sind, sich auf den Fuß dessen zu setzen, was sein muß, und daß vielmehr alle nur immer das loben und das hervorgebracht wissen wollen, was ihnen selber gemäß ist. Und das waren die Ersten und Besten, und Sie mögen nun denken, wie es um die Meinungen der Masse aussah, und wie man eigentlich immer allein stand.
Nadowessische Totenklage Seht! da sitzt er auf der Matte, Aufrecht sitzt er da, Mit dem Anstand, den er hatte, Als er’s Licht noch sah. Doch wo ist die Kraft der Fäuste, Wo des Atems Hauch, Der noch jüngst zum großen Geiste Blies der Pfeife Rauch? Wo die Augen, falkenhelle, Die des Rentiers Spur Zählten auf des Grases Welle, Auf dem Tau der Flur? Diese Schenkel, die behender Flohen durch den Schnee Als der Hirsch, der Zwanzigender, Als des Berges Reh? Diese Arme, die den Bogen Spannten streng und straff! Seht, das Leben ist entflogen, Seht, sie hängen schlaff! Wohl ihm! er ist hingegangen, Wo kein Schnee mehr ist, Wo mit Mais die Felder prangen, Der von selber sprießt. Wo mit Vögeln alle Sträuche, Wo der Wald mit Wild, Wo mit Fischen alle Teiche Lustig sind gefüllt. Mit den Geistern speist er droben, Ließ uns hier allein, Daß wir seine Taten loben Und ihn scharren ein. Bringet her die letzten Gaben, Stimmt die Totenklag! Alles sei mit ihm begraben, Was ihn freuen mag. Legt ihm unters Haupt die Beile, Die er tapfer schwang, Auch des Bären fette Keule, Denn der Weg ist lang. Auch das Messer scharf geschliffen, Das vom Feindeskopf Rasch mit drei geschickten Griffen Schälte Haut und Schopf. Farben auch, den Leib zu malen, Steckt ihm in die Hand, Daß er rötlich möge strahlen In der Seelen Land.