Großstadt (Goethe)

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Goethe an Schiller

Frankfurt am Main, den 9. August 1797

Ohne den mindesten Anstoß bin ich vergnügt und gesund nach Frankfurt gelangt und überlege in einer ruhigen und heitern Wohnung nun erst, was es heiße in meinen Jahren in die Welt zu gehen. In früherer Zeit imponiren und verwirren uns die Gegenstände mehr, weil wir sie nicht beurtheilen noch zusammenfassen können, aber wir werden doch mit ihnen leichter fertig, weil wir nur aufnehmen was in unserm Wege liegt und rechts und links wenig achten. Später kennen wir die Dinge mehr, es interessirt uns deren eine größere Anzahl und wir würden uns gar übel befinden, wenn uns nicht Gemüthsruhe und Methode in diesen Fällen zu Hülfe kämen. Ich will nun alles was mir in diesen acht Tagen vorgekommen ist so gut als möglich zurechtstellen, an Frankfurt selbst als einer vielumfassenden Stadt meine Schemata probiren und mich dann zu meiner weitern Reise vorbereiten.

Sehr merkwürdig ist mir aufgefallen wie es eigentlich mit dem Publico einer großen Stadt beschaffen ist. Es lebt in einem beständigen Taumel von Erwerben und Verzehren, und das was wir Stimmung nennen, läßt sich weder hervorbringen noch mittheilen. Alle Vergnügen, selbst das Theater, sollen nur zerstreuen, und die große Neigung des lesenden Publicums zu Journalen und Romanen entsteht eben daher, weil jene immer und diese meist Zerstreuung in die Zerstreuung bringen.

Ich glaube sogar eine Art von Scheu gegen poetische Productionen, oder wenigstens in so fern sie poetisch sind, bemerkt zu haben, die mir aus eben diesen Ursachen ganz natürlich vorkommt. Die Poesie verlangt, ja sie gebietet Sammlung, sie isolirt den Menschen wider seinen Willen, sie drängt sich wiederholt auf und ist in der breiten Welt (um nicht zu sagen in der großen) so unbequem wie eine treue Liebhaberin.

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