Japanische Literatur
Meyers 1907
[Literatur.] Am Beginn der japanischen Literatur stehen die beiden in chinesischen Ideogrammen ausgezeichneten Geschichtswerke »Kojiki« (»Geschichte des Altertums«, abgeschlossen 712 n. Chr., von der Götter- und Heroenzeit bis 628 n. Chr. reichend; engl. von Chamberlain, Lond. 1882) und »Nihon gi« (»Japanische Annalen«, 720 abgeschlossen, bis 696 reichend; engl. von Aston, Lond. 1896; deutsch von Florenz, Yokohama u. Leipz. 1901 u. 1903; vgl. auch Midfords »Tales of Old Japan«, deutsch von Kohl, Leipz. 1875). Die im »Kojiki« und »Nihongi« eingestreuten, meist volkstümlichen Lieder sind die ältesten Denkmäler der japanischen Sprache und Poesie. Dieselbe Regsamkeit, Gewandtheit und Empfänglichkeit, mit der sich die Japaner heute die Errungenschaften europäischen Wissens und Denkens zu eigen machen, haben sie auch damals bewährt, als sie zuerst chinesische Kultur und dann buddhistisch-indische Religion auf ihren Boden verpflanzten. Und was diesem selbst ureigen ist, seine Geschichte, seine Geographie, sein Natur- und Kulturleben, haben sie früh schon in das Bereich ihrer vielseitigen Schriftstellerei gezogen. Die nationale Bewegung, die auf die Zeit der Übernahme der chinesischen Kultur folgte, fand ihren Ausdruck in der Liedersammlung der »zehntausend Blätter«: »Manyoshu« (veranstaltet von Yakamochi, 759 unvollendet abgebrochen; z. T. verdeutscht von Pfizmaier in den »Denkschriften der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften«, Wien 1872), während Mihuni eine Anthologie der in Japan damals eifrig gepflegten chinesischen Poesie, das »Kwaifuso« (»Sammlung bezeichnender Stücke«, von etwa 650–780 reichend), zusammenstellte. Unter den Dichtern des »Manyoshu« ragen hervor Hitomaro (ca. 662–709), Akahito (Mitte des 8. Jahrh.) und Yakamochi, der Sammler, selbst (gest. 785). Der Wechsel von Zeilen zu je 5 und 7 Silben, der hier gegenüber den freiern Metren der Lieder des »Kojiki« und »Nihongi« zur Regel ausgebildet wird, bestimmt die japanische Metrik der ganzen Folgezeit. In ihrer Blüte zeigt sich die altjapanische Lyrik im »Kokinshu« (»Alte und neue Gedichte«, z. T. verdeutscht von R. Lange: »Altjapanische Frühlingslieder«, Berl. 1884, »Sommergedichte« in der Zeitschrift »F'oung pao«, Leiden 1891, und Gramatzky: »Winterlieder«, das. 1892). Die bedeutendsten der im »Kokinshu« vertretenen Dichter sind [197] Narihira (825–880) und Tsurayuki (882–916), einer der Sammler, als Verfasser des »Tosa-nikki« (»Tagebuch von Tosa«) auch der erste japanische Prosaschriftsteller, der sich der japanischen Silbenschrift bediente. Für den Geist der Poesie scheinen namentlich zwei Haupteigentümlichkeiten des Volksgeistes bestimmend gewesen zu sein: eine fast schwärmerische Empfänglichkeit für Naturschönheiten und der bekannte romantisch-heroische Sinn der Japaner. Während das »Manyoshu« noch seine Entstehung der Liebhaberei und dem Patriotismus eines Privatmannes verdankte, wurde das »Kokinshu« bereits auf Veranlassung des Kaisers zusammengestellt. Bis 1439 folgen noch 20 solche offizielle Anthologien, deren keine jedoch an Ruhm und Bedeutung die beiden ersten erreicht. Es ist dies die Periode des japanischen Minnesanges in ihrem Aufblühen und Verfall. Mehr und mehr wurde das Kurzgedicht zu fünf Zeilen (5+7+5+7+7 Silben), »Tanka« genannt, zur fast ausschließlich angewendeten Form, und das Stoffgebiet beschränkte sich auf gewisse konventionelle Gegenstände. Eine weitere Beschränkung bedeutet das »Haikai« (aus 5+7+5 Silben bestehend und sehr wohl das japanische Epigramm zu nennen), dessen hervorragendster Vertreter Basho (1644–94; vgl. Chamberlain in den »Transactions of the Asiatic Society of Japan«, 1902) gleichzeitig mit den europäischen Epigrammatikern John Owen, Fr. v. Logau u. a. dichtete und wie diese am Ausgange der großen lyrischen Bewegung des Mittelalters steht. – Eine ähnliche parallele Entwickelung zeigt die japanische Epik. Ihre Anfänge sind die romantischen »Monogataris« aus dem 10.–13. Jahrh. Als eines der ersten ist das »Ise-Monogatari«, das die Schicksale des Dichters Narihira behandelt, zu erwähnen, das berühmteste ist das »Genji-Monogatari« der Frau Murasaki-Shikibu (um die Wende des 10. und 11. Jahrh.), diese neben Frau Sei Shonagon, Verfasserin der vielgepriesenen Skizzensammlung »Makura-Soshi«, die bedeutendste Repräsentantin der sehr reichen Frauenliteratur jener Zeit. Das »Genji-Monagatari« (z. T. ins Englische übersetzt von Suyematsu, Lond. 1882) gilt seines reinen Stils und zahlreicher liebenswürdiger Episoden wegen als klassisches Hauptwerk der japanischen Prosa. Ein Nachfolger Sei Shonagons ist Kenko (1283 bis 1350) mit seinem »Tsurezure-Gusa« (»Aphorismen aus meinen Mußestunden«). Als eine Art volkstümliches Epos darf das »Heike-Monogatari« (im 13. Jahrh. entstanden) gelten, das von fahrenden Sängern zur Biwa vorgetragen ward; ein eigentliches Nationalepos fehlt. Die Zahl der Monogataris ist sehr groß, ihr Inhalt bald kriegerisch, bald abenteuerlich, bald märchenhaft; in den Wirren, die der Restauration durch Jyeyasu vorangingen, verfiel wie die Lyrik, so auch die Epik. Erst durch sie nahm die literarische und nun auch die eigentlich wissenschaftliche Betätigung einen neuen Aufschwung. An Stelle der buddhistischen Mystik und Scholastik des Mittelalters tritt, durch die Wiederbelebung der chinesischen Studien vorbereitet, der Neokonfuzianismus, der seinerseits ganz ähnliche Wandlungen durchmacht wie die neue mitteleuropäische Philosophie, die zur selben Zeit begründet wurde.
Der moderne japanische Roman hat seinen Vorläufer in Ibara Saikaku (1642–93), der den gekünstelten, galanten Geist seiner Epoche repräsentiert. Jetzt auch wird die Schriftstellerei zum Gewerbe. Seinen Höhepunkt erreicht der japanische Roman in dem überaus fruchtbaren Kyokutei Bakin (1767–1848), dem japanischen Walter Scott; von seinen zahlreichen, zumeist historischen Romanen gilt der »Hakken-Den« (»Die Geschichte der acht Hunde«) betitelte als der vorzüglichste. Neben ihm sind noch zu nennen Ryutei Tanehiko (1780–1842), Verfasser des Romans »Von den sechs Wandschirmen« (deutsch von Pfizmaier, Wien 1847), und Tamenaga Shunsui (gest. 1842), Verfasser des Roninromans »Treu bis in den Tod« (deutsch von Hensel, nach Edw. Grey, Stuttg. 1895), beide kaum weniger fruchtbar als Bakin. Ihre Nachfolger beherrschen noch heute den japanischen Zeitungsroman. Die rege kritische Tätigkeit, welche die Restauration im Gefolge hatte, fand ihre Hauptvertreter in dem Manyoshu-Gelehrten Kamo Mabuchi (1697–1769) und seinem Schüler Motoori Norinaga (1730–1801), dem Kommentator des »Kokinshu«. Das japanische Drama, das einerseits auf die komischen Zwischenspiele in den religiösen Mysterien des Schintokults, anderseits auf die Anregung durch das chinesische Drama zurückzuführen sein wird, erhielt seine eigentliche Ausgestaltung erst im 17. und 18. Jahrh., der großen Dramenepoche der japanischen Literatur. In dieser Zeit wirkte Chikamatsu Monzaimon (1653–1724), Japans Shakespeare und Moliere zugleich, der größte im heroischen Trauerspiel und Begründer des bürgerlichen Schau- und Lustspiels. Neben ihm traten eine ganze Reihe von Dichtern auf, meist Direktoren ihrer Theater, vor allem in Kioto und Osaka. Die vornehmsten ihrer Schöpfungen werden noch heute gespielt. Das »No« der alten Zeit, mit seiner musikalischen Begleitung und Tanzeinlagen unsern ältern Opern zu vergleichen, wird ebenso noch weiter gepflegt, und auch das deklamatorische »Joruri« und die Marionettenspiele erfreuen sich unverminderter Beliebtheit. Vgl. Florenz, Japanische Dramen (Leipz. 1900); Lequeux, Le thêatre japonais (Par. 1889); Bénazet, Le thêatre an Japon (das. 1901); Mc. Clatchie, Japanese Plays (Lond. 1890) und Osman Edwards in den »Transactions and Proceedings of the Japan Society« (1902). – Die japanische Moderne beginnt um 1880 unter dem Einfluß der nun erst in Japan allmählich bekannt werdenden europäischen Literaturen, zumal der englischen. Zahlreiche Werke werden übersetzt, Tsubouchi Yuzo, Erzähler und Dramendichter, schreibt seine Abhandlung vom Geist der Romanliteratur, und Toyama Masakazu, Yatabe Ryokichi und Tetsujiro Inouye geben ihre »Gedichte im neuen Stil« heraus. Von den später Aufgetretenen müssen der Realist Yamada Taketaro, Erzähler und Lyriker, ferner die Novellisten Ozaki Koyo und Koda Rohan genannt werden. Die japanische Bühne erfuhr eine Umgestaltung nach europäischem Vorbild durch Kawakami, den Begründer des »Soshi Shibai«, der »Jungen Bühne«. Vgl. Florenz in den »Mitteilungen der Deutschen Ostasiatischen Gesellschaft in Tokio« (Yokohama 1892) und O. Hausers Anthologie (s. unten). Charakteristisch für die japanische Belletristik ist die Vorliebe für illustrierte Bücher, deren Abbildungen trotz der naivsten Zeichenfehler meist lebendig und sprechend sind. Das Wortspiel, bei uns nur einer untergeordneten Art des Witzes dienend, versieht wie in der chinesischen, so auch in der japanischen Dichtung eine sehr wichtige Funktion. Daß auch die japanische Literatur ihre schmutzigen Auswüchse hat, darf weder verneint noch verschwiegen werden; anzuerkennen ist nur, daß dort im Volke Schmutz als Schmutz gilt und nicht, wie nur zu oft bei uns, in lüsterner Weise beschönigt wird. Sieht man von dieser Schattenpartie ab, so muß man rühmen, daß in den[198] belletristischen Büchern, soweit sie uns zugänglich geworden sind, ein frischer, gesunder Geist herrscht. Heldenmut, aufopfernde Treue, strenges, empfindliches Ehrgefühl, Mitleid und Milde gegen Schwache und Notleidende, mannhafte Ergebung in das Schicksal, tief wurzelnde Achtung vor Gesetz und Sitte, Verachtung, oft schneidige Satire gegen alles Kleinliche und Gemeine: das sind die Gesinnungen, die sich darin spiegeln. Gewalttaten oft der gräßlichsten Art, der aufbrausenden Natur des stets streitbaren Volkes entsprechend, werden oft genug erzählt; allein immer ist das Erhabene oder das Rührende Genosse des Entsetzlichen. Über die japanische Literatur im allgemeinen orientieren: W. G. Aston, A history of Japanese literature (Lond. 1899; franz. Ausg., Par. 1902); Tomitsu Okasaki, Geschichte der japanischen Nationalliteratur (Leipz. 1899); K. Florenz, Geschichte der japanischen Literatur (das. 1905, Bd. 1); O. Hauser, Die japanische Dichtung (Berl. 1904). An poetischen Anthologien sind vorhanden: Léon Rosny, Si-ka-zen-jô, Anthologie japonaise (Par. 1871); B. H. Chamberlain, The classical poetry of the Japanese (Lond. 1880); K. Florenz, Dichtergrüße aus dem Osten (8. Aufl., Leipz. 1904) und Weißaster und andre Gedichte (4. Aufl., das. 1904); O. Hauser, Die japanische Lyrik von 1880–1900 (das. 1904). Bibliographie: Hoffmann, Catalogus librorum et manuscriptorum japonicorum (Leid. 1845); Pagès, Bibliographie japonaise (Par. 1859); die Bibliographie bis 1862 von R. Gosche in der »Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft«, Bd. 20, Supplement (Leipz. 1868); »Bibliotheca japonica, Verzeichnis einer Sammlung japanischer Bücher in 1408 Bänden« (Wien 1875) und F. v. Wenkstern, A bibliography of the Japanese empire (Lond. u. Leiden 1895).
Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 196-199. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20006837638