Epos

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Epos

Hegels Ästhetik

In der Dichtkunst sieht Hegel im antiken Epos die Darstellung des Absoluten vollkommen ausgeformt, denn im antiken Epos wird prinzipiell die gesamte gesellschaftliche Realität dargestellt. Der Held des Epos kann wie eine griechische Statue immer Ausdruck der absoluten Individualität und des allgemeinen Ideals sein.

Diese Verwandtschaft des Epos zur vollkommenen Darstellung des Absoluten der Skulptur ist möglich, obwohl das Epos exemplarisch auswählt. Das Ideal konkretisiert sich im Geschehen einer Handlung. Diese Handlung ist in aller Regel ein Konflikt mit nationalgeschichtlicher Dimension, z.B. ein Befreiungskrieg. Die Beschreibung dieses Krieges beinhaltet die Gründung eines Staatswesens und wird damit zum Gründungsmythos. Das Epos ist so die Bibel des Volkes. Solche Epen entstehen an einem historischen Ort mittlerer Zeit, in der sich ein Volksgeist schon ausgebildet, aber noch nicht staatlich und gesellschaftlich in Institutionen manifestiert hat.

Für das moderne Europa wird diese 'Mittelzeit' für das 12. bis 16. Jahrhundert festgeschrieben. Sobald die bürgerliche Gesellschaft sich gefestigt hat, kann es kein Epos mehr geben:

"Denn der ganze heutige Weltzustand hat eine Gestalt angenommen, welche in ihrer prosaischen Ordnung sich schnurstracks den Anforderungen entgegenstellt, welche für das echte Epos unerlässlich fanden, während die Umwälzungen, denen die wirklichen Verhältnisse der Staaten und Völker unterworfen gewesen sind, noch zu sehr als wirkliche Erlebnisse in der Erinnerung festhalten um schon die epische Kunstform vertragen zu können."

In den Kunstformen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts – hier ist vornehmlich der Roman gemeint – fehlt die unmittelbare Einheit von Individuellem und Allgemeinem.

Bezüglich der Gattungsunterschiede entnahm Hegel die Kriterien für die Einteilung in Epik, Lyrik und Drama "nur aus dem allgemeinen Begriffe des künstlerischen Darstellens". Die Epik befasse sich damit, wie die bildende Kunst die äußere Realität in die innere Vorstellungswelt zu übertragen, aber darüber hinaus die Handlung aufgrund äußerer Einwirkungen, die die Handlung vorantreiben oder hemmen, zu entfalten, wobei der Dichter nicht in die Schilderung eingreife.

Zur Lyrik im Besonderen äußerte Hegel, dass im Unterschied zum Epos, das "in ein und demselben Werke die Totalität des Volksgeistes in seiner wirklichen Tat und Zuständigkeit auseinanderlegt, der bestimmtere Gehalt des lyrischen Gedichts sich auf irgendeine besondere Seite beschränkt oder doch wenigstens nicht zu der explizierten Vollständigkeit und Entfaltung gelangen kann, welche das Epos, um seine Aufgabe zu erfüllen, haben muss."


  • Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen zur Ästhetik, hg. v. Friedrich Bassenge, Bd. 1, Frankfurt/M. o. J., S. 567f.


(Gk A – Einführung in die Literaturtheorie – Franziska Conrad, Universität Greifswald, 2003)


Meyers 1906

[877] Epos (griech., »das Gesagte«), eine Gattung der Epischen Dichtung (s. d.), die zunächst äußerlich durch die poetische Form und eine gewisse Größe des Umfanges ausgezeichnet ist. Das Charakteristische des eigentlichen E., des Volksepos oder Heldengedichts liegt darin, daß es Vorgänge aus einer volkstümlich-primitiven Kulturwelt darstellt, aus einer Welt, in der alle Volksgenossen durch das Band einer einheitlichen Bildung verknüpft sind, und in der sich noch keine ausgeprägten Individualitäten von dem Gesamtbewußtsein losgelöst haben. Da dies vorwiegend in Urzeiten der Fall ist, in denen noch das mythologische Denken überwiegt, so ist das E. vorzugsweise in der Welt der Götter und Helden, des Wunderbaren und Außerordentlichen heimisch. Für das Pathos des Inhalts, die »Überlebensgröße« der Gestalten, die die Phantasie unmittelbar ansprechenden Begebenheiten, die feierlich gehobene Stimmung des E. ist die poetische Sprache das naturgemäße Gewand. Die Entstehung aus einzelnen Balladen oder Liedern geringern Umfanges, die dann in ein Ganzes zusammengearbeitet wurden, ist bei dem Volksepos die Regel. Im Gegensatz zum Volksepos stellt sich das Kunstepos dar als das Werk eines einzelnen, das die volkstümlich-primitive Denkweise des Heldengedichts nachahmt und auch mythologisch-wunderbare Begebenheiten gestaltet, aber doch jederzeit durch die individuelle Denk- und Empfindungsweise des Dichters bedingt sein wird. Besondere Abarten des Kunstepos sind das Abenteuerepos (wie etwa die mittelalterlichen Darstellungen aus der Artursage oder Wielands »Oberon«), in denen Wunder und Reckentum nicht im Sinne des volkstümlich-primitiven Bewußtseins, sondern im Sinn einer konventionell-ritterlichen Gesellschaft dargestellt werden, und das religiöse E. (wie Miltons »Paradise lost« und Klopstocks »Messias«), in dem sich ähnlich wie in dem Volksepos eine Vorstellungsweise erschließt, die weiten Kreisen gemein ist. Am meisten nähert sich aber das idyllische E., wie es Goethe im »Hermann und Dorothea« angebaut hat, dem Grundcharakter des E., denn hier herrscht, wie in diesem, die Anschauungsweise des »Volkes«, die sich in der engen Sphäre der Landbevölkerung und[877] der Kleinstadt noch annähernd bewahrt hat, während sie in den großen Kulturzentren mannigfaltiger Zersplitterung hat weichen müssen; aber auch in diesem engern Milieu duldet das E. der Neuzeit die »Göttermaschinerie« nicht mehr, die dem Heldengedicht nicht zu fehlen pflegt. Eine Abart des E. ist das Tierepos, das, aus der Tierfabel entstanden, im Leben der Tiere menschliche Torheiten und Schwächen spiegelt (»Reineke Fuchs«) und zumeist didaktisch-satirischen Charakters ist, aber wie das eigentliche E. in der echt volkstümlichen Sphäre primitiven Denkens verweilt. Dazu gesellt sich endlich als weitere Gattung das komische E., das einen niedrigern Stoff im Ton einer Dichtung erhabenern Inhalts behandelt und dadurch diesen »parodiert« (»Batrachomyomachie«), oder als »Travestie« einen erhabenen Stoff in burleskem Ton behandelt (Voltaires »Pucelle«), oder endlich im engern Sinne humoristischen Charakter hat (Kortums »Jobsiade«, Byrons »Don Juan«). [Geschichtliches.] Die Anfänge des Volksepos verlieren sich bei den verschiedenen Völkern in ihr vorgeschichtliches Altertum. Die Heldenlieder der Chinesen hat Konfutse im »Schi-King« gesammelt; die Heldentaten des Ägypterkönigs Ramses d. Gr. feiert das in einem Papyrus erhaltene historische Gedicht seines Hofpoeten Pentaur; das Siegeslied der Deborah (um 1300 v. Chr.) und die zwölf zusammenhängenden Abenteuer der (an den Sonnen- und Heraklesmythus mahnenden) Simsonsage zeigen die Spur epischer Heldendichtung bei den alten Hebräern. Ein eigentliches E. aber findet sich erst bei den Völkern arischer Abstammung, und zwar sowohl bei jenen des Orients (Inder und Iranier) als des Okzidents (Gräko-Italiker, Kelten, Germanen und Slawen). Von den beiden Hauptepen der Inder stellt das eine, das »Mahâbhârata«, den Kampf zweier arischer Heldengeschlechter, der Kuruinge und Panduinge, unter sich, das andre, das »Râmâyana«, den Kampf des Sonnenhelden Râma, als Repräsentanten des Ariertums, mit den dunkelfarbigen, in der Volksmeinung zu Affen gewordenen Ureinwohnern des Landes (den sogen. Drawidastämmen) dar. Als Verfasser des erstern wird Vjâsa (der »Ordner«, so daß dieser Name auch den bloßen Sammler und Bearbeiter vorhandener Lieder bedeuten kann), als jener des zweiten Valmîki genannt; beide haben wiederholt (wie es wahrscheinlich ist, noch in der Zeit nach Christus) Umarbeitungen durch Einschübe und Erweiterungen erfahren. Der Charakter des Wunderbaren wird dem geschichtlichen Kern beider Dichtungen dadurch verliehen, daß die kämpfenden Helden teils Söhne und Enkel von Göttern, teils selbst Inkarnationen von solchen sind. Das unterliegende Geschlecht hat im »Mahâbhârata« durch gewaltsamen Thronraub, aber auch das siegreiche dadurch schwere Schuld auf sich geladen, daß das Haupt desselben seine eigne Gattin frevelhaft im Würfelspiel auf einen Wurf gesetzt und verloren hat. Nachdem die Kuruinge, ihren Thronraub sühnend, gefallen sind, werden auch die Panduinge zur Strafe für ihren Frevel bis auf den letzten Mann erschlagen. Unter den zahllosen Episoden, welche die einfache Handlung umranken, ragt die Liebesgeschichte Nals und Damajantis durch Innigkeit und Zartheit hervor. Wie das »Mahâbhârata« durch den tragischen Untergang zweier mächtiger Geschlechter dem Charakter des tragischen, so entspricht das »Râmâyana«, das den Sieg des Helden Râma über sich selbst und dadurch über seine Feinde schildert, jenem des erlösenden E. Als dem Königssohn Râma sein Vater statt der Thronfolge Verbannung ankündigt, weil er seiner zweiten Gemahlin, die ihren eignen Sohn auf den Thron erheben will, diese ihre Bitte zu erfüllen gelobt hat, unterwirft sich Râma freiwillig und gegen den Willen der jüngern Brüder dem ungerechten Befehl aus Gehorsam gegen die Eltern, während die Gattin und die Brüder freiwillig sein Schicksal teilen. Für diese Treue gegen die Pflicht verleihen die Götter ihm den Sieg über die finstern Riesen der Insel (Ceylon), die ihm die Gattin geraubt haben, und führen ihn nach 14 Jahren des Exils glorreich auf den Thron seiner Väter zurück. In der spätern Gestalt des indischen E. trat die Götternatur der Helden, die nun fast sämtlich Inkarnationen der Gottheit selbst werden, immer mehr hervor, und der wunderbare Charakter der Begebenheiten artete ins Maßlose, Abenteuerliche und Phantastische aus, während die physische Helden-ebenso wie die ethische Entsagungskraft (letztere namentlich in der Form übermenschlichen Büßertums) ins Grenzenlose gesteigert ward. Die iranische Heldensage, aus dem uralten Gegensatz eines Licht- und Finsternisreichs (Ormuzd und Ahriman) entsprungen und auf den Kampf der Nachkommen Dschems, des guten, mit Sohhák, dem bösen Fürsten, übertragen, hat unter den letzten Sassaniden in dem »Chodaïnâmeh« oder »Herrenbuch« eine einheitliche Darstellung in Prosa, aber erst 1000 n. Chr. durch Firdosi, den Dichter des »Schahnâmeh«, ihre kunstmäßige poetische Gestalt erhalten. Mittelpunkt derselben ist Rustem, der Unbesiegbare, den der böse Feind Ahriman lange vergebens (zuletzt durch Rustems eignen ungekannten Sohn Suhráb, der im Kampf gegen den Vater von dessen Hand fallt) zu verderben sucht, bis er zuletzt durch Arglist in eine Wolfsgrube gelockt und in dieser begraben wird.

Kämpfen hier Götter zweier Reiche und dem entsprechend Iranier und Turanier als Völker verschiedener Abstammung im Spiegelbild des E., so sind es im Homerischen E. der Griechen Glieder derselben (olympischen) Götterwelt und wenigstens scheinbar Völter gleicher Art (Troer und Achäer), die miteinander im Streit liegen. Während von den Göttern die einen den Troern helfen, stehen die andern den Griechen bei; nur der »Vater der Götter und Menschen«, Zeus, wägt gleichmäßig die Wagschalen beider ab. Wie im indischen »Mahâbhârata«, bildet in der »Ilias« der Verlust einer Frau, dort freventlich vom eignen Gatten auf das Spiel gesetzt, hier gleich freventlich vom Gastfreund entführt, den Hebel der Handlung, der hier wie dort den Untergang des ganzen dem Frevler verwandten Geschlechts (der Häuser Pandus und Priamos') nach sich zieht. Helenas, der schönen Gattin des Atriden Menelaos, Raub durch Paris, Priamos' Sohn, einigt die achäischen Fürsten des Festlandes und der Inseln zu einer gemeinsamen Unternehmung übers Meer, deren Frucht nach zehnjährigen Kämpfen Trojas Fall ist. Einzelne Taten vor Troja und Abenteuer auf der Heimfahrt sind jedenfalls lange in balladenartigen Liedern besungen worden, und erst allmählich ist der Fortschritt zu ausführlichen epischen Erzählungen erfolgt, bis um 800 v. Chr. im ionischen Kleinasien nach der griechischen Tradition durch das Genie Eines Mannes, des Homer, der Höhepunkt erreicht wurde, die Zusammenfassung einer Reihe von Episoden zu großen epischen Ganzen in kunstreicher Gruppierung um einen einheitlichen Mittelpunkt, in der »Ilias« der Zorn des Achilleus, in der »Odyssee« die Heimkehr des Odysseus. Wie jene der tragischen. so gehört diese der erlösenden Gattung an. Bis in die spätesten Zeiten des griechischen Altertums ist fortan[878] die epische Dichtung nach dem freilich nie wieder erreichten Vorbilde des Homer geübt worden. Zunächst schlossen sich an ihn die sogen. zyklischen Dichter an, die in mehr oder minder umfänglichen Epen vorzugsweise »Ilias« und »Odyssee« einleitend, erweiternd und fortsetzend ergänzende Sagenstoffe behandelten. Nach dem eigentlichen Griechenland übertrug die Homerische Technik etwa 100 Jahre nach Homer Hesiodos und schuf hier das didaktische E., das neben dem eigentlichen namentlich im alexandrinischen Zeitalter geübt wurde.

Bei den Römern sind die einheimischen Keime epischen Dichtens nicht zur Entwickelung gekommen. Im engen Anschluß an die Form des griechischen begründete ein Halbgrieche, Ennius, um 200 v. Chr. das römische Kunstepos mit seinen »Annalen«, deren Gegenstand die römische Geschichte bis auf seine Zeit war, und historischen Stoffen ist auch in der Folgezeit die Vorliebe der römischen Epiker zugewendet geblieben. Den Höhepunkt erreicht das E. der Römer in Vergils »Äneïs«, die beide Richtungen, die historische und die mythische, in sich vereinigt. Sie wurde von den Römern geradezu als Nationalepos betrachtet wie von den Griechen die Homerischen Epen, die trotz aller unbestreitbaren Verdienste nicht entfernt erreichten Vorbilder Vergils in der ganzen Anlage wie im einzelnen. Der Abstand ist um so fühlbarer, als das Wunderbare, das bei Homer im Einklang mit dem naiven Volksglauben steht, für die aufgeklärte Kaiserzeit zur hohlen Maschinerie geworden ist. Dagegen hat Vergil auf dem von den Römern viel gepflegten Gebiet des didaktischen E. in seinen »Georgica« ein Meisterwerk geschaffen, an das keine von den griechischen Leistungen dieser Art heranreicht.

Die Slawen, wie sie am spätesten ihre ursprünglichen Sitze verlassen haben und z. T. erst seit kurzem geschichtliche Völker geworden sind, stehen der Bildungsstufe des epischen Zeitalters im ganzen am nächsten; ja, einige Stämme derselben, wie die Serben, »leben ihre Poesie« (Talvj), daher sich bei ihnen eine der Homerischen verwandte Heldendichtung bis auf unsre Tage im Schwange erhalten hat. Die Heldensage der Russen gruppiert sich um Wladimir (»die helle Sonne der weißen Stadt Kiew«, um 1000 n. Chr.) und, im Gegensatz gegen die Könige, Fürsten und Edlen der übrigen indogermanischen Heldengesänge, um den Bauernsohn Ilja, den edelsinnigen Helden, die Verkörperung der Volkskraft wie des Volksgemüts, hat aber kein zusammenhängendes E. geschaffen. Volksheld der Serben ist der Königssohn Marko, der nach 300jährigem Kampf mit den Ungläubigen sich in eine Höhle zurückgezogen hat, und von dessen Wiederkehr das Volk bessere Tage hofft. Die Heldensage der Kelten gruppiert sich in Irland und Schottland um Fin, den Führer der Fenier, dessen Sohn Ossin (Ossian) Macpherson seine Nachdichtung »Fingal« in den Mund gelegt hat. In Irland kommt zu diesem mit der »Odyssee« vergleichbaren jüngern Sagenkreis noch ein älterer, der »Ilias« ähnlicher hinzu, der die Helden von Ulster umfaßt. In Wales gruppierte sich die Poesie der »Barden«, zu denen auch der berühmte »Zauberer« Merlin (Merddin) gehört, um König Artur (Artus) und seine Tafelrunde. Ursprünglich der Führer der Briten in ihren Kämpfen mit den Sachsen um 500 n. Chr., wurde dieser Fürst später in ähnlicher Weise wie Karl d. Gr. und seine zwölf Paladine durch die Sage verherrlicht. Der älteste germanische Heldengesang entwickelte sich in der Zeit vom 9.–12. Jahrh. unter den skandinavischen Stämmen: im 13. Jahrh. wurden diese Lieder auf Island unter dem Namen der (ältern) Edda (s. d.) gesammelt und niedergeschrieben. Sie erzählen von dem Kampf der guten Götter (der Asen) mit den bösen (Loki), der mit der »Götterdämmerung«, d.h. dem Untergang der erstern, endet, und halten zugleich wesentliche Hauptzüge der germanischen Heldensage fest. Von den Taten Siegfrieds, des Drachentöters, der das Gold der Überirdischen geraubt und seiner Verlobten, der Heldenjungfrau Brunhilde, die Treue gebrochen hat, indem er sie unerkannt für einen andern gewinnt, erzählt das deutsche Volksepos, insbes. das gewaltige Lied von den Nibelungen, in dem sich die Sage von Dietrich, von Attila und von den Burgunden mit der Siegfriedsage verschmolz. Nach der Eroberung des römischen Reichs durch die Deutschen, der Christianisierung und teilweisen Romanisierung eines Teiles der germanischen Stämme nimmt das E. selbst christlichen, jenes der romanisierten Stämme (Goten, Franken, Normannen, Angelsachsen) auf altkeltischem Boden keltischen Charakter an. An die Stelle des Kampfes mit Drachen und bösen Göttern tritt der mit den Ungläubigen, den Arabern in Gallien und Spanien, den Sarazenen im Morgenland und in Palästina, dem Zweifel und der Sünde in der eignen Brust. Held des E. wird der christliche Ritter: Karl d. Gr., den die Sage mit Karl Martell identifiziert, mit seinen Paladinen, besonders Roland, in Frankreich (»Rolandslied«); Ruy Diaz, genannt der Cid Campeador, in Spanien (Romanzen vom Cid); König Artur und seine Tafelrunde als Hüter des heiligen Grals, des Symbols des höchsten Gutes des Christentums (das »E. vom innern Menschen«, sein Gang vom Glauben durch Zweifel zum Heil im »Parzival« des Wolfram von Eschenbach). Die höchste Stufe des christlichen als des erlösenden E. nach mittelalterlich-katholischer Auffassung stellt die »Göttliche Komödie«, Dantes Gang durch Hölle, Fegefeuer und Paradies, als Symbol der Vollendung aller Dinge in Gott dar. Durch die Auflösung der Scholastik und die Wiedererweckung des klassischen Heidentums im Zeitalter der Renaissance einerseits, die innere religiöse Vertiefung in das Wort der Schrift und den Gegensatz gegen die Verweltlichung der Kirche in jenem der Reformation anderseits wurden zwei neue Formen des E. begründet, deren eine vornehmlich bei katholischen, die andre bei prostantisch gewordenen Völkern Pflege und Anklang fand. In dem E. der Renaissance treten die christlichen Wunder auf die gleiche Stufe mit den heidnischen; beide sind Bilder für die Phantasie, ohne daß die Empfindung daran tiefern Anteil nähme; sie werden schließlich zur bloßen »epischen Maschinerie«. Das E. der Reformation dagegen beruht, wie diese selbst, auf dem bewußten Gegensatz gegen den römischen Katholizismus, schließt jedes andre als das in der Bibel beglaubigte Wunder von sich aus, aber (im Gegensatz gegen das E. der Renaissance) den Glauben an das biblische Wunder (Schöpfung, Fall, Erlösung) in sich ein. Repräsentanten des erstern, das Wunderbare des Heiden- und des Christentums (Jupiter und den »Gekreuzigten«) phantastisch vermengenden E. sind Ariost (»Der rasende Roland« als Fortsetzung von Bojardos »Verliebtem Roland«) und Tasso (»Das befreite Jerusalem«), des letztern, streng bibelgläubigen E. dagegen Milton (»Das verlorne Paradies«). Jenes hat am glücklichsten Wieland (»Oberon«) nachgeahmt; in Miltons Fußstapfen treten Bodmer (»Noachide«) und Klopstock (»Messias«). Das [879] moderne E. wendet sich, vom komischen E. (s. oben) abgesehen, von der Welt der Wunder der Welt der Wirklichkeit zu. Seine weitaus glücklichste Ausbildung hat es in dem idyllischen E. erfahren (s. oben), als dessen bedeutendster Vertreter Goethes »Hermann und Dorothea« erscheint. Daneben sind verschiedene Arten des von volkstümlicher Denkweise oft weit entfernten Kunstepos gepflegt worden: das historische E. (Alfred Meißners »Ziska«, Hamerlings »König von Sion« u.a.), das philosophierende E. (»Gedankenepos«), das eine bestimmte Lebensauffassung zur Geltung bringt (Byrons »Childe Harold«, Hamerlings »Ahasver« u.a.). Beachtenswert ist der Versuch W. Jordans, die Nibelungensage durch eine in altertümlichem Stil gehaltene Neubearbeitung wieder lebendig zu machen. Vgl. über das E. die Ästhetiken von Carriere, Vischer, R. Zimmermann, die Poetiken von Carriere und Gottschall und über seine geschichtliche Entwickelung Carriere, Die Kunst im Zusammenhang der Kulturentwickelung (3. Aufl., Leipz. 1876–85, 5 Bde.).

Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 877-880. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20006560954


Damen Conversations Lexikon

[457] Epos oder Heldengedicht, unterscheidet sich von der Epopöie nur dadurch, daß es das Leben eines Helden und zwar in kürzerer Zeit und geringerem Umfange erzählt. Man rechnet dahin die meisten sogenannten romantischen Epopöien, welche einen speciellern, mystischen, religiösen oder historischen Stoff zum Gegenstande haben, wie das Nibelungenlied, Wieland's Oberon, Schulze's Cäcilie etc. Ist der Raum der Darstellung noch enger um eine Person, um eine kurze, romantische Begebenheit geschlossen, so heißt das Epos romantische Erzählung, wie z. B. Schulze's bezauberte Rose. B–l.

Quelle: Damen Conversations Lexikon, Band 3. [o.O.] 1835, S. 457. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20001728075


Herders 1854

[581] Epos, Epopoe, das Heldengedicht, die Erzählung in poetischer Form, ist die älteste Art der Dichtung und darum umittelbar aus dem Volke hervorgegangen, zugleich auch die älteste Form der historischen Ueberlieferung, daher diese immer, weil im Volksmunde lebend, zur Sage wird. Aus diesen Volksepen, die sich stets in einem gewissen Sagenkreise bewegen, sind dann die großen Epen, z.B. die Iliade des Homer, das älteste Nibelungenlied, der Cid etc. hervorgegangen; sie sprechen besonders durch ihre Frische an, welche ihnen durch den Glauben des Dichters od. vielmehr der Dichtenden, d.h. des Volks, verliehen wird. Das Kunst-E., d.h., das rein absichtlich geschaffene, nach Regeln geordnete, erregt das urkräftige Behagen nicht mehr wie das ursprüngliche E., weil das Streben des Dichters, etwas Schönes zu schaffen, zu häufig an den [581] Tag tritt. Eine Zeit, wie die unsrige, wo die Sagenbildung eben so wenig Boden findet als ein Held in antiker u. mittelalterlicher Bedeutung möglich ist, bringt auch kein eigentliches E. mehr hervor, höchstens entsteht es noch auf dem religiösen Gebiete, weil dieses immer Helden u. Wunder hegen kann. – Das E. wird in das classische, d.h. das antike oder nach den Regeln des antiken gedichtete und in das romantische, d.h. das mittelalterliche, eingetheilt; als dritte Art hat man das religiöse beizufügen.

Quelle: Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1854, Band 2, S. 581-582. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20003320766


Heroisch getichte (Opitz)

Im V. Kapitel seines Buches von der Deutschen Poeterey (1624) behandelt Martin Opitz die Einteilung der Dichtkunst in Gattungen, die er Genera carminis und arten der getichte nennt. Mehr: Gattungen_(Opitz)


Eine der von ihm aufgezählten Gattungen ist das "Heroisch getichte". Gemeint ist das (heroische) Epos im Sinne der antiken Dichtung (Homer, Vergil). Opitz schreibt:


Ein Heroisch getichte (das gemeiniglich weitleufftig ist / vnd von hohem wesen redet) soll man stracks von seinem innhalte vnd der Proposition anheben; wie Virgilius in den büchern vom Ackerbawe thut:


Quid faciat lætas segetes, quo sidere terram
Vertere, Mæcenas, vlmisque adiungere vites
Conueniat; quæ cura boum, qui cultus habendo
Sit pecori, atque apibus quanta experientia parcis,
Hinc canere incipiam.


Vnd ich (wiewol ich mich schäme / das ich in mangel anderer deutschen exempel mich meiner eigenen gebrauchen soll / weil mir meine wenigkeit vnd vnvermögen wol bewust ist) in dem ersten buche der noch vnaußgemachten [1] Trostgetichte in Widerwertigkeit des Krieges:


Des schweren Krieges last den Deutschland jetzt empfindet /
Vnd das Gott nicht vmbsonst so hefftig angezündet
Den eifer seiner macht / auch wo in solcher pein
Trost her zue holen ist / soll mein getichte sein


Nachmals haben die heiden jhre Götter angeruffen / das sie jhnen zue vollbringung des werckes beystehen wollen: denen wir Christen nicht allein folgen / sonden auch an frömigkeit billich sollen vberlegen sein. Virgilius spricht weiter an gedachtem orte:


               Vos, o clarissima mundi
Lumina, labentem coelo quæ ducitis annum,
Liber, & alma Ceres, &c.


Vnd ich:


Diß hab ich mir anjetzt zue schreiben fürgenommen.
Ich bitte wollest mir geneigt zue hülffe kommen
  Du höchster trost der welt / du zueversicht in not /
  Du Geist von GOtt gesandt / ia selber wahrer GOtt.
   
Gieb meiner Zungen doch mit deiner glut zue brennen /
Regiere meine faust / vnd laß mich glücklich rennen
   Durch diese wüste bahn / durch dieses newe feldt /
   Darauff noch keiner hat für mir den fuß gestelt.


Wiewol etliche auch stracks zue erste die anruffung setzen. Als Lucretius:


Aeneadum genetrix, hominum diuumque voluptas,
Alma Venus, &c.


Vnd Wilhelm von Sallust in seiner andern woche:


Grand Dieu, qui de ce Tout m'as fait voir la naissance,
Descouure son berceau, monstre-moy son enfance.
Pourmeine mon esprit par les fleuris destours
Des vergers doux-flairans, où serpentoit le cours

De quatre viues eaux: conte-moy quelle offence
Bannit des deux Edens Adam, & sa semence.


Gott / der du mich der welt geburt hast sehen lassen /
Laß mich nun jhre wieg' vnd kindheit jetzt auch fassen /
Vnd meinen Geist vnd sinn sich in dem kreiß' ergehn
Der gärte vol geruchs / hier wo vier flüsse schön'

Hinrauschen mitten durch: erzehl vmb was für sachen
Sich Adam vnd sein sam' auß Eden muste machen.


Doch ist / wie hier zue sehen / in der anruffung allzeit die proposition zuegleich begrieffen. Auff dieses folget gemeiniglich die dedication / wie Virgilius seine Georgica dem Keiser Augustus zuegeschrieben. Item die vrsache / warumb man eben dieses werck vor sich genommen: wie im dritten buche vom Ackerbawe zue sehen:


Cetera, quæ vacuas tenuissent carmina mentes,
Omnia, jam vulgata;


vnd wie folget. Dem ich in den Trostgetichten auch habe nachkommen wollen:


Das ander ist bekandt. wer hat doch nicht geschrieben
Von Venus eitelkeit / vnd von dem schnöden lieben /
   Der blinden jugendt lust? wer hat noch nie gehört
   Wie der Poeten volck die grossen Herren ehrt /

Erhebt sie an die lufft / vnd weiß herauß zue streichen
Was besser schweigens werth / lest seine Feder reichen
   Wo Menschen tapfferkeit noch niemals hin gelangt /
   Macht also das die welt mit blossen lügen prangt?

Wer hat zue vor auch nicht von riesen hören sagen /
Die Waldt vnd Berg zuegleich auff einen orth getragen /
  Zue stürtzen Jupitern mit aller seiner macht /
  Vnnd was des wesens mehr? nun ich bin auch bedacht

Zue sehen ob ich mich kan auß dem staube schwingen /
Vnd von der dicken schar des armen volckes dringen
  So an der erden klebt. ich bin begierde voll
  Zue schreiben wie man sich im creutz' auch frewen soll /

Sein Meister seiner selbst. ich wil die neun Göttinnen /
Die nie auff vnser deutsch noch haben reden können /
   Sampt jhrem Helicon mit dieser meiner handt
   Versetzen allhieher in vnser Vaterlandt.

Vieleichte werden noch die bahn so ich gebrochen /
Geschicktere dann ich nach mir zue bessern suchen /
  Wann dieser harte krieg wird werden hingelegt /
  Vnd die gewündschte rhue zue Land vnd Meer gehegt.


Das getichte vnd die erzehlung selber belangend / nimpt sie es nicht so genawe wie die Historien / die sich an die zeit vnd alle vmbstende nothwendig binden mußen / vnnd wiederholet auch nicht / wie Horatius erwehnet / den Troianischen krieg von der Helenen vnd jhrer brüder geburt an: lest viel außen was sich nicht hin schicken wil / vnd setzet viel das zwar hingehöret / aber newe vnd vnverhoffet ist / vntermenget allerley fabeln / historien / Kriegeskünste / schlachten / rathschläge / sturm / wetter / vnd was sonsten zue erweckung der verwunderung in den gemütern von nöthen ist; alles mit solcher ordnung / als wann sich eines auff das andere selber allso gebe / vnnd vngesucht in das buch keme. Gleichwol aber soll man sich in dieser freyheit zue tichten vorsehen / das man nicht der zeiten vergeße / vnd in jhrer warheit irre. Wiewol es Virgilius / da er vorgegeben / Eneas vnd Dido hetten zue einer zeit gelebet / da doch Dido hundert jahr zuevor gewesen / dem Keyser vnd Römischen volcke / durch welches die stadt Carthago bezwungen worden / zue liebe gethan / damitt er gleichsam von den bösen flüchen der Dido einen anfang der feindschafft zwischen diesen zweyen mächtigen völckern machte. Ob aber bey vns Deutschen so bald jemand kommen möchte / der sich eines volkommenen Heroischen werckes vnterstehen werden / stehe ich sehr im zweifel / vnnd bin nur der gedancken / es sey leichtlicher zue wündschen als zue hoffen.


Anmerkungen:

[1] unveröffentlichten


Ausgaben:

  • Martini Opitii Buch von der Deutschen Poeterey. David Müller: Breslau 1624 (Erstausgabe)
  • Herbert Jaumann (Hrsg.): Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe: Mit dem 'Aristarch' ( 1617) und den Opitzschen Vorreden zu seinen 'Teutschen Poetemata' (1624) ... zu seiner Übersetzung der 'Trojanerinnen' (Studienausgabe). Stuttgart: Reclam 2002