Epos

Aus Lyrikwiki




Epos

Hegels Ästhetik

In der Dichtkunst sieht Hegel im antiken Epos die Darstellung des Absoluten vollkommen ausgeformt, denn im antiken Epos wird prinzipiell die gesamte gesellschaftliche Realität dargestellt. Der Held des Epos kann wie eine griechische Statue immer Ausdruck der absoluten Individualität und des allgemeinen Ideals sein.

Diese Verwandtschaft des Epos zur vollkommenen Darstellung des Absoluten der Skulptur ist möglich, obwohl das Epos exemplarisch auswählt. Das Ideal konkretisiert sich im Geschehen einer Handlung. Diese Handlung ist in aller Regel ein Konflikt mit nationalgeschichtlicher Dimension, z.B. ein Befreiungskrieg. Die Beschreibung dieses Krieges beinhaltet die Gründung eines Staatswesens und wird damit zum Gründungsmythos. Das Epos ist so die Bibel des Volkes. Solche Epen entstehen an einem historischen Ort mittlerer Zeit, in der sich ein Volksgeist schon ausgebildet, aber noch nicht staatlich und gesellschaftlich in Institutionen manifestiert hat.

Für das moderne Europa wird diese 'Mittelzeit' für das 12. bis 16. Jahrhundert festgeschrieben. Sobald die bürgerliche Gesellschaft sich gefestigt hat, kann es kein Epos mehr geben:

"Denn der ganze heutige Weltzustand hat eine Gestalt angenommen, welche in ihrer prosaischen Ordnung sich schnurstracks den Anforderungen entgegenstellt, welche für das echte Epos unerlässlich fanden, während die Umwälzungen, denen die wirklichen Verhältnisse der Staaten und Völker unterworfen gewesen sind, noch zu sehr als wirkliche Erlebnisse in der Erinnerung festhalten um schon die epische Kunstform vertragen zu können."

In den Kunstformen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts – hier ist vornehmlich der Roman gemeint – fehlt die unmittelbare Einheit von Individuellem und Allgemeinem.

Bezüglich der Gattungsunterschiede entnahm Hegel die Kriterien für die Einteilung in Epik, Lyrik und Drama "nur aus dem allgemeinen Begriffe des künstlerischen Darstellens". Die Epik befasse sich damit, wie die bildende Kunst die äußere Realität in die innere Vorstellungswelt zu übertragen, aber darüber hinaus die Handlung aufgrund äußerer Einwirkungen, die die Handlung vorantreiben oder hemmen, zu entfalten, wobei der Dichter nicht in die Schilderung eingreife.

Zur Lyrik im Besonderen äußerte Hegel, dass im Unterschied zum Epos, das "in ein und demselben Werke die Totalität des Volksgeistes in seiner wirklichen Tat und Zuständigkeit auseinanderlegt, der bestimmtere Gehalt des lyrischen Gedichts sich auf irgendeine besondere Seite beschränkt oder doch wenigstens nicht zu der explizierten Vollständigkeit und Entfaltung gelangen kann, welche das Epos, um seine Aufgabe zu erfüllen, haben muss."


  • Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen zur Ästhetik, hg. v. Friedrich Bassenge, Bd. 1, Frankfurt/M. o. J., S. 567f.


(Gk A – Einführung in die Literaturtheorie – Franziska Conrad, Universität Greifswald, 2003)


Meyers 1906

Epische Dichtung (epische Poesie)

[872] Epische Dichtung (epische Poesie) ist diejenige Gattung der Poesie, in der das epische oder erzählende Element die Herrschaft besitzt. Das erzählende Element besteht in der Darlegung von Begebenheiten, d.h. von Vorgängen und Veränderungen der äußern wie der innern Welt, gleichviel, welcher Art die Ursachen dieser Veränderungen seien. Der Begriff der Begebenheit ist von dem des Ereignisses einerseits und von dem der Handlung und der Tat anderseits zu unterscheiden. Ereignis ist eine besonders in die Augen fallende Begebenheit, eine Begebenheit von eindringender Bedeutung; unter dem Begriff der Handlung verstehen wir dagegen eine Begebenheit, die aus dem Willen des Menschen entspringt, und Tat ist eine derartige Handlung von hervorragender Bedeutung. Wenn die e. D. auf die Darstellung von Begebenheiten angewiesen ist, so ist damit ausgedrückt, daß sie nicht, wie das Drama, nur oder überwiegend solche Vorgänge darstellen darf, deren Ursachen in dem menschlichen Willen gelegen sind (also Handlungen), sondern vielmehr Geschehnisse jeglicher Art, und daß Handlungen in dem eben angegebenen Sinne des Wortes nur einen Teil von diesen bilden. Der Unterschied des erzählenden und dramatischen Elements macht sich insbes. aber auch dadurch geltend, daß der Epiker nicht, wie der Dramatiker, das Wort an seine Phantasiegestalten abgibt, sondern selbst führt. Die Grundform der epischen Mitteilung bildet der Aussagesatz, nicht der Befehlssatz und der Gefühlssatz, die vielmehr im lyrischen Element zum Ausdruck kommen: so läßt sich auch die Grenzlinie zwischen dem epischen und dem lyrischen Element leicht feststellen. Anderseits steht dem erzählenden Aussagesatz der beschreibende Aussagesatz zur Seite, und dementsprechend ist das beschreibende Element der Poesie das dem erzählenden oder epischen Element nächst verwandte. In der Tat vermag die erzählende Dichtung der Schilderung der Objekte und Zustände einen breiten Raum zuzuweisen; und wie in jeder Gattung der Poesie ein Element das herrschende ist, die andern aber in bescheidener Form diesem herrschenden Element zur Seite treten dürfen, so kann auch in der epischen Dichtung neben dem erzählenden und beschreibenden Element das lyrische, das reflektierende und das dramatische Element innerhalb gewisser Grenzen Geltung gewinnen. Am ehesten beeinträchtigt wird das erzählende Element, wenn sich das dramatische einerseits oder das lyrische anderseits zu stark neben ihm geltend machen wollen. Der Ruhe des epischen Vortrags steht der aufgeregte Affekt des dramatischen Elements ebenso entgegen wie der mannigfaltige Wechsel lyrischer Stimmungen. Anderseits kann sich die ruhige Überlegung des reflektierenden Elements ohne Schaden (und fast in demselben Maße wie das beschreibende Element) mit der epischen Dichtung vereinigen. Wenn die in jedem einzelnen Falle verschiedene Mischung dieser poetischen Elemente für ein Werk charakteristisch ist, so ist es ebenso zweifellos, daß dasjenige epische Erzeugnis seinem Zweck am besten entspricht, in dem das erzählende Element unbedingt die Oberherrschaft bewahrt.

Schon aus der Tatsache, daß nicht Handlungen, sondern Begebenheiten den Inhalt der epischen Dichtung bilden, ergibt sich mit innerer Folgerichtigkeit, daß in ihr keine so strenge und begrenzte Einheit herrscht wie im Drama. Das Drama schildert einen in sich geschlossenen Komplex von Willenshandlungen; die e. D., welche die Rückwirkung der Außenwelt auf die Innenwelt und jegliche Art von Geschehnissen, sie, die nicht nur aufgeregte, zur Entscheidung hindrängende Willensimpulse, sondern auch die allmählicher und sanfter sich vollziehenden psychologischen Veränderungen zur Anschauung bringen kann, sie darf den Kreis ihrer Darstellungen weiter ausdehnen und muß es tun, wenn sie alle Wirkungen erschöpfen will, deren sie fähig ist. Aber eine Einheit verlangt auch die e. D.: es müssen sich die von ihr dargestellten Geschehnisse zu einem organischen Ganzen runden; aber sie darf[872] sich, indem sie auch das minder Entscheidende mit heranzieht, mit Recht in »epischer Breite« ergehen; sie darf auch den Episoden einen größern Spielraum gewähren als das Drama. Sie unterscheidet sich von diesem insbes. aber auch durch den Zuschnitt und Aufbau der Handlung: während die dramatische Handlung in der Regel die (nach Goethes Ausdruck) vorwärtsschreitenden Motive anwendet, kann die e. D. nicht nur reichlich retardieren, sondern sich auch der rückwärtsschreitenden und der zurückgreifenden Motive bedienen; sie folgt in ihrer Darstellung nicht dem chronologischen Verlauf, sondern beginnt nicht selten mit einem vorgerückten Zeitpunkte der Handlung und trägt das Vorausliegende bei geeigneter Gelegenheit in der Erzählung nach. Durch die vorläufige Verschweigung wichtiger Tatsachen der Vorgeschichte erzielt die e. D. häufig die sogen. epische oder novellistische Spannung.

Die Stoffgebiete der epischen Dichtung sind, wie das schon aus dem Wesen des erzählenden Elements hervorgeht, so gut wie unbegrenzt, und dies um so mehr, als ja auch die andern poetischen Elemente zu gelegentlichem Ersatz herangezogen werden können. Während das Drama durch die Bedingungen der Bühne und den knappen Zuschnitt der in der Hauptsache auf Willensvorgänge beschränkten Handlung räumlich und zeitlich begrenzt ist, kann dagegen der epische Dichter alle Gebiete des Lebens und das unermeßliche Reich der Phantasie durch die Macht seines Wortes erschließen. Eine Hauptunterscheidung epischer Dichtungen wird, wie beim Drama, durch die Sonderung ernster (tragischer) und komischer Werke gewonnen. Weiterhin ist von Bedeutung der Unterschied des Stiles, an den sich dann die Unterschiede von Vers- und Prosadichtung anschließen. Das Epos (Volksepos, künstliches Volksepos, romantisches Epos, idyllisches Epos, komisches Epos) bedient sich stets des Verses, der Roman und zumeist auch die Novelle in der Regel der Prosa; die Erzählung, im engern Sinne des Wortes, unter der eine e. D. von wenig ausgeprägtem Charakter zu verstehen ist, erscheint sowohl in Versen als in Prosa. Ebenso wie das Epos wurzeln in den Anschauungen des primitiven und volkstümlichen Bewußtseins das Märchen und die Fabel, ersteres in der Regel in Prosa, letztere zumeist in Versen auftretend; dem Volksmärchen stellt sich das Kunstmärchen zur Seite, das gelegentlich (wie z. B. bei Brentano) parodistisch-satirische Nebenwirkungen erstrebt. In der Fabel drängt sich schon im Altertum neben dem erzählenden Element das reflektierende in den Vordergrund. In der Ballade sind, nach Goethes treffendem Worte, die Elemente der Poesie noch wie in einem Urei vereint; das erzählende, reflektierende, dramatische und lyrische Element kommen nebeneinander, doch in den verschiedenen Werken in ganz verschiedenen Mischungen, zum Ausdruck. Nur ist in neuerer Zeit das reflektierende Element in der Ballade meist zurückgetreten, immerhin aber bei einem der hervorragendsten Vertreter, bei Schiller, stark betont. Vgl. die Sonderartikel: Epos, Roman etc.

Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 872-873. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20006560229

Epos

[877] Epos (griech., »das Gesagte«), eine Gattung der Epischen Dichtung (s. d.), die zunächst äußerlich durch die poetische Form und eine gewisse Größe des Umfanges ausgezeichnet ist. Das Charakteristische des eigentlichen E., des Volksepos oder Heldengedichts liegt darin, daß es Vorgänge aus einer volkstümlich-primitiven Kulturwelt darstellt, aus einer Welt, in der alle Volksgenossen durch das Band einer einheitlichen Bildung verknüpft sind, und in der sich noch keine ausgeprägten Individualitäten von dem Gesamtbewußtsein losgelöst haben. Da dies vorwiegend in Urzeiten der Fall ist, in denen noch das mythologische Denken überwiegt, so ist das E. vorzugsweise in der Welt der Götter und Helden, des Wunderbaren und Außerordentlichen heimisch. Für das Pathos des Inhalts, die »Überlebensgröße« der Gestalten, die die Phantasie unmittelbar ansprechenden Begebenheiten, die feierlich gehobene Stimmung des E. ist die poetische Sprache das naturgemäße Gewand. Die Entstehung aus einzelnen Balladen oder Liedern geringern Umfanges, die dann in ein Ganzes zusammengearbeitet wurden, ist bei dem Volksepos die Regel. Im Gegensatz zum Volksepos stellt sich das Kunstepos dar als das Werk eines einzelnen, das die volkstümlich-primitive Denkweise des Heldengedichts nachahmt und auch mythologisch-wunderbare Begebenheiten gestaltet, aber doch jederzeit durch die individuelle Denk- und Empfindungsweise des Dichters bedingt sein wird. Besondere Abarten des Kunstepos sind das Abenteuerepos (wie etwa die mittelalterlichen Darstellungen aus der Artursage oder Wielands »Oberon«), in denen Wunder und Reckentum nicht im Sinne des volkstümlich-primitiven Bewußtseins, sondern im Sinn einer konventionell-ritterlichen Gesellschaft dargestellt werden, und das religiöse E. (wie Miltons »Paradise lost« und Klopstocks »Messias«), in dem sich ähnlich wie in dem Volksepos eine Vorstellungsweise erschließt, die weiten Kreisen gemein ist. Am meisten nähert sich aber das idyllische E., wie es Goethe im »Hermann und Dorothea« angebaut hat, dem Grundcharakter des E., denn hier herrscht, wie in diesem, die Anschauungsweise des »Volkes«, die sich in der engen Sphäre der Landbevölkerung und[877] der Kleinstadt noch annähernd bewahrt hat, während sie in den großen Kulturzentren mannigfaltiger Zersplitterung hat weichen müssen; aber auch in diesem engern Milieu duldet das E. der Neuzeit die »Göttermaschinerie« nicht mehr, die dem Heldengedicht nicht zu fehlen pflegt. Eine Abart des E. ist das Tierepos, das, aus der Tierfabel entstanden, im Leben der Tiere menschliche Torheiten und Schwächen spiegelt (»Reineke Fuchs«) und zumeist didaktisch-satirischen Charakters ist, aber wie das eigentliche E. in der echt volkstümlichen Sphäre primitiven Denkens verweilt. Dazu gesellt sich endlich als weitere Gattung das komische E., das einen niedrigern Stoff im Ton einer Dichtung erhabenern Inhalts behandelt und dadurch diesen »parodiert« (»Batrachomyomachie«), oder als »Travestie« einen erhabenen Stoff in burleskem Ton behandelt (Voltaires »Pucelle«), oder endlich im engern Sinne humoristischen Charakter hat (Kortums »Jobsiade«, Byrons »Don Juan«). [Geschichtliches.] Die Anfänge des Volksepos verlieren sich bei den verschiedenen Völkern in ihr vorgeschichtliches Altertum. Die Heldenlieder der Chinesen hat Konfutse im »Schi-King« gesammelt; die Heldentaten des Ägypterkönigs Ramses d. Gr. feiert das in einem Papyrus erhaltene historische Gedicht seines Hofpoeten Pentaur; das Siegeslied der Deborah (um 1300 v. Chr.) und die zwölf zusammenhängenden Abenteuer der (an den Sonnen- und Heraklesmythus mahnenden) Simsonsage zeigen die Spur epischer Heldendichtung bei den alten Hebräern. Ein eigentliches E. aber findet sich erst bei den Völkern arischer Abstammung, und zwar sowohl bei jenen des Orients (Inder und Iranier) als des Okzidents (Gräko-Italiker, Kelten, Germanen und Slawen). Von den beiden Hauptepen der Inder stellt das eine, das »Mahâbhârata«, den Kampf zweier arischer Heldengeschlechter, der Kuruinge und Panduinge, unter sich, das andre, das »Râmâyana«, den Kampf des Sonnenhelden Râma, als Repräsentanten des Ariertums, mit den dunkelfarbigen, in der Volksmeinung zu Affen gewordenen Ureinwohnern des Landes (den sogen. Drawidastämmen) dar. Als Verfasser des erstern wird Vjâsa (der »Ordner«, so daß dieser Name auch den bloßen Sammler und Bearbeiter vorhandener Lieder bedeuten kann), als jener des zweiten Valmîki genannt; beide haben wiederholt (wie es wahrscheinlich ist, noch in der Zeit nach Christus) Umarbeitungen durch Einschübe und Erweiterungen erfahren. Der Charakter des Wunderbaren wird dem geschichtlichen Kern beider Dichtungen dadurch verliehen, daß die kämpfenden Helden teils Söhne und Enkel von Göttern, teils selbst Inkarnationen von solchen sind. Das unterliegende Geschlecht hat im »Mahâbhârata« durch gewaltsamen Thronraub, aber auch das siegreiche dadurch schwere Schuld auf sich geladen, daß das Haupt desselben seine eigne Gattin frevelhaft im Würfelspiel auf einen Wurf gesetzt und verloren hat. Nachdem die Kuruinge, ihren Thronraub sühnend, gefallen sind, werden auch die Panduinge zur Strafe für ihren Frevel bis auf den letzten Mann erschlagen. Unter den zahllosen Episoden, welche die einfache Handlung umranken, ragt die Liebesgeschichte Nals und Damajantis durch Innigkeit und Zartheit hervor. Wie das »Mahâbhârata« durch den tragischen Untergang zweier mächtiger Geschlechter dem Charakter des tragischen, so entspricht das »Râmâyana«, das den Sieg des Helden Râma über sich selbst und dadurch über seine Feinde schildert, jenem des erlösenden E. Als dem Königssohn Râma sein Vater statt der Thronfolge Verbannung ankündigt, weil er seiner zweiten Gemahlin, die ihren eignen Sohn auf den Thron erheben will, diese ihre Bitte zu erfüllen gelobt hat, unterwirft sich Râma freiwillig und gegen den Willen der jüngern Brüder dem ungerechten Befehl aus Gehorsam gegen die Eltern, während die Gattin und die Brüder freiwillig sein Schicksal teilen. Für diese Treue gegen die Pflicht verleihen die Götter ihm den Sieg über die finstern Riesen der Insel (Ceylon), die ihm die Gattin geraubt haben, und führen ihn nach 14 Jahren des Exils glorreich auf den Thron seiner Väter zurück. In der spätern Gestalt des indischen E. trat die Götternatur der Helden, die nun fast sämtlich Inkarnationen der Gottheit selbst werden, immer mehr hervor, und der wunderbare Charakter der Begebenheiten artete ins Maßlose, Abenteuerliche und Phantastische aus, während die physische Helden-ebenso wie die ethische Entsagungskraft (letztere namentlich in der Form übermenschlichen Büßertums) ins Grenzenlose gesteigert ward. Die iranische Heldensage, aus dem uralten Gegensatz eines Licht- und Finsternisreichs (Ormuzd und Ahriman) entsprungen und auf den Kampf der Nachkommen Dschems, des guten, mit Sohhák, dem bösen Fürsten, übertragen, hat unter den letzten Sassaniden in dem »Chodaïnâmeh« oder »Herrenbuch« eine einheitliche Darstellung in Prosa, aber erst 1000 n. Chr. durch Firdosi, den Dichter des »Schahnâmeh«, ihre kunstmäßige poetische Gestalt erhalten. Mittelpunkt derselben ist Rustem, der Unbesiegbare, den der böse Feind Ahriman lange vergebens (zuletzt durch Rustems eignen ungekannten Sohn Suhráb, der im Kampf gegen den Vater von dessen Hand fallt) zu verderben sucht, bis er zuletzt durch Arglist in eine Wolfsgrube gelockt und in dieser begraben wird.

Kämpfen hier Götter zweier Reiche und dem entsprechend Iranier und Turanier als Völker verschiedener Abstammung im Spiegelbild des E., so sind es im Homerischen E. der Griechen Glieder derselben (olympischen) Götterwelt und wenigstens scheinbar Völter gleicher Art (Troer und Achäer), die miteinander im Streit liegen. Während von den Göttern die einen den Troern helfen, stehen die andern den Griechen bei; nur der »Vater der Götter und Menschen«, Zeus, wägt gleichmäßig die Wagschalen beider ab. Wie im indischen »Mahâbhârata«, bildet in der »Ilias« der Verlust einer Frau, dort freventlich vom eignen Gatten auf das Spiel gesetzt, hier gleich freventlich vom Gastfreund entführt, den Hebel der Handlung, der hier wie dort den Untergang des ganzen dem Frevler verwandten Geschlechts (der Häuser Pandus und Priamos') nach sich zieht. Helenas, der schönen Gattin des Atriden Menelaos, Raub durch Paris, Priamos' Sohn, einigt die achäischen Fürsten des Festlandes und der Inseln zu einer gemeinsamen Unternehmung übers Meer, deren Frucht nach zehnjährigen Kämpfen Trojas Fall ist. Einzelne Taten vor Troja und Abenteuer auf der Heimfahrt sind jedenfalls lange in balladenartigen Liedern besungen worden, und erst allmählich ist der Fortschritt zu ausführlichen epischen Erzählungen erfolgt, bis um 800 v. Chr. im ionischen Kleinasien nach der griechischen Tradition durch das Genie Eines Mannes, des Homer, der Höhepunkt erreicht wurde, die Zusammenfassung einer Reihe von Episoden zu großen epischen Ganzen in kunstreicher Gruppierung um einen einheitlichen Mittelpunkt, in der »Ilias« der Zorn des Achilleus, in der »Odyssee« die Heimkehr des Odysseus. Wie jene der tragischen. so gehört diese der erlösenden Gattung an. Bis in die spätesten Zeiten des griechischen Altertums ist fortan[878] die epische Dichtung nach dem freilich nie wieder erreichten Vorbilde des Homer geübt worden. Zunächst schlossen sich an ihn die sogen. zyklischen Dichter an, die in mehr oder minder umfänglichen Epen vorzugsweise »Ilias« und »Odyssee« einleitend, erweiternd und fortsetzend ergänzende Sagenstoffe behandelten. Nach dem eigentlichen Griechenland übertrug die Homerische Technik etwa 100 Jahre nach Homer Hesiodos und schuf hier das didaktische E., das neben dem eigentlichen namentlich im alexandrinischen Zeitalter geübt wurde.

Bei den Römern sind die einheimischen Keime epischen Dichtens nicht zur Entwickelung gekommen. Im engen Anschluß an die Form des griechischen begründete ein Halbgrieche, Ennius, um 200 v. Chr. das römische Kunstepos mit seinen »Annalen«, deren Gegenstand die römische Geschichte bis auf seine Zeit war, und historischen Stoffen ist auch in der Folgezeit die Vorliebe der römischen Epiker zugewendet geblieben. Den Höhepunkt erreicht das E. der Römer in Vergils »Äneïs«, die beide Richtungen, die historische und die mythische, in sich vereinigt. Sie wurde von den Römern geradezu als Nationalepos betrachtet wie von den Griechen die Homerischen Epen, die trotz aller unbestreitbaren Verdienste nicht entfernt erreichten Vorbilder Vergils in der ganzen Anlage wie im einzelnen. Der Abstand ist um so fühlbarer, als das Wunderbare, das bei Homer im Einklang mit dem naiven Volksglauben steht, für die aufgeklärte Kaiserzeit zur hohlen Maschinerie geworden ist. Dagegen hat Vergil auf dem von den Römern viel gepflegten Gebiet des didaktischen E. in seinen »Georgica« ein Meisterwerk geschaffen, an das keine von den griechischen Leistungen dieser Art heranreicht.

Die Slawen, wie sie am spätesten ihre ursprünglichen Sitze verlassen haben und z. T. erst seit kurzem geschichtliche Völker geworden sind, stehen der Bildungsstufe des epischen Zeitalters im ganzen am nächsten; ja, einige Stämme derselben, wie die Serben, »leben ihre Poesie« (Talvj), daher sich bei ihnen eine der Homerischen verwandte Heldendichtung bis auf unsre Tage im Schwange erhalten hat. Die Heldensage der Russen gruppiert sich um Wladimir (»die helle Sonne der weißen Stadt Kiew«, um 1000 n. Chr.) und, im Gegensatz gegen die Könige, Fürsten und Edlen der übrigen indogermanischen Heldengesänge, um den Bauernsohn Ilja, den edelsinnigen Helden, die Verkörperung der Volkskraft wie des Volksgemüts, hat aber kein zusammenhängendes E. geschaffen. Volksheld der Serben ist der Königssohn Marko, der nach 300jährigem Kampf mit den Ungläubigen sich in eine Höhle zurückgezogen hat, und von dessen Wiederkehr das Volk bessere Tage hofft. Die Heldensage der Kelten gruppiert sich in Irland und Schottland um Fin, den Führer der Fenier, dessen Sohn Ossin (Ossian) Macpherson seine Nachdichtung »Fingal« in den Mund gelegt hat. In Irland kommt zu diesem mit der »Odyssee« vergleichbaren jüngern Sagenkreis noch ein älterer, der »Ilias« ähnlicher hinzu, der die Helden von Ulster umfaßt. In Wales gruppierte sich die Poesie der »Barden«, zu denen auch der berühmte »Zauberer« Merlin (Merddin) gehört, um König Artur (Artus) und seine Tafelrunde. Ursprünglich der Führer der Briten in ihren Kämpfen mit den Sachsen um 500 n. Chr., wurde dieser Fürst später in ähnlicher Weise wie Karl d. Gr. und seine zwölf Paladine durch die Sage verherrlicht. Der älteste germanische Heldengesang entwickelte sich in der Zeit vom 9.–12. Jahrh. unter den skandinavischen Stämmen: im 13. Jahrh. wurden diese Lieder auf Island unter dem Namen der (ältern) Edda (s. d.) gesammelt und niedergeschrieben. Sie erzählen von dem Kampf der guten Götter (der Asen) mit den bösen (Loki), der mit der »Götterdämmerung«, d.h. dem Untergang der erstern, endet, und halten zugleich wesentliche Hauptzüge der germanischen Heldensage fest. Von den Taten Siegfrieds, des Drachentöters, der das Gold der Überirdischen geraubt und seiner Verlobten, der Heldenjungfrau Brunhilde, die Treue gebrochen hat, indem er sie unerkannt für einen andern gewinnt, erzählt das deutsche Volksepos, insbes. das gewaltige Lied von den Nibelungen, in dem sich die Sage von Dietrich, von Attila und von den Burgunden mit der Siegfriedsage verschmolz. Nach der Eroberung des römischen Reichs durch die Deutschen, der Christianisierung und teilweisen Romanisierung eines Teiles der germanischen Stämme nimmt das E. selbst christlichen, jenes der romanisierten Stämme (Goten, Franken, Normannen, Angelsachsen) auf altkeltischem Boden keltischen Charakter an. An die Stelle des Kampfes mit Drachen und bösen Göttern tritt der mit den Ungläubigen, den Arabern in Gallien und Spanien, den Sarazenen im Morgenland und in Palästina, dem Zweifel und der Sünde in der eignen Brust. Held des E. wird der christliche Ritter: Karl d. Gr., den die Sage mit Karl Martell identifiziert, mit seinen Paladinen, besonders Roland, in Frankreich (»Rolandslied«); Ruy Diaz, genannt der Cid Campeador, in Spanien (Romanzen vom Cid); König Artur und seine Tafelrunde als Hüter des heiligen Grals, des Symbols des höchsten Gutes des Christentums (das »E. vom innern Menschen«, sein Gang vom Glauben durch Zweifel zum Heil im »Parzival« des Wolfram von Eschenbach). Die höchste Stufe des christlichen als des erlösenden E. nach mittelalterlich-katholischer Auffassung stellt die »Göttliche Komödie«, Dantes Gang durch Hölle, Fegefeuer und Paradies, als Symbol der Vollendung aller Dinge in Gott dar. Durch die Auflösung der Scholastik und die Wiedererweckung des klassischen Heidentums im Zeitalter der Renaissance einerseits, die innere religiöse Vertiefung in das Wort der Schrift und den Gegensatz gegen die Verweltlichung der Kirche in jenem der Reformation anderseits wurden zwei neue Formen des E. begründet, deren eine vornehmlich bei katholischen, die andre bei prostantisch gewordenen Völkern Pflege und Anklang fand. In dem E. der Renaissance treten die christlichen Wunder auf die gleiche Stufe mit den heidnischen; beide sind Bilder für die Phantasie, ohne daß die Empfindung daran tiefern Anteil nähme; sie werden schließlich zur bloßen »epischen Maschinerie«. Das E. der Reformation dagegen beruht, wie diese selbst, auf dem bewußten Gegensatz gegen den römischen Katholizismus, schließt jedes andre als das in der Bibel beglaubigte Wunder von sich aus, aber (im Gegensatz gegen das E. der Renaissance) den Glauben an das biblische Wunder (Schöpfung, Fall, Erlösung) in sich ein. Repräsentanten des erstern, das Wunderbare des Heiden- und des Christentums (Jupiter und den »Gekreuzigten«) phantastisch vermengenden E. sind Ariost (»Der rasende Roland« als Fortsetzung von Bojardos »Verliebtem Roland«) und Tasso (»Das befreite Jerusalem«), des letztern, streng bibelgläubigen E. dagegen Milton (»Das verlorne Paradies«). Jenes hat am glücklichsten Wieland (»Oberon«) nachgeahmt; in Miltons Fußstapfen treten Bodmer (»Noachide«) und Klopstock (»Messias«). Das [879] moderne E. wendet sich, vom komischen E. (s. oben) abgesehen, von der Welt der Wunder der Welt der Wirklichkeit zu. Seine weitaus glücklichste Ausbildung hat es in dem idyllischen E. erfahren (s. oben), als dessen bedeutendster Vertreter Goethes »Hermann und Dorothea« erscheint. Daneben sind verschiedene Arten des von volkstümlicher Denkweise oft weit entfernten Kunstepos gepflegt worden: das historische E. (Alfred Meißners »Ziska«, Hamerlings »König von Sion« u.a.), das philosophierende E. (»Gedankenepos«), das eine bestimmte Lebensauffassung zur Geltung bringt (Byrons »Childe Harold«, Hamerlings »Ahasver« u.a.). Beachtenswert ist der Versuch W. Jordans, die Nibelungensage durch eine in altertümlichem Stil gehaltene Neubearbeitung wieder lebendig zu machen. Vgl. über das E. die Ästhetiken von Carriere, Vischer, R. Zimmermann, die Poetiken von Carriere und Gottschall und über seine geschichtliche Entwickelung Carriere, Die Kunst im Zusammenhang der Kulturentwickelung (3. Aufl., Leipz. 1876–85, 5 Bde.).

Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 5. Leipzig 1906, S. 877-880. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20006560954

Damen Conversations Lexikon

Epische Dichtkunst

[456] Epische Dichtkunst. Epos heißt im Griechischen das Wort; im weitern Sinne Erörterung, Erzählung. Demnach ist also jede künstlerische Erzählung einer Begebenheit, eine epische Dichtung. Das Wesen der epischen Poesie besteht in der Darstellung einer Begebenheit als vergangen; zu ihr gehören die Epopöie, das Epos oder Heldengedicht, Romanzen und Balladen, die poetische Erzählung, die Heroide, der Roman und die Novelle. B–l.

Quelle: Damen Conversations Lexikon, Band 3. [o.O.] 1835, S. 456. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20001728016

[457] Epos oder Heldengedicht,

unterscheidet sich von der Epopöie nur dadurch, daß es das Leben eines Helden und zwar in kürzerer Zeit und geringerem Umfange erzählt. Man rechnet dahin die meisten sogenannten romantischen Epopöien, welche einen speciellern, mystischen, religiösen oder historischen Stoff zum Gegenstande haben, wie das Nibelungenlied, Wieland's Oberon, Schulze's Cäcilie etc. Ist der Raum der Darstellung noch enger um eine Person, um eine kurze, romantische Begebenheit geschlossen, so heißt das Epos romantische Erzählung, wie z. B. Schulze's bezauberte Rose. B–l.

Quelle: Damen Conversations Lexikon, Band 3. [o.O.] 1835, S. 457. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20001728075

Epopöie

[456] Epopöie, das eigentliche und zugleich umfassendste epische Gedicht. Sie ist die poetische Erzählung einer wichtigen, interessanten,[456] wunderbaren Begebenheit, die eine ausgedehnte Zeit, viele merkwürdige Charaktere und Handlungen, unter dem sichtbaren Einflusse der Geisterwelt, als der Vergangenheit angehörend, dem Auge vorführt. In der Iliade z. B. treten die Götter zur Unterstützung der streitenden Parteien auf, in Klopstock's Messias sind Himmel und Hölle in Thätigkeit. Das epische Gedicht geht langsam, bricht oft ab, um Neues aufzunehmen, kehrt zu dem Abgerissenen gelegentlich wieder zurück und nimmt es mit. Die Epopöie ist ein Meer, das hundert Ströme in sich aufnimmt: sie befaßt sich mit der Darstellung alles Interessanten, schildert ganze Nationen, beschreibt Sitten und Gebräuche und verliert sich gern in die Zeit der Sagen und Wunder; sie ist die Erzählung einer großen Weltbegebenheit in poetischer Form. B–l.

Quelle: Damen Conversations Lexikon, Band 3. [o.O.] 1835, S. 456-457. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20001728067

Herders 1854

Epische Poesie

[580] Epische Poesie, die erzählende Dichtungsart, begreift in weitester Bedeutung auch den Roman, die Novelle etc., in engster das Heldengedicht od. Epos (s. d.).

Quelle: Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1854, Band 2, S. 580. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20003320456

Epos, Epopoe

[581] Epos, Epopoe, das Heldengedicht, die Erzählung in poetischer Form, ist die älteste Art der Dichtung und darum umittelbar aus dem Volke hervorgegangen, zugleich auch die älteste Form der historischen Ueberlieferung, daher diese immer, weil im Volksmunde lebend, zur Sage wird. Aus diesen Volksepen, die sich stets in einem gewissen Sagenkreise bewegen, sind dann die großen Epen, z.B. die Iliade des Homer, das älteste Nibelungenlied, der Cid etc. hervorgegangen; sie sprechen besonders durch ihre Frische an, welche ihnen durch den Glauben des Dichters od. vielmehr der Dichtenden, d.h. des Volks, verliehen wird. Das Kunst-E., d.h., das rein absichtlich geschaffene, nach Regeln geordnete, erregt das urkräftige Behagen nicht mehr wie das ursprüngliche E., weil das Streben des Dichters, etwas Schönes zu schaffen, zu häufig an den [581] Tag tritt. Eine Zeit, wie die unsrige, wo die Sagenbildung eben so wenig Boden findet als ein Held in antiker u. mittelalterlicher Bedeutung möglich ist, bringt auch kein eigentliches E. mehr hervor, höchstens entsteht es noch auf dem religiösen Gebiete, weil dieses immer Helden u. Wunder hegen kann. – Das E. wird in das classische, d.h. das antike oder nach den Regeln des antiken gedichtete und in das romantische, d.h. das mittelalterliche, eingetheilt; als dritte Art hat man das religiöse beizufügen.

Quelle: Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1854, Band 2, S. 581-582. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20003320766


Pierer 1858

Epische Poesie

[802] Epische Poesie, das Gebiet der Dichtkunst, welches außer dem eigentlichen Epos (s.d.), auch die demselben verwandten Dichtungsarten umfaßt. Der gemeinsame Charakter derselben ist die erzählende Form, in welcher in sich abgeschlossene Begebenheiten dargestellt werden. Zu den Abarten des Epos gehören die der lyrischen Poesie sich nähernden Dichtungsarten, Ballade (s.d.), Romanze (s.d.), das epische Idyll, welches eine Begebenheit aus der Sphäre des Volkslebens in einen historischen Rahmen spannt, u. das episch-lyrische Heldengedicht, welches demselben Zwecke dient, nur daß die Form der Sprache lyrisch ist u. die subjective Empfindungs- u. Anschauungsweise des Dichters die objective Ruhe der epischen Darstellung beeinträchtigt; ferner die der prosaischen Geschichtserzählung verwandten Dichtungsarten, der Roman (s.d.) u. die Novelle (s.d.); endlich das Komische Heldengedicht u. die Thiersage (s.d.); vgl. Dichtkunst.

Quelle: Pierer's Universal-Lexikon, Band 5. Altenburg 1858, S. 802. Permalink: http://www.zeno.org/nid/2000986895X

Epos

[806] Epos (gr., Epopöe, deutsch Heldengedicht), eine der drei Hauptgattungen der Dichtkunst (s.d.), deren charakteristische Eigenthümlichkeit in der rein objectiven u. naiven Darstellung vergangener, in sich abgeschlossener Begebenheiten besteht. A) Das eigentliche E. (Heroisches E., Volksepos) stellt eine Begebenheit von tief in das Leben einer Nation eingreifender Bedeutung, als unter dem Einfluß höherer Schicksalsmächte geschehend, dar. Wie das Volksepos als der Ausfluß der gesammten poetischen Kraft einer Nation erscheint, dessen einzelne Stücke, von unbekannten Volkssängern herrührend, im Munde des Volkes fortlebten, fortgebildet u. endlich zu einem zusammenhängenden Ganzen abgerundet wurden, so erscheint auch die Dichtung selbst als ein Spiegelbild des gesammten Volkswesens, des religiösen, staatlichen u. häuslichen Lebens, der Sitten- u. Culturzustände, die Nation selbst aber als ein großes von einer sittlich-religiösen Idee zusammengehaltenes Ganzes, im Kampfe gegen eine gleichmächtige Nation begriffen. Aus den mit einander um den Vorrang ringenden Massen hervor treten die einzelnen Heldengestalten, mit übermenschlichen Kräften ausgestattet. In jeder einzelnen lebt dieselbe religiös-sittliche Überzeugung der Gesammtheit, aus der die Motive ihres Handelns entspringen. Nur in der äußeren Erscheinung genauer charakterisirt treten die Helden alle gleichberechtigt auf; auf ihre persönlichen Interessen u. Neigungen, ihr subjectives Verhalten, nimmt das E. nur Rücksicht, sofern es für den Fortgang der Begebenheit von Wichtigkeit ist. Die Begebenheit selbst ist die Hauptsache, u. ihr gegenüber sind alle Helden, trotz ihrer lebensvollen Thätigkeit, passiv. Sie sind nur Werkzeuge, welche das Schicksal vollziehen, so wie es im Rathe der Götter beschlossen war. Diese Beziehung alles Geschehenden auf einen höheren Willen, welcher, das menschliche Geschick beherrschend, keine Parteinahme für die eine od. andere der kämpfenden Gruppen od. der rivalisirenden Helden zuläßt u. auch dem Dichter weder Lob noch Tadel, höchstens eine Klage über den Untergang des Großen u. Herrlichen zugesteht, setzt das E. in vollen Contrast zum Drama, in welchem die ganze Action aus der innersten Individualität entspringt u. der Einzelne sich gegen ein ihm gegenüberstehendes Ganzes erhebt, welches ihn schließlich erdrücken muß. Aus diesem Unterschiede geht auch der Unterschied in der Darstellung hervor. Das E. setzt sich aus einer Reihe von Episoden (s.d.) zusammen. Die einzelnen Vorgänge reihen sich ohne strenge Übergänge an einander, sind in sich aber mit einer detaillirten Genauigkeit ausgeführt. Das E. setzt eine Kenntniß der epischen Fabel im Allgemeinen voraus, bedarf also nicht der strengen Verkettung von Ursache u. Folge, eine Motivirung der Handlungen, wie sie das Drama erheischt. Mit einem naiven Behagen an der wirklichen Welt verbreitet es sich über die Einzelheiten derselben, während das Drama die äußeren Erscheinungen höchstens vorübergehend berührt, um die Welt der Ideen in ihrer Tiefe zu offenbaren. Die epischen Helden thun Vieles, Ungeheures, Wunderbares, aber alle Thaten des Einzelnen sehen sich mehr od. weniger ähnlich, u. dienen dem Fortgang der ganzen Begebenheit; die einzelnen Personen treten auf u. ab, wir sehen sie in der Schlacht, bei Mahlzeiten u. frohen Festen, bei häuslichen Beschäftigungen, religiösen Handlungen, männlichen Vergnügungen, wie Jagen u. Wettkämpfen, aber wir sehen sie nichts Außergewöhnliches thun, was mit dem Gemeingültigen im Widerspruch stände;[806] der Held des Dramas dagegen erscheint äußerlich viel weniger activ, aber wo er handelt, handelt er entscheidend für seine ganze Existenz, die er gegen das Gemeingültige in die Wagschale wirst. So ist denn das E. darauf hingewiesen, bei der Darstellung in die Breite zu gehen, über die Anfänge der Begebenheit rasch in die Mitte derselben fortzukommen u. das Ende derselben unbekümmert um den Ausgang der einzelnen Helden eintreten zu lassen.

Die Anfänge der Poesie tragen bei allen Völkern einen epischen Charakter. Das E. ist überall der Vorläufer der Kunstdichtung sowohl, wie der prosaischen Geschichtsschreibung. Es ist ein Ausfluß des mächtig werdenden Nationalbewußtseins, welches die Gestalten der Helden vergangener Zeiten festzuhalten strebt, indem es dieselben gleichzeitig idealisirt, d.h. ihnen alle Eigenschaften u. Tugenden in erhöhtem Grade beilegt, welche den Ruhm u. die Ehre eines Mannes nach den Begriffen des Volkes u. der Zeit bedingen. Der rhythmische Bau des E. ist einfach u. ungekünstelt, die Verbindung einzelner Verse zur Strophe findet entweder gar nicht statt, od. ist erst in rohen Anfängen vorhanden. Als Versmaß wurde von den Griechen u. den nach dichtenden Römern im E. stets der Hexameter gebraucht. Die älteste epische Strophe der germanischen Welt ist die jambische Nibelungenstrophe, deren vier im Reim unvollkommenen, im Rhythmus aber strengen, fast ganz gleichgebauten Verse gleich dem Hexameter eine scharfe Cäsur haben, die dem Verse einen ruhigen, gleichmäßigen Takt verleiht. Die Architektonik des epischen Verses ist streng, ernst u. gemessen, während die Lyrik der Zierrathen bedarf u. in bunten Formen wechselt. Das E. pflegt in Gesänge, Bücher (Rhapsodien) gegliedert zu sein. Die umfangreichsten u. an poetischem Gehalt am höchsten stehenden Epen besitzen die Inder in der Ramayana u. Mahabharata, die Griechen in der Ilias u. Odyssee, die germanischen Völker im Nibelungenliede u. der Gudrun, die Celten in den Gesängen Ossians, welche indeß nicht mehr erhalten sind.

B) Das Kunstepos entstand in Zeiten, wo bereits die Dichtkunst in die Hände eigentlicher Dichter übergegangen war u. als eine besondere Kunst geübt wurde. An die Stelle naiver Ursprünglichkeit tritt die Reflexion, u. die subjective Anschauungsweise des Dichters beeinträchtigt die epische Darstellung, wie sehr diese auch in dem Ton u. der äußeren Form die Volksdichtung zu erreichen strebt. Solche Kunstepen schufen die Cyklischen Dichter (s.d.) der Griechen u. unter den Römern Virgil in seiner Äneide. Auch das christliche Mittelalter kannte keine Volksepen; der allgemein menschliche Charakter der christlichen Religion war nicht geeignet, das Nationalbewußtsein der einzelnen Culturvölker zu kräftigen, welches sich vielmehr mit Zähigkeit an die heidnischen Vorstellungen festklammerte. Die Kämpfe für die Weltreligion, von einzelnen Helden od. von großen Heerschaaren unternommen, bilden den Gegenstand der epischen Gedichte des christlichen Mittelalters, welche man Romantische Epopöen nennt. Die meisten derselben tragen einen vorherrschend lyrischen Charakter, welcher sich schon in der äußeren Form der Sprache, in den kurzen gereimten Versen der germanischen u. in den kunstvollen Strophen der romanischen Dichter zu erkennen gibt. Dennoch war die Poesie der romantischen Kunstepen nicht reine Reflexionspoesie, vielmehr durchdrungen von dem religiösen Gehalte der Zeit u. dem Geiste des christlichen Ritterthums In Italien hoben Tasso u. Ariost das ritterliche Kunstepos auf eine hohe Stufe poetischer Vollkommenheit. In Deutschland blühte die Ritterpoesie unter Wolfram von Eschenbach, Hartmann von der Aue u. Gottfried von Strasburg. Volksthümlicher zeigte sich das romantische E. in Spanien u. Portugal, dort in dem Romanzenycklus, welcher den Cid zum Gegenstande hatte, hier in den Lusiaden des Camoens. Während das E. sich auf der einen Seite der Lyrik näherte u. zu eleganten Versformen überging (Terzinen u. die achtzeilige heroische Strophe der Italiener), bereitete es auf der anderen Seite den Roman (s.d.) vor, die prosaische Erzählung von wunderbaren Fahrten u. Abenteuern, welche ritterliche Helden zu bestehen hatten, um die Huld einer schönen Frau zu erwerben od. die Hindernisse zu besiegen, welche dem Besitz derselben entgegenstanden. Biblische u. Legendenstoffe fanden ebenfalls eine epische Behandlung, so von Milton, später von Klopstock. Auch Dantes göttliche Komödie hat ein episches Gewand, obwohl der allegorische Inhalt sich dem Begriff des E. nicht wohl unterordnet. Nach dem Verblühen der mittelalterlichen Dichtkunst verlor sich der Geschmack am E. immer mehr. Wiederbelebungsversuche der romantischen Epen gingen von Wieland, Voltaire u. im 19. Jahrh. von Ernst Schulze, Byron, Tegnér u. Kinkel aus. Nach dem Beispiel des Romans wurden nun auch moderne u. frei erfundene Stoffe episch behandelt, auch die dem E. zu Grunde gelegte Fabel aus der Sphäre des bürgerlichen Lebens entnommen. Neben der Romanze (s.d.) u. Ballade ist die Poetische Erzählung die das E. ersetzende Dichtungsart der Neuzeit, von welchem sich noch eine besondere Gattung als episch-lyrische Dichtung abscheidet, welche sich aus einzelnen Gesängen, die bald den epischen, bald den Romanzen-, bald den rein lyrischen Liederton anschlagen, zusammensetzt.

C) Das Komische E. ist entweder geradezu eine Travestie heroischer Epen, wie Blumauers Äneide, od. es liegt ihm ein humoristischer Novellen- od. Mährchenstoff, wie in Waldmeisters Brautfahrt von O. Roquette, zu Grunde, od. es erfüllt den Zweck der Satyre, wie die Jobsiade, wobei es dann natürlich wenig auf die consequente Fortführung u. Abrundung der epischen Fabel ankommt.

D) Das Thierepos ist nur eine in Deutschland vorkommende Erscheinung, s. Thiersage.

E) Das Idyllische E. bildet den Gegensatz zum heroischen u. romantischen E., indem es an eine einfache Begebenheit die Schilderung der einfachen Verhältnisse des Hirten- u. Landlebens anknüpft. Größeren Anspruch auf epischen Charakter haben idyllische Dichtungen, welche, wie Goethes Hermann u. Dorothea, einen historischen Hintergrund haben (s. Bukolische Poesie u. Idyll).

F) Literatur über das Epos: Torq. Tasso, Dell arte poet. ed in particolare poema eroico, Ven. 1587; Bossu, Traité du poème épique, Haag 1744, 2 Bde. (deutsch Halle 1753); Fr. Zimmermann, Über den Begriff der E., Darmst. 1848.

Quelle: Pierer's Universal-Lexikon, Band 5. Altenburg 1858, S. 806-807. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20009870008


Götzinger, Reallexicon der Deutschen Altertümer 1885

[155] Epos ist wie für die übrigen indogermanischen Litteraturen, so auch für die deutsche die natürliche Dichtungsart der ältesten Periode; der besonderen Entwickelung der deutschen Litteratur und Bildung gemäss hat hier das Epos nach Form und Inhalt eine ganze Reihe von Entwickelungsstufen durchgemacht, bis es nach zähem Leben aufhörte oder einem neuen Kunstepos Platz machte.

1. Vom Epos der ältesten Zeit sind nur wenige Nachrichten und Überreste erhalten. Tac. Germ. 3 berichtet von Liedern, welche die alten Deutschen auf Herkules (Donar), Thuisko, Mannus und dessen Söhne gesungen hätten; sie besassen alte mythische Lieder und genealogische Lieder, die von den Ahnherren der Menschen und der besonderen Stämme erzählten. Über die Form dieser ältesten Lieder ist nichts erhalten; dass sie gesungen wurden, liegt im Wesen der ältesten Poesie, begleitet wurde das gesungene Wort mit der Harfe. Ohne Zweifel war die metrische Form hier schon die allitterierende; man erschliesst das besonders daraus, dass die Namen der Söhne des Mannus: Ingo, Isco und Jrmino, und ebenso andere Namen der nordischen und angelsächsichen Sage, Hengest und Horsa, Skyld und Skeaf allitterieren. Die Sänger gehörten keinem besonderen Stande an; es sang, wer die Gabe dazu besass (siehe den Artikel Dichter). Auch aus der Zeit unmittelbar nach der Völkerwanderung sind die Nachrichten über das germanische Lied spärlich; der Gote Jornandes berichtet 551, dass Lieder über die[155] Wanderzüge der Goten noch gesungen wurden, über den gefallenen Hunnenkönig Attila und ähnliches. Die ältesten erhaltenen Lieder sind die sog. Merserbuger Zauberlieder auf den verrenkten Fuss eines Pferdes und auf die Fesseln eines Kriegsgefangenen, das Hildebrandslied und der Anfang des Wessobrunner Gebetes. Noch Karl der Gr. liess eine schriftliche Sammlung der deutschen Heldenlieder, worin die Thaten und Lieder vorzeitlicher Könige gesungen wurden, aufzeichnen. 2. Das Epos im 9.–10. Jahrh. Hätte sich das deutsche Epos von fremden Einflüssen der Religion und Bildung ungestört entwickeln dürfen, so wäre ihm wohl mit der Entwickelung der Schreibekunst ein natürlicher Fortgang zur Epopöe auf den Grundlagen seiner alten Natur so gut als dem indischen und griechischen Epos vergönnt gewesen. Aber die Art und Weise, wie das Christentum in Deutschland auftrat, seine priesterliche Abneigung nicht bloss gegen die heidnische Religion, sondern gegen alles, was volksmässig und deutsch war, liess die Sammlung Karls d. Gr., die leider auch nicht erhalten ist, das letzte sein, was uns von den alten Liedern in echter alter Form überliefert ist. Hatte es doch der persönlichen Liebe Karls zu seiner angestammten Volksart bedurft, dass er überhaupt jene Lieder noch aufschreiben liess; schon lange vor ihm brachte die allein schreibkundige Geistlichkeit dem Volksgesang nicht bloss, wie es später in Skandinavien geschah, ihre Teilnahme nicht entgegen, sondern sie hasste und verfolgte die heimische Dichtung.

Dass sich zwar die allitterierende Form noch einige Zeit erhielt, beweist das dem 9. Jahrh. angehörige Gedicht Muspilli, der Heliand aus demselben Jahrhundert und die erst im 10. Jahrh. aufgeschriebenen Zauberlieder. Sonst trat jetzt an die Stelle der Allitteration der Endreim (siehe Reim), ein Wechsel im Geschmacke, der für sich allein der Fortdauer der alten Lieder in hohem Masse im Wege stand. Zwar vermittelte jetzt die kirchliche Bildung die Erscheinungen zweier Epopöen, des Otfriedischen Evangelienbuches und des Heliand, das erstere dem Einzellied insofern sich annähernd, als es sich aus einzelnen, zum Singen bestimmten Abschnitten zusammensetzt. Es sind Epopöen, insofern es geschriebene Dichtungen grösseren Umfanges sind, dem Umfang der Evangelien entsprechend, aber aus dem lebendigen Volksgesang sind sie nicht hervorgegangen, und spätere Wirkung ist von ihnen abgesehen von der Reimform Otfrieds, nicht ausgegangen.

Der von der neuen Bildung zwar nicht unterstützte, aber keineswegs ausgelöschte epische Volksgesang erhielt sich in den Händen fahrender Leute, Spielleute aus den unteren Ständen; diese bewahrten teils die alten Sagen von Dietrich von Bern, Siegfried, Attila, den Burgundern, nach ihrem roheren, den äusseren Thatsachen mehr als dem inneren Leben zugewandten Gehalte, dem durch das Christentum zumal die höhere religiöse Weihe entzogen worden war, teils sangen sie neue Lieder auf Ereignisse der Gegenwart, auf Erzbischof Hattos Verrat an Adelbert von Bamberg, 904, auf die Niederlage der Franken bei Heresburg, 915, auf die Wunderthaten des heiligen Ulrich, bis 973. Dass sogar in Klosterräumen, aber freilich nur in solchen, in welchen der Geist Karl d. Gr. noch fortlebte, wie in St. Gallen, die alte Volkssage noch überaus lebendig war, zeigt das Lied von Walther und Hiltgunt und der Ruodlieb, beide in lateinischer Sprache gedichtet, aber darum nicht minder deutsch empfunden und dargestellt. 3. Das Epos der höfischen Zeit.[156] Es war nicht das Christentum allein, das der alten Epik entgegenstand; was ihr den Lebensnerv nicht minder angriff, war der Übergang aus dem freien Volksstaat in den Lehnsstaat: die alten freien Sänger verschwanden mit dem freien Gesamtvolke, der Unterschied der unteren und oberen Stände drängte die volksmässige Bildung in den untern Stand zurück, und es ging Jahrhunderte lang, bis der obere Stand der Ritterbürtigen zu einer selbständigen Bildung emporwuchs. Als dies mit dem Beginn des 12. Jahrh. endlich geschah, trat auch eine neue Periode der epischen Dichtung ein. Voraus geht eine durch die Erneuerung des kirchlich-religiösen Lebens im 11. Jahrh. hervorgerufene Reihe geistlicher Dichtungen verschiedensten Stiles und Umfanges, eine wirkungslose Reaktion gegen die aufkommende weltliche Dichtung des höfischen Standes. Ihr folgen gleichzeitig die beiden Gattungen des volksmässigen Epos und des höfischen Kunstepos, beide in der Form geschriebener, künstlerisch wirksam ausgearbeiteter Epopöen, beide noch insofern an das alte Epos erinnernd, als die Dichter immer noch, wenigstens in der Regel, des Schreibens unkundig sind, also diktieren müssen, während von seiten der geniessenden Partei nicht gelesen, sondern einem Vorlesenden zugehört, wird. Woher das volksmässige Epos seinen Stoff schöpfte, ist mit Sicherheit nicht auszumitteln; er muss von fahrenden Sängern der unteren Stände erhalten worden sein, zumeist ohne Zweifel in dem vom höfischen Leben unberührten, noch mehr in alter Volkskraft und Volkserinnerung lebenden Norden Deutschlands; denn von hier wurden dieselben Stoffe im 13. oder 14. Jahrh. nach Skandinavien getragen und hier als Wilkina-Saga abgeschrieben. Aus Norddeutschland brachten Fahrende diesen Stoff nach Süddeutschland, als auch hier die Teilnähme dafür wieder erwachte. In Österreich, wo am Wiener Hofe französisches Wesen nicht ebenso ausschliesslich herrschte wie im Westen Deutschlands, sind dann von unbekannten Dichtern das Nibelungenlied, Gudrun und die übrigen Lieder des Heldenbuches entstanden (siehe diese Artikel), alle in der Form der Nibelungenstrophe oder Abarten derselben. Das höfische Kunstepos empfängt dagegen von Frankreich Anstoss, Stoff, Form, Auffassung, Umfang. Der Vers ist das Reimpaar, die Hauptstoffe Alexander, Äneas, Karl und seine Tafelrunde, Artus und seine Tafelrunde, Graal; daran schliessen sich byzantinische Stoffe, z.B. von Herzog Ernst, einheimische Rittersagen, z.B. Otto mit dem Barte, und durch die ganze Zeit hindurch natürlich Geistliches, mit Vorliebe die Legende.

Eine weitere Entwickelung hat das alte Epos kaum mehr gehabt. Mit dem Verfall der höfischen Bildung verfällt auch ihre Dichtung, für das nationale Leben ein schmerzlicher Verlust; wäre die angestammte Sage in ihrer mittelalterlichen Gestalt Eigentum des ganzen Volkes gewesen, es hätte sich wenigstens bis ins 16. Jahrh. retten mögen, vielleicht den Wechsel der Zeiten ganz überdauert; so aber war es Eigentum der Höfe und des Rittertums und ist mit diesen Elementen in dasselbe Schicksal mit hineingerissen worden. Dantes göttliche Komödie ist nur wenig mehr als 100 Jahre jünger, als das Nibelungenlied; während aber dieses schon im 15. Jahrh. vergessen war, lebt Dantes Dichtung noch heute. Bloss einzelne untergeordnete volksmässige Epen hatten sich bis in die Zeit des Buchdrucks gerettet und wurden von Bänkelsängern noch teilweise gesungen und geleiert. Manches, Deutsches sowohl als Französisches, kam als Prosaroman wieder auf den[157] Markt, wie der hürnene Siegfried, die vier Haimonskinder (siehe den Artikel Volksbücher). Wie seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. die ältere Litteratur wie der erweckt wurde und allmählich neue Keime trieb, gehört nicht hierher. Vgl. den Art. Heldensage.

Quelle: Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 155-158. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20002771365


Kirchner / Michaëlis: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe 1907

[184] Epos (gr. epos), eigentl. Wort, Rede, Gedicht, heißt die poetische Erzählung von wichtigen vergangenen Begebenheiten, die sich unter Menschen zugetragen haben. Der Dichter selbst tritt im Epos nur insofern, als die Erzählung sein Werk ist und die Worte seine Art und Kunst verraten, hervor, sonst bleibt er aus seiner Dichtung fort und erzählt die Begebenheiten, wie sie sich von selbst gemacht und zugetragen haben. Eingestreute Reflexionen im Epos, die der Dichter unmittelbar selbst gibt, sind unepisch und Stilfehler, die sich allerdings bei höfischen Dichtern des Mittelalters sehr häufig (z.B. bei Wirnt von Gravenberg) und bei Wieland (1733-1813) bis zum Überdruß vorfinden. In den vom Epos dargestellten Begebenheiten erscheint der Mensch zwar handelnd, aber mehr durch die feste Weltordnung gebunden und von der Gesamtheit getragen, als im Drama. Das Menschengeschick ist sein Geschick, er kann es nicht ändern und kämpft gegen dasselbe nicht an. Faustnaturen sind keine epischen Helden. Dagegen gehören Achilleus, Hektor, Siegfried, Gestalten, die ihr Geschick erfüllen, ins Epos. Das Bild der Begebenheiten ist im Epos ausführlich gehalten. Es treten viele Personen, Fürsten und ihre Völker, vornehme Führer und ihre Scharen, bedeutende Menschen und ihre Zeitgenossen auf. Die Erzählung durchläuft längere Zeiten und gliedert sich in eine Reihe von Einzelbegebenheiten. Sie verweilt gerne bei den einzelnen Gegenständen. Sie liebt den ruhigen Gang und Fortschritt und erschöpft oft das Einzelne, stillhaltend und verweilend, in allen seinen Momenten und Zügen. So ist Breite das Kennzeichen epischen Stils, dagegen straffe Spannung dem Epos fremd. – Die epische Poesie umfaßt drei Gattungen: a) das eine Idealwelt mit der wirklichen Welt verschmelzende, zweiweltige nationale Volksepos (Götter- und Heldenepos), b) das nachahmende, fremde Stoffe verarbeitende Kunstepos (römisches Epos, religiöse Epen des Mittelalters, höfische Epen, Legenden, Märchen) und c) das die Realwelt und den wirklichen Verlauf der Dinge darstellende einweltige moderne Epos (Roman und Novelle). Vgl. W. v. Humboldt, Über Goethes »Hermann und Dorothea«. 1799 (verfaßt 1797). Fr. Vischer, Ästhetik. Stuttgart 1857, III, 2, 5, §§ 865-883. Victor Hehn, über Goethes Hermann und Dorothea. Stuttg. 1893.[184]

Quelle: Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 5. 1907, S. 184-185. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20003581764


Epische Poesie (Brockhaus 1911)

[522] Epische Poesie, Dichtungsart, welche Begebenheiten als vergangen erzählend darstellt. Hauptgattung das eigentliche Epos, die Epopöe, das Heldengedicht, die einheitliche Darstellung einer um einen Mittelpunkt gruppierten Folge bedeutsamer Ereignisse, zerfallend in das aus der zusammenfassenden Bearbeitung einzelner Volkslieder hervorgehende, in der nationalen Heldensage wurzelnde Volksepos (Homers »Ilias« und »Odyssee«, das »Nibelungenlied«) und das von einem einzelnen Dichter geschaffene Kunstepos (Virgils »Äneis«, Wolframs »Parzival«); innerhalb des letztern unterscheidet man ferner das historische (Linggs »Völkerwanderung«), das romantische (Ariosts »Roland«, Wielands »Oberon«), das religiöse (Miltons »Verlorenes Paradies«, Klopstocks »Messias«) das idylische (Goethes »Hermann und Dorothea«, Voß' »Luise«), das satir. und komische Epos (Byrons »Don Juan«) das Tierepos (s. Tiersage). Kleinere Unterarten der E. P.: Ballade, Romanze, Idyll, Fabel, Legende. Zur E. P. gehört auch der Roman und die Novelle, die in neuerer Zeit an die Stelle des Epos getreten sind.

Quelle: Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon, fünfte Auflage, Band 1. Leipzig 1911., S. 522. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20001083147

Heroisch getichte (Opitz)

Im V. Kapitel seines Buches von der Deutschen Poeterey (1624) behandelt Martin Opitz die Einteilung der Dichtkunst in Gattungen, die er Genera carminis und arten der getichte nennt. Mehr: Gattungen_(Opitz)


Eine der von ihm aufgezählten Gattungen ist das "Heroisch getichte". Gemeint ist das (heroische) Epos im Sinne der antiken Dichtung (Homer, Vergil). Opitz schreibt:


Ein Heroisch getichte (das gemeiniglich weitleufftig ist / vnd von hohem wesen redet) soll man stracks von seinem innhalte vnd der Proposition anheben; wie Virgilius in den büchern vom Ackerbawe thut:


Quid faciat lætas segetes, quo sidere terram
Vertere, Mæcenas, vlmisque adiungere vites
Conueniat; quæ cura boum, qui cultus habendo
Sit pecori, atque apibus quanta experientia parcis,
Hinc canere incipiam.


Vnd ich (wiewol ich mich schäme / das ich in mangel anderer deutschen exempel mich meiner eigenen gebrauchen soll / weil mir meine wenigkeit vnd vnvermögen wol bewust ist) in dem ersten buche der noch vnaußgemachten [1] Trostgetichte in Widerwertigkeit des Krieges:


Des schweren Krieges last den Deutschland jetzt empfindet /
Vnd das Gott nicht vmbsonst so hefftig angezündet
Den eifer seiner macht / auch wo in solcher pein
Trost her zue holen ist / soll mein getichte sein


Nachmals haben die heiden jhre Götter angeruffen / das sie jhnen zue vollbringung des werckes beystehen wollen: denen wir Christen nicht allein folgen / sonden auch an frömigkeit billich sollen vberlegen sein. Virgilius spricht weiter an gedachtem orte:


               Vos, o clarissima mundi
Lumina, labentem coelo quæ ducitis annum,
Liber, & alma Ceres, &c.


Vnd ich:


Diß hab ich mir anjetzt zue schreiben fürgenommen.
Ich bitte wollest mir geneigt zue hülffe kommen
  Du höchster trost der welt / du zueversicht in not /
  Du Geist von GOtt gesandt / ia selber wahrer GOtt.
   
Gieb meiner Zungen doch mit deiner glut zue brennen /
Regiere meine faust / vnd laß mich glücklich rennen
   Durch diese wüste bahn / durch dieses newe feldt /
   Darauff noch keiner hat für mir den fuß gestelt.


Wiewol etliche auch stracks zue erste die anruffung setzen. Als Lucretius:


Aeneadum genetrix, hominum diuumque voluptas,
Alma Venus, &c.


Vnd Wilhelm von Sallust in seiner andern woche:


Grand Dieu, qui de ce Tout m'as fait voir la naissance,
Descouure son berceau, monstre-moy son enfance.
Pourmeine mon esprit par les fleuris destours
Des vergers doux-flairans, où serpentoit le cours

De quatre viues eaux: conte-moy quelle offence
Bannit des deux Edens Adam, & sa semence.


Gott / der du mich der welt geburt hast sehen lassen /
Laß mich nun jhre wieg' vnd kindheit jetzt auch fassen /
Vnd meinen Geist vnd sinn sich in dem kreiß' ergehn
Der gärte vol geruchs / hier wo vier flüsse schön'

Hinrauschen mitten durch: erzehl vmb was für sachen
Sich Adam vnd sein sam' auß Eden muste machen.


Doch ist / wie hier zue sehen / in der anruffung allzeit die proposition zuegleich begrieffen. Auff dieses folget gemeiniglich die dedication / wie Virgilius seine Georgica dem Keiser Augustus zuegeschrieben. Item die vrsache / warumb man eben dieses werck vor sich genommen: wie im dritten buche vom Ackerbawe zue sehen:


Cetera, quæ vacuas tenuissent carmina mentes,
Omnia, jam vulgata;


vnd wie folget. Dem ich in den Trostgetichten auch habe nachkommen wollen:


Das ander ist bekandt. wer hat doch nicht geschrieben
Von Venus eitelkeit / vnd von dem schnöden lieben /
   Der blinden jugendt lust? wer hat noch nie gehört
   Wie der Poeten volck die grossen Herren ehrt /

Erhebt sie an die lufft / vnd weiß herauß zue streichen
Was besser schweigens werth / lest seine Feder reichen
   Wo Menschen tapfferkeit noch niemals hin gelangt /
   Macht also das die welt mit blossen lügen prangt?

Wer hat zue vor auch nicht von riesen hören sagen /
Die Waldt vnd Berg zuegleich auff einen orth getragen /
  Zue stürtzen Jupitern mit aller seiner macht /
  Vnnd was des wesens mehr? nun ich bin auch bedacht

Zue sehen ob ich mich kan auß dem staube schwingen /
Vnd von der dicken schar des armen volckes dringen
  So an der erden klebt. ich bin begierde voll
  Zue schreiben wie man sich im creutz' auch frewen soll /

Sein Meister seiner selbst. ich wil die neun Göttinnen /
Die nie auff vnser deutsch noch haben reden können /
   Sampt jhrem Helicon mit dieser meiner handt
   Versetzen allhieher in vnser Vaterlandt.

Vieleichte werden noch die bahn so ich gebrochen /
Geschicktere dann ich nach mir zue bessern suchen /
  Wann dieser harte krieg wird werden hingelegt /
  Vnd die gewündschte rhue zue Land vnd Meer gehegt.


Das getichte vnd die erzehlung selber belangend / nimpt sie es nicht so genawe wie die Historien / die sich an die zeit vnd alle vmbstende nothwendig binden mußen / vnnd wiederholet auch nicht / wie Horatius erwehnet / den Troianischen krieg von der Helenen vnd jhrer brüder geburt an: lest viel außen was sich nicht hin schicken wil / vnd setzet viel das zwar hingehöret / aber newe vnd vnverhoffet ist / vntermenget allerley fabeln / historien / Kriegeskünste / schlachten / rathschläge / sturm / wetter / vnd was sonsten zue erweckung der verwunderung in den gemütern von nöthen ist; alles mit solcher ordnung / als wann sich eines auff das andere selber allso gebe / vnnd vngesucht in das buch keme. Gleichwol aber soll man sich in dieser freyheit zue tichten vorsehen / das man nicht der zeiten vergeße / vnd in jhrer warheit irre. Wiewol es Virgilius / da er vorgegeben / Eneas vnd Dido hetten zue einer zeit gelebet / da doch Dido hundert jahr zuevor gewesen / dem Keyser vnd Römischen volcke / durch welches die stadt Carthago bezwungen worden / zue liebe gethan / damitt er gleichsam von den bösen flüchen der Dido einen anfang der feindschafft zwischen diesen zweyen mächtigen völckern machte. Ob aber bey vns Deutschen so bald jemand kommen möchte / der sich eines volkommenen Heroischen werckes vnterstehen werden / stehe ich sehr im zweifel / vnnd bin nur der gedancken / es sey leichtlicher zue wündschen als zue hoffen.


Anmerkungen:

[1] unveröffentlichten


Ausgaben:

  • Martini Opitii Buch von der Deutschen Poeterey. David Müller: Breslau 1624 (Erstausgabe)
  • Herbert Jaumann (Hrsg.): Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe: Mit dem 'Aristarch' ( 1617) und den Opitzschen Vorreden zu seinen 'Teutschen Poetemata' (1624) ... zu seiner Übersetzung der 'Trojanerinnen' (Studienausgabe). Stuttgart: Reclam 2002