Lyrische Poesie (Hegel)

Aus Lyrikwiki



Hegel: Die lyrische Poesie

Für Hegel ist die Subjektivität die Grundlage der lyrischen Poesie. Ihre Darstellungsformen bestimmen sich aus innerer Empfindung und Anschauung heraus, das plastische Nachahmen der Realität tritt in den Hintergrund.

So nimmt der Dichter die äußeren Objekte in sich auf und durchdringt sie mit seiner Subjektivität. Gleichzeitig wird er seine dumpfen, inneren Empfindungen zu bewusster Anschauung erheben. Dabei darf sich die Versprachlichung der erfüllten Innerlichkeit nicht im zufälligen Ausdruck unmittelbarer Befindlichkeiten erschöpfen, sondern muss allgemein und nachvollziehbar sein. Nur so kann sich der Dichter zunächst von seinen unmittelbaren Empfindungen erleichtern, indem er sie poetisch formuliert, und sich dann diesen geäußerten Empfindungen wieder bewusster werden, da sie nun durch ihre poetische Form allgemeiner fassbar sind. Aber, wie erwähnt, auch die Objekte der äußeren Welt eignet sich der Dichter durch lyrische Poesie an, indem er nämlich die Objekte mit seiner Subjektivität auflädt und sie für sich bedeutend macht. Der Dichter macht also das, was innen und außen schon als an sich Seiendes vorhanden ist, zum für sich Seienden; die lyrische Poesie wird zur Weltaneignung.



Inhalt des lyrischen Werks

Angesichts des partikulären Subjekts, das sich in der lyrischen Poesie in Empfindungen, Situationen und Gegenständen bewusst wird, ist das Entwickeln einer objektiven, epischen Handlung zweitrangig. Dieses Prinzip rein subjektiver Besonderung erlaubt vielmehr eine unerschöpfliche Mannigfaltigkeit von möglichen Inhalten.

So kann eine Glaubensweise, eine Erkenntnis oder Lehrmeinung aus Religion, Kunst, Philosophie und Wissenschaft zum Inhalt des Gedichts werden. Diese sollte dann aber auch fähig sein, Vorstellung und Empfindung des Subjekts berühren.

Ebenfalls ist es möglich, eine besondere Situation zu thematisieren und mit einem allgemeinen Gedanken zu verknüpfen. Auf diese Weise drückt dann die Einzelsituation eine tiefere Einsicht in das Ganze aus, wie es z. B. in der Ballade praktiziert wird. (Vgl. auch: Goethes Symboldefinition)

Gleichermaßen kann der Inhalt des Gedichts auch ganz geringfügig und flüchtig sein. So können momentane Gefühlsregungen und spontane Einfälle durch lyrisches Aussprechen dauerhaft gemacht werden. Gerade eine solche überraschende Pointe oder ein zarter Gefühlshauch machen den besonderen Reiz der Lyrik aus.


Form des lyrischen Kunstwerks

Die Form des lyrischen Kunstwerks wählt das Individuum seinem Vorstellen und Empfinden gemäß aus. Je nach subjektiver Interessenlage können die Beschreibungen im Gedicht beinah willkürlich anfangen und abbrechen. Die Normen für den inneren Fortgang und Zusammenhang des Gedichts bestimmen sich aus der Gemütslage des Subjekts. Dabei kann ein Gedicht durchaus ans Epische grenzen, also Begebenheiten schildern, und dennoch seinen lyrischen Grundton bewahren. Denn es ist immer die Subjektivität, die im Vordergrund steht, und nicht die erzählte Begebenheit. Gattungsmuster dafür sind Epigramm, Romanze und Ballade.

Explizierter tritt das Subjekt in den sogenannten Gelegenheitsgedichten hervor. Hier ist es einzelnes Ereignis, das den Dichter zu poetischer Äußerung veranlasst, bzw. ist es ein einzelner Anlass, dessen sich der Dichter bemächtigt.

Genauso kann der Dichter aber auch auf äußere Anlässe verzichten und den Stoff aus seinem Innenleben schöpfen, also die Subjektivität selbst zum Kunstwerk machen. Beispiel hierfür ist die Anakreontik, die zwar äußere Begebenheiten schildert, jedoch ist die Empfindung Ausgangspunkt, welche in ein heiteres, austauschbares Bild gekleidet wird. Ebenfalls gehört das Volkslied hierher, in dem die Worte kaum mehr als Vehikel bestimmter Gefühle sind.


Standpunkt der Bildung, von welcher das Werk hervorgeht

Hegel zufolge sind für die lyrische Poesie jene Epochen die Günstigsten, in denen relativ geordnete Lebensverhältnisse herrschen, so dass die dichterischen Individuen die Muße haben, sich in ihrer Außenwelt zu reflektieren und bewusst zu werden.

Der Dichter muss also in der Lage sein, äußere Sachlichkeit angemessen subjektivieren zu können. Dabei darf er sich aber nicht von allen gesellschaftlichen Interessen und allgemeinen Anschauungen freimachen, um sich allein seiner Subjektivität hinzugeben. Dies würde nämlich, auf Dauer betrieben, zu schlechten und bizarren Gedichten führen. Ebenfalls muss das Gedicht, als ein kunstreicher Ausdruck, von gewöhnlichen Äußerungen unterscheidbar sein, wofür ein entsprechendes poetisches Vermögen des Dichters nötig ist.

Ferner ist zwischen der Volkspoesie (Volkslied) und der Kunstpoesie zu differenzieren.

In der Volkspoesie zeigt sich das Charakteristische einer Nation. Hier hebt der Dichter sein Subjekt nicht hervor, sondern verschmilzt mit dem Volksempfinden. Bewusste Selbstreflexion ist in solchen Gedichten noch nicht vorhanden.

Gegensatz dazu ist die Kunstpoesie, die sich ihrer Mittel bewusst ist. Sie bedarf des Wissens über ihre Produktionsweisen und der stetigen Übung ihrer Techniken, um Virtuosität zu erreichen.


(Beitrag von Axel Kannenberg aus einem Seminar an der Universität Greifswald, 2001)