Lehren und Lernen (Goethe)
Noch ein anderes Übel, wodurch Studierende sehr bedrängt sind, erwähne ich hier beiläufig. Professoren, so gut wie andere in Ämtern angestellte Männer, können nicht alle von einem Alter sein; da aber die jüngeren eigentlich nur lehren, um zu lernen, und noch dazu, wenn sie gute Köpfe sind, dem Zeitalter voreilen, so erwerben sie ihre Bildung durchaus auf Unkosten der Zuhörer, weil diese nicht in dem unterrichtet werden, was sie eigentlich brauchen, sondern in dem, was der Lehrer für sich zu bearbeiten nötig findet. Unter den ältesten Professoren dagegen sind manche schon lange Zeit stationär; sie überliefern im ganzen nur fixe [249] Ansichten, und, was das einzelne betrifft, vieles, was die Zeit schon als unnütz und falsch verurteilt hat. Durch beides entsteht ein trauriger Konflikt, zwischen welchem junge Geister hin und her gezerrt werden, und welcher kaum durch die Lehrer des mittleren Alters, die, obschon genugsam unterrichtet und gebildet, doch immer noch ein tätiges Streben zum Wissen und Nachdenken bei sich empfinden, ins gleiche gebracht werden kann.
Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. 6. Buch. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 9, Hamburg 1948 ff, S. 248f