Kleine Gattungen (Scherer)

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Was bleibt nun von kleinen Gattungen?

Das Sprichwort — entweder zeitlos oder erzählend: ein einzelner Fall.

So besonders das apologische Sprichwort: „sagte dieser“, „sagte jener.“ Höfer, Wie das Volk spricht (Stuttgart 1885).

Die Gnome: ebenfalls zeitlos oder erzählend.

Das Lehrgedicht: Vortrag.

Das Räthsel: halb dialogisch, weil es Einen, der es aufgiebt und Einen, der es löst, voraussetzt.

Das Epigramm kann die verschiedenartigsten Formen tragen. Es kann erzählend sein, kann gegenwärtig sein, d. h. etwas Gegenwärtiges erläutern u. s. w. Über das Epigramm ist wenig gehandelt. Hier müßte einmal gründliche Durchmusterung einiger großer Epigrammensammlungen eintreten. Bei Lessing ist Vieles mit behandelt, was gar nicht Epigramm ist.

Epigramm als Jnvective ist im 17. Jahrhundert verkürzte Satire genannt worden. Aber die Jnvective ist älter als die Satire: uralt ist das Spottlied.

Das Spottlied kann wieder episch sein, ja wird es meist sein in der alten Zeit: Erzählung komischer Thatsachen, die einem Menschen begegnet sind. Später auch präsentisch, gegen Zustände polemisirend.

Das Loblied kann ebenso entweder historisch oder auch präsentisch sein.

Trauerlieder desgleichen; episch.

Lieder der Aufforderung und des Wunsches: Hymnen, Gebete; flehende, wünschende Liebeslieder. Ferner Mahnungslieder, die gleichsam Reden an die Masse sind, predigtartig, zum Guten, zu Thaten ermunternd, zu Gesinnungen führend, tröstend, zur Freude auffordernd.

Zustandslieder: einen gegebenen Zustand abspiegelnd, sei es eine einzelne Situation, sei es Übersicht des Zustandes, und dann durch mehrere Situationen hindurchführend.

Das ist eine specifisch lyrische Sphäre, wo in Monolog oder Chorlied (oder Cantate) und im eigenen Namen Gegenwärtiges ausgesagt oder Künftiges gewünscht wird: wenn bei der Aussage von Gegenwärtigem und bei Wünschen der von Zukünftigem Redende von sich selbst spricht, von sich und seinen Zuständen aussagt oder seine Wünsche formulirt. Dies ist das Hauptgebiet der Lyrik: das Lied in der Welt der Wünsche, in Gegenwart und Zukunft.

Wogegen Gebet, Aufforderung etwas Dramatisches, Dialogisches haben; ebenso der Brief (Epistel, Heroide), der natürlich in sich sehr episch werden kann.

Und wogegen eine Prophezeihung etwas Episches hat: Künftiges, das sich hinter einander vollzieht, wird vorhergesagt; das ist im Grunde dasselbe, wie wenn von Vergangenem gesprochen wird.

So ist streng zu scheiden. Das eigenste Gebiet der Lyrik ist wesentlich die Abspiegelung eines Zustandes, wie er vorliegt, oder wie er mit Wünschen sich für die Zukunft vorbereitet.

Quelle:

5. Kapitel. Äußere Form. II. Dichtungsarten

Scherer, Wilhelm: Poetik. Hrsg. v. Richard M. Meyer. Berlin, 1888.