Hebräer (Goethe)

Aus Lyrikwiki



Hebräer.

Naive Dichtkunst ist bey jeder Nation die erste, sie liegt allen folgenden zum Grunde; je frischer, je naturgemässer sie hervortritt, desto glücklicher entwickeln sich die nachherigen Epochen.

Da wir von orientalischer Poesie sprechen, so wird nothwendig der Bibel, als der ältesten Sammlung, zu gedenken. Ein grosser Theil des alten Testaments ist mit erhöhter Gesinnung, ist enthusiastisch geschrieben und gehört dem Felde der Dichtkunst an.

Erinnern wir uns nun lebhaft jener Zeit wo Herder und Eichhorn uns hierüber persönlich aufklärten, so gedenken wir eines hohen Genusses, dem reinen orientalischen Sonnenaufgang zu vergleichen. Was solche Männer uns verliehen und hinterlassen darf nur angedeutet werden, und man verzeiht uns die Eilfertigkeit mit welcher wir an diesen Schätzen vorüber gehen.

Beyspiels willen jedoch gedenken wir des Buches Ruth, welches bey seinem hohen Zweck einem Könige von Israel anständige, interessante Voreltern zu verschaffen zugleich als das lieblichste kleine Ganze betrachtet werden kann, das uns episch und idyllisch überliefert worden ist.

Wir verweilen sodann einen Augenblick bey dem hohen Lied, als dem zartesten und unnachahmlichsten was uns von Ausdruck leidenschaftlicher, anmuthiger Liebe zugekommen. Wir beklagen freylich dass uns die fragmentarisch durcheinander geworfenen, übereinander geschobenen Gedichte keinen vollen reinen Genuss gewähren, und doch sind wir entzückt uns in jene Zustände hinein zu ahnden, in welchen die Dichtenden gelebt. Durch und durch wehet eine milde Luft des lieblichsten Bezirks von Canaan; ländlich trauliche Verhältnisse, Wein-, Garten- und Gewürzbau, etwas von städtischer Beschränkung, sodann aber ein königlicher Hof, mit seinen Herrlichkeiten im Hintergrunde. Das Hauptthema jedoch bleibt glühende Neigung jugendlicher Herzen, die sich suchen, finden, abstossen, anziehen, unter mancherley höchst einfachen Zuständen.

Mehrmals gedachten wir aus dieser lieblichen Verwirrung einiges herauszuheben, aneinander zu reihen; aber gerade das Räthselhaft-Unauflösliche giebt den wenigen Blättern Anmuth und Eigenthümlichkeit. Wie oft sind nicht wohldenkende, ordnungsliebende Geister angelockt worden irgend einen verständigen Zusammenhang zu finden oder hinein zu legen und einem folgenden bleibt immer dieselbige Arbeit.

Eben so hat das Buch Ruth seinen unbezwinglichen Reiz über manchen wackern Mann schon ausgeübt, dass er dem Wahn sich hingab, das, in seinem Laconismus unschätzbar dargestellte Ereigniss, könne durch eine ausführliche, paraphrastische Behandlung noch einigermassen gewinnen.

Und so dürfte Buch für Buch das Buch aller Bücher darthun, dass es uns desshalb gegeben sey, damit wir uns daran, wie an einer zweiten Welt, versuchen, uns daran verirren, aufklären und ausbilden mögen.



Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819. S. 248-250