Deutsche Lyrik (Herwegh 1840)

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Deutsche Lyrik.

Rheinisches Odeon. Herausgegeben von Ignaz Hub, Ferdinand Freiligrath und A. Schneller. Coblenz, 1839.

Unser einziger Musenalmanach! Der alte von Adalbert von Chamisso und Gustav Schwab ist mit dem ersten dieser Dichter gestorben und hat sein Leben, glaube ich, nur auf acht Jahre gebracht. Unsere Gleichgültigkeit gegen Institute dieser Art ist in der That unverantwortlich. Ach! wir haben auch so viel zu schaffen mit Dampfmaschinen und Eisenbahnen, mit diplomatischen Noten und Schweizer-Wirren — wo die Zeit hernehmen, einen Musenalmanach zu lesen? Wenn Denkmal um Denkmal ersteht für unsere großen Männer, und Geldbeiträge um Geldbeiträge eingefordert werden, — wie noch einen Thaler übrig behalten, um ein Büchlein harmloser Lieder kaufen zu können? Wir haben uns um die Todten zu bekümmern — was gehen uns die Lebendigen an? Und die Politik, die falsche Politik! Schlacht bei Nisib, Verrath Maroto's, die Zuckerfrage und der Großsultan, Ibrahim Pascha und Mehemed Ali — und man verlangt noch Aufmerksamkeit für lyrische Fliegen? Was will ein Schmetterling im Sturme?

Der Musenalmanach ist gestorben. Unsere geschäftige Nichtsthuerei, unsere Großartigkeit hat ihm den Todesstoß gegeben. Wir besaßen nicht einmal so viel Pietät für unseren dahingegangenen Sänger, den Sänger mit einem Herzen, wie nur noch eines in der Welt schlägt, das Herz Beranger's, wir besaßen nicht einmal so viel Pietät für Adalbert von Chamisso, um ein Unternehmen, das er mit so hingebender Liebe gepflegt, noch ein paar Jahre lang zu unterstützen. Wir sind zu weise, zu altklug geworden und jeden Augenblick bereit, unser Herz an unsern Kopf zu verrathen.

O über unsere klingenden Namen! Anastasius Grün, Nikolaus Lenau, Ludwig Uhland und wie sie alle heißen, keiner hat dem sterbenden Chamisso das Banner aus der Hand genommen, um, wie Ludwig Wihl im Telegraphen für Deutschland kürzlich so schön sich ausgedrückt, unsere neue nationale Zukunft, besonders auch die jüngern Namen, darunter zu versammeln. Das Grabgeläute im letztgenannten Blatte war das einzige, welches dem armen Musenalmanach zu Ehren bis jetzt erscholl. Es ist wahr, mancher Poet hat seine Windeier in den alten Musenalmanach gelegt, aber auch mancher Schwan das Tiefste seiner Seele darin gesungen. Unsere Lyrik ist und darf mit Recht unser Stolz sein, und es ist zu beklagen, daß wir einen solchen Vereinigungspunkt, wie der Musenalmanach gewesen, so schmählich haben zu Grunde gehen lassen. Ich verzeihe es unsern gefeierten Dichtern nicht, daß sie zu stolz waren, sich an die Spitze dieses Unternehmens zu stellen. War es doch so artig, die entgegengesetztesten Naturen hier unter einer Decke friedlich beisammenhausen, zuweilen freilich auch beisammenschlafen zu sehen!

Wir werden die Gefühle Deutschlands nun nicht mehr alljährlich mit der Leipziger Michaelismesse hübsch gebunden in Goldschnitt zu lesen bekommen, wohl aber hat sich ein Ersatzmann eingefunden, im Hauskleide und etwas dickleibiger. Ich meine das rheinische Odeon, als dessen Mitherausgeber sich Freiligrath nennt.

Freiligrath selbst brauche ich wohl nicht erst der Theilnahme der Nation zu empfehlen; wie sehr er sich bei derselben in Gunst zu setzen gewußt hat, beweist die so schnell erfolgte zweite Auflage seiner Gedichte. Man hat ihn bei uns aufgenommen, wie er es verdiente. Sein „ausgewanderter Dichter" ist die Perle der Sammlung, die wir hier besprechen. Schon der vorige Jahrgang des rheinischen Odeons enthielt Fragmente dieser Dichtung; auch im Morgenblatt erinnere ich mich vor ein paar Jahren Proben davon gelesen zu haben. Wie tief poetisch er seinen Vorwurf ausgeführt, zeigt am deutlichsten der Schluß des mitgetheilten Bruchstücks. Es ist dem Dichter in der Wildniß der Savannen keineswegs so froh zu Muthe, als er anfänglich sich geträumt hatte, und schmerzlich klagend ruft er in die Nacht hinaus:

Allein, allein! — und so will ich genesen?
Allein, allein! — und das der Wildniß Segen?
Allein, allein! o Gott, ein einzig Wesen,
Um dieses Haupt an seine Brust zu legen!

In meinem Dünkel hab' ich mich vermessen:
Ich will sie meiden, die mein Treiben schelten.
Mir selbst genug, will ich dies Volk vergessen;
Fahr' hin, o Welt — im Herzen trag' ich Welten!

Ein einzig Jahr hat meinen Stolz gebrochen;
Mein Herz ist einsam und mein Aug' ist trübe.
Es reuet mich, was frevelnd ich gesprochen;
Dem Haß entfloh ich, aber auch — der Liebe.

Allein, allein! — und so will ich genesen?
Allein, Allein! — und das der Wildniß Segen?
Allein, allein! o Gott, ein einzig Wesen,
Um dieses Haupt an seine Brust zu legen 

Bei Ludwig Wihl darf man immer gewiß sein, einen tiefen Gedanken zu finden; nur spielt ihm gerade seine Tiefe die schlimmsten Streiche. Er gestaltet seine Idee oft nicht concret genug und es entschlüpfen ihm dann und wann Ausdrücke, die das poetische Gefühl beleidigen:

Andre kann man leicht belehren,
Dachte ich, indeß die Flammen
Loderten ob mir zusammen
In den Kunst- und Wissenssphären.

Von andern bekannten Namen finden sich in diesem Bande die Namen Beckstein, Duller, Künzel, Gustav Pfizer, August und Adolph Stöber. Peter von Cornelius hat es nicht verschmäht, seinen edlen Namen beizugesellen; von Grabbe werden zwei Reliquien mitgetheilt, das eine aus der Hermannsschlacht, das andere Barbarossa betitelt. Barbarossa's rother Bart wächst, ohne daß er es merkt, schon Jahrhunderte lang durch den steinernen Tisch; die Weltgeschichte zieht an ihm vorüber, ohne daß er es der Mühe werth hält, zu erwachen. Sein beständiger Refrain ist: Laß mich schlummern und ächt grabbisch ruft er, als er erfährt, daß Conradin falle:

Laß den dummen Jungen fallen, 
Nicht einmal frühreif,
Wird er aus ahnenstolzer Blindheit
Frühalt.

Ubland scheint keine Saite mehr auf seiner Leyer zu haben. Wo sind aber Grün, Lenau, Mosen, Karl Beck geblieben? Warum haben sie nicht durch poetische Spenden zur Förderung eines so rühmlichen Instituts das Ihrige beigetragen? Ich habe mit Liebe diese literarische Erscheinung vor dem Publikum besprochen und wollte den Beweis liefern, daß ich das Tüchtige in keiner Gestalt verkenne; gegen die Lüge aber und Ueberlistung meines Volkes durch falsche Propheten zu kämpfen, wird mich nie Etwas abhalten können und Reclamationen in dieser Beziehung werden fruchtlos sein.

Gegenwärtig, wo die Lyrik so ohne alle Zuflucht ist und im Strudel buchhändlerischer Spekulationen beinahe unterzugehen droht, mag Manchem ein Plätzchen willkommen sein, wo er seine lyrischen Produktionen niederlegen kann; es wird demnächst die Monatschrift Braga (2ter Jahrgang) bei uns fortgesetzt werden, deren letzter Bogen ausschließlich für Gedichte bestimmt ist, und wir laden alle ächten Dichter unseres Vaterlandes freundlichst zur Mitwirkung ein. Am Schluß eines Jahres könte alsdann leicht aus diesen Beiträgen ein Musenalmanach gebildet werden.

Aus: Georg Herwegh, Frühe Publizistik • 1837—1841. Unter Leitung von Bruno Kaiser bearbeitet von Ingrid Pepperle Johanna Rosenberg Agnes Ziegengeist. Akademie-Verlag Berlin 1971, S. 45ff

Zuerst in Deutsche Volkshalle. Belle-Vue bei Constanz. Nr. 58 vom 14. März 1840, S. 231-232. Gez.: Herwegh.