Definition
Das Duden Fremdwörterbuch definiert
"genaue Bestimmung [des Gegenstandes] eines Begriffes durch Auseinanderlegung u. Erklärung seines Inhaltes"
Ein grundsätzliches Problem ergibt sich indes beim Versuch, literarische Begriffe zu definieren. Entweder geht man von einem außerhalb geschichtlicher Zusammenhänge existierenden "Wesen" aus. Das "Wesen" DER Lyrik wäre demnach vielleicht, Schulwissen des 19. oder 20. Jahrhunderts, das "punktuelle Zünden der Welt im lyrischen Subjekt". Die viel zitierte Formulierung geht auf Friedrich Theodor Vischer zurück, der 1857 über "Lyrik" schrieb:
"... sie kann das Object nicht entwickeln, nicht ausbreiten. Ist ihr zeitliches Element die Gegenwart, also der Augenblick, so ist in Beziehung auf ihren Verkehr mit den Gegenständen ihr Charakter die Punctualität; sie ist ein punctuelles Zünden der Welt im Subjecte: in diesem Moment erfaßt die Erfahrung dieses Subject auf diese Weise." [1]
Das leuchtet vielen ein und wird deshalb auch heute noch viel zitiert. Aber stimmt es? Das heißt, stimmt es wirklich für jeden Text, den wir als "Lyrik" auffassen? Auffällig ist am Zitieren, daß für gewöhnlich nur die sechs Wörter zwischen "punctuelles" und "Subjecte" zitiert werden, meist in modernisierter Schreibweise mit zwei "k".
Würde man den Zitatkontext erweitern, stellten sich vielleicht schneller Fragen ein. Es gibt kurze Gedichte und lange Gedichte. Ist The Waste Land von T.S. Eliot Lyrik? [2] Wenn man unter Lyrik eine der drei "Hauptgattungen" versteht, wie es jeder Schüler heute tut, wird man das kaum bestreiten können, denn es ist weder "Epik" noch "Dramatik". Mit der "Punctualität" ist es dann freilich so eine Sache – es ist ja relativ lang. Und geht es überhaupt um die subjektive Erfahrung eines Subjekts zu einem bestimmten Moment? Geht es nicht zum Beispiel in einer religiösen Hymne, wenn sie im Gottesdienst von vielen gesungen wird, um eine übersubjektive "Erfahrung" der Gemeinschaft der Gläubigen? Oder sagte man besser statt Erfahrung "Gewißheit", "Wahrheit", oder doch eher "Glauben"?
Kurz, wir haben es mit dem Problem der Möglichkeit von Definitionen geschichtlicher Gegenstände zu tun. Wenn der Begriff der Ode etwa von den alten Griechen aufgestellt wurde mit Merkmalen wie (feierliches) "Ansingen" eines "erhabenen" Gegenstands, kann man das vielleicht noch problemlos auf Oden Klopstocks anwenden. (Es könnte freilich schon hier sein, daß der überlieferte Begriff das Innovative eines neuen Texts verfehlt.) Was aber machen wir mit der Ode an die Zwiebel des chilenischen Dichters Pablo Neruda? In einer normativen Poetik sagt man dann: das ist gar keine Ode. Genauso hat man es oft getan. So schreibt der Dichter Johannes R. Becher in seiner Sonettlehre, man müsse zwischen Sonett und Vierzehnzeiler unterscheiden. Aber wer will das im Einzelfall festlegen? Nicht zufällig nannte man, was wir heute Rezensent nennen, früher "Kunstrichter". Wenn die Zeiten normativer Poetiken vorbei sind (das gilt im europäischen Kulturkreis ungefähr seit Klopstock), sollte man mit Definitionen vorsichtiger umgehen. Die Romantiker wußten das besser als Goethe (vgl. Definizion der Poesie (Friedrich Schlegel)). Schlegel scheint in diesem Fragment die Normativität noch zu akzeptieren. Friedrich Nietzsche aber zerstört auch hier bisherige Gewißheit:
"alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Definition; definirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat." [3]
In diesem Sinn sollen im Lyrikwiki Labor nicht (ein für allemal gültige) Definitionen Platz haben, sondern eher nacheinander und nebeneinander existierende Theorien. Die Theorie von Lyrik als "punktuellem Zünden" gibt es seit Vischer und bestenfalls in etwas anderer Fassung etwa seit Mitte des 18. Jahrhunderts. Auf deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts oder auf die Antike anwendbar ist sie nicht. Wort und Begriff "Lyrik" bei den alten Griechen oder Römern bedeuten etwas anderes als bei Martin Opitz und wieder anderes bei Goethe, Vischer, Brecht oder Eliot.
[1] Friedrich Theodor Vischer: Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen. Dritter Theil. Zweiter Abschnitt. Die Künste. Dritter Theil: Die Dichtkunst. Stuttgart: Carl Mäcken 1857, S. 1331.
[2] Ernst Jandl kennt das Problem:
ist das a) lyrik?
ist a) das lyrik?
a) ist das lyrik?
ist das lyrik a)?
In: Ernst Jandl: diskussion. In : Ders.: serienfuss. Luchterhand. Darmstadt 1974. S. 71.
[3] Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. II, 13.
- Ästhetik
- Vischer, Friedrich Theodor
- Nietzsche, Friedrich
- Gattungstheorie
- Goethe, Johann Wolfgang
- Schlegel, Friedrich
- Jandl, Ernst
- Eliot, T. S.
- Lyrikbegriff
- Hymne
- Sonett
- Neruda, Pablo
- Becher, Johannes R.
- Ode
- Klopstock, Friedrich Gottlieb
- Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen
- Diskussion
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- Zur Genealogie der Moral