Ann Cotten

Aus Lyrikwiki

Dieser Artikel behandelt Ann Cotten, eine fiktive (1) Figur aus dem 2010 im Suhrkamp Verlag erschienenen Buch „Florida-Räume“.

Für die Autorin siehe Cotten, Ann [1].



Ann Cotton ist die siebente in einer Reihe fiktiver Autoren, die auf ein Inserat „Mit Schreiben Geld verdienen?“ reagiert haben und deren Texte in dem Buch „Florida-Räume“ versammelt sind. Unter den zehn erfundenen Charakteren befinden sich auch Bettine, Bettines Mutter, Kraussers Clemens, Amun und Ein 200-kg-Tierfreund. Auffällig an der Figur Ann Cotten ist die Übereinstimmung ihres Namens mit dem der Autorin [2] des Buches. Bei ihren Zuschriften handelt es sich um Gedichte.


Die Figur

Einiges stellt sich einer lehrbuchhaften Charakterisierung in den Weg:

  • Ann Cotten ist keine literarische Figur innerhalb eines erzählenden Kontextes, tritt also nicht als handelnde und somit zu beobachtende Person in einem Prosa- oder Dramentext auf. Deshalb kann man sich ihr nur nähern, indem man die Sprachhaltung ihrer Gedichte untersucht. Aber inwiefern ist es möglich, vom Kunstprodukt auf den Produzenten zu schließen, vor allem, wenn dieser fiktiv ist?

Auf der anderen Seite könnte diese fiktive Autorin damit erreicht haben, was nur wenigen echten Dichtern gelingt: die vollständige Verschmelzung vom Künstler mit seiner Kunst oder auch: die absolute Reduktion des Autors auf den Text. „Ziel? Wegzugehen ins Wort.“, formulierte es einmal Klavki, ein Kieler Dichter


  • Jedem fiktiven Dichter in diesem Band „Florida-Räume“ wird eine kurze Vorstellung vorangestellt. Für gewöhnlich werden bei Charakterisierungen auch die Äußerungen, die Reaktionen, das Verhalten von anderen Personen herangezogen, um etwas über die Figur zu erfahren - hier etwa vom ebenfalls fiktiven Herausgeber. Seine Sätze für eine Charakterisierung Ann Cottens zu nutzen ist jedoch problematisch:

Bleibt man innerhalb des fiktiven Rahmens, so lässt sich sein Beitrag nur als Sekundärquelle gebrauchen – er reflektiert aus einer bereits distanzierten Lese-Perspektive über das selbe Wortmaterial, das der Leser ebenfalls zu untersuchen hätte. Es bliebe nur die Möglichkeit, ihm zu widersprechen oder zuzustimmen, er eignet sich als Rezipient jedoch wenig zur Komplettierung des Charakters Ann Cotten, kennt er sie doch so wenig persönlich wie der Leser – sondern auch nur über die eingereichten Gedichte. Verlässt man den Rahmen jedoch und betrachtet beide fiktive Figuren als Produkt einer Autorin, muss man den Herausgeber insofern ernst nehmen, als er als Hinweis- und Stichwortgeber von der Autorin bewusst platziert worden ist(2). Er kann doch mehr „wissen“ als der Leser und sei es nur in seiner Tätigkeit der Selektion, denn: wer ernsthaft über eine Ausstellung reden will, muss immer den Teil bedenken, der nicht ausgestellt wird. Wie sollte man sonst Auswahl erkennen? Wenn man das wörtlich nimmt, lässt sich feststellen, dass Ann Cotten die Autorin ist, deren Gedichte unter den „etwa sieben Prozent“ (S.9) der brauchbaren Texte (nach Meinung des Herausgebers) zu finden sind – sie zeichnen sich demnach aus gegenüber einer dem Leser unbekannten, großen Masse abgelehnter Zuschriften. Zweitens behauptet der Herausgeber, dass Begleitschreiben aller Autoren von einer Kollegin F vernichtet wurden, weil jeder (somit auch Ann Cotten) „seine Methode gefunden [hatte], sich und sein Werk zu verraten“ (S. 19).

Wir lesen von der fiktiven Dichterin also nicht einmal alles, was sie selbst geschrieben und veröffentlichen wollte – demnach wieder nur eine Auswahl. In der Einführung wird Ann Cotten als eine Lyrikerin vorgestellt, die sich selbst klein macht, nichts wagt und wartet, zagt und zaudert, flüchtet, keinen Mut hat, sich gehen lässt und gelegentlich mit dem All in Kontakt tritt (S. 203).

- Wie eingangs erwähnt ließe sich eigentlich nur anhand der Sprachhaltung etwas über Ann Cotten aussagen. Aber von einem einheitlichen Stil lässt sich zunächst gar nicht sprechen, zumindest nicht formal. Die elf abgedruckten Gedichte unterscheiden sich wesentlich voneinander in Strophenaufbau, Länge, Reim, Rhythmus, Satzzeichen- und Fremdsprachenpräsenz, Titelexistenz, Syntax … etc. Man gewinnt den Eindruck, es handele sich hier bei manchen um Parodie- oder Pasticheversuche (3), je nachdem, wie lächerlich oder ernst eine bestimmte Gedichtart vorgeführt wird; bzw. es werden bewusst misslungene oder unfertige Gedichten gezeigt. Zuweilen glaubt der Leser, einen bestimmten Dichter ganz deutlich aufblitzen zu sehen, zum Beispiel aus dem Forum der 13(4).

Dennoch lassen sich auch gedichtübergreifende Merkmale beobachten, die sich vielleicht als Cotten-Stil bezeichnen ließen: Ein Faible für lange, über Strophen hinweggehende, häufende Sätze; eine jugendhafte Verknappungstendenz, also der Trend etwas äußerst salopp auszudrücken („Nietzsche ist super, wenn man oben ist.“, „Wörter ich mag sie nicht/ besonders.“), abzukürzen (Gedichte: „mit Zeilen und so“) oder im sich oft wiederholten „und so“ aufzusummieren. Starker Gebrauch von Umgangssprache, ein häufig präsentes, betrachtendes Ich, eine coole Unverbindlichkeit zu den Dingen, Understatement.


Ann Cotten – fiktiv oder nicht?

Inwieweit Autorin und Figur deckungsgleich sind, bleibt eine wichtige Frage.

Im Forum der 13 [3], dessen Mitglied die „echte“ Autorin gewesen ist, findet sich ein Beitrag [4] von René Hamann am 15. August 2006, in dem Ann Cotten folgendermaßen zitiert wird:

"Ich wurde nach "am besten etwas Autobiographischem" gefragt & stelle, etwas ratlos, im folgenden einen Minisampler zusammen, der zur Darstellung meiner Person & meines Schreibens geeignet erscheint.

(...)

AUF FÜHLSONDAGE MIT DEM WELTALL / EINWÄHLEN

wiegen (tch, tch) und nicken und (tch)

so (tch) weiter, nicht? (tch tch tch) wie genau

ich (tch) und du und das (tch tch) der (tch)

der Straße und (tch) Müllabfuhr, Kühlschrank

(tch tch tch tch) und alles was Lärm macht

(tch tch tch tch) und Bier (tch) auch wir

(tch tch tch tch) syntaktisch Syntax, sehr be-

(tch) kloppt (tch) und ich (tch) mich verlöre,

wer (tch) sich gehörte, nicht? (tch) hörte (tch

tch tch tch tch) ihr schreiben wäre (tch) wie ich (tch)

froh dass es vorüber (tch tch tch tch)"

Das ist das selbe Gedicht, ohne Änderungen, dass auch die Figur Ann Cotten in „Florida-Räume“ veröffentlicht hat. Heißt das, fiktive Autorin und Autorin des Buches müssen doch in eins gesetzt werden?


Die Distanzierung als ästhetischer Freiheitsbeweis?

Von der Prosa weiß man, dass Autoren seit einigen Jahrhunderten immer wieder neue Mittel gefunden haben, ihr Werk in Distanz zu sich selbst zu setzen, um es umso mehr als Kunst zu kennzeichnen (nach dem Motto: je entfernter das Produkt vom Menschen, desto kunst) – zwischen Ann Cotten und Ann Cotten (Autorin) gibt es einige Distanzierungsschritte. Die Frage ist: wieso? (Mögliche Erklärungen folgen später)


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(1) Siehe: Ann Cotten - fiktiv oder nicht?

(2) Womöglich ist er der wichtigste Protagonist des Buches – denn an ihm wird Reflexionsvermögen, Urteilskraft und Selektionsverhalten eines Herausgebers demonstriert, vielleicht gar in kritischer Absicht der Autorin.

(3) Man könnte auch sagen, was Bertram Reinecke hier [5] als Gesicht des Gegenwartsgedichts beschreibt, zeigt Ann Cotten in „Florida-Räume“.

(4) Um die Zeit, als Ann Cotten im Forum der 13 aktives Mitglied war, fanden sich im Netz wiederholt abgewandelte Varianten von Gedichten anderer Mitglieder. Die Namen und Gedichttitel wurden leicht verfälscht (Klavki zu Klapsi, sein Gedicht „Meine Stadt“ zu „Keine Slut“, etc.) aber gaben einen deutlichen Hinweis darauf, wer hier parodiert wurde. Leider sind diese Gedichte aus dem Netz verschwunden, aber man munkelt, dass sie von Ann Cotten geschrieben wurden und sie sich damals schon in dieser Technik geübt hat. Dass es Unstimmigkeiten im Forum gab, ist bekannt. Beweisen lässt sich nichts, nur intensive Lektüre lässt erahnen. Die sei jedem selbst überlassen.