Warnung vor Ismen (Enzensberger)

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Warnung vor Ismen


Leblos und verfestigt wirken manche der Begriffe, mit denen die Wissenschaft von der Literatur der Vielfalt der modernen Poesie begegnet. Die Dichter selbst haben sie erfunden, nicht immer aus den besten Gründen, nicht selten aus Taktik, aus Bequemlichkeit, ja aus Versehen. Vom Futurismus bis zum Tremendismus, vom Vortizismus bis zur poésie concrète umfaßt die Liste der „Bewegungen“ gut zwei Dutzend Namen. Viele davon werden in Seminaren und Literaturgeschichten bis auf den heutigen Tag für bare Münze genommen. Hier wäre zum Mißtrauen zu raten. Der diagnostische Wert dieser Stichmarken ist gering. Sie trüben den Blick aufs Einzelne, in dem sie es einer Doktrin unterwerfen; dem Blick aufs Ganze sind sie im Weg, indem sie ihn auf rivalisierende Gruppen ablenken, die übrigens meist an ihren eigenen Sprachkreis gebunden sind.


Aus: Hans Magnus Enzensberger, Vorwort [in späteren Ausgaben Nachwort] der Anthologie "Museum der modernen Poesie", Frankfurt/ Main: Suhrkamp 1960. (Ausschnitt in der Ausgabe von 1980 und öfter (Suhrkamp Taschenbuch) in Band 2, S. 768)


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