Lied

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Wolff, Poetischer Hausschatz des deutschen Volkes (1844)

"Der Charakter des Liedes gründet sich auf die Darstellung eines einzigen bestimmten, bestimmt ausgesprochenen Gefühls unter der Einheit einer möglichst vollkommenen ästhetischen Form, welche für den Gesang geeignet seyn muß. Jene Empfindung nun nach seinen verschiedenen Richtungen und Eigenschaften hin ausgesprochen, bildet den Stoff oder Inhalt des Liedes, und mit ihm muß der Ton, d.h. die Art und Weise der Behandlung und des dichterischen Vortrages in genauer Uebereinstimmung stehen."

Es kann sich über alle Gegenstände des inneren u. äußeren Lebens erstrecken. Geläufige Einteilung: Geistliche / weltliche Lieder.

Ernst Kleinpaul, Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst, 1843

I. Das Lied.


{Einfachheit}

§. 119. Das Lied drückt in einer einfachen, aber möglichst vollendeten und für den Gesang geeigneten Form eine einzelne, bestimmte Empfindung aus. Einfachheit in jeder Hinsicht ist das wesentliche Erforderniß aller Gedichte, die den Namen Lied beanspruchen. Gewöhnliche Lebensverhältnisse und Ereignisse, überhaupt Gegenstände, die dem Gemüthe nahe liegen, werden die Anknüpfungspunkte der zu schildernden Empfindung bilden. Und diese Empfindung, wenn auch nach verschiedenen Beziehungen hin ausgesprochen, wird (in Rücksicht dieser Beziehungen) doch eine harmonische, ihr Erguß ein natürlicher, ruhiger, sanfter sein.

§. 120. Wie die Empfindung selbst, so muß auch der Ausdruck derselben sich durch Einfachheit charakterisiren. Das Gefühl, nicht die Jdee hat im Liede die Herrschaft; deshalb werden Gehalt und Gang der Gedanken, so wie die gebrauchten Bilder der gewöhnlichen Sphäre des Menschenlebens gemäß sein. Daß diese Forderung nur bei einer durchaus ungekünstelten, einfachen, aber nichts desto weniger vollendeten Form ihre befriedigende Lösung finden kann, ist an sich klar, wir beschränken uns deshalb in dieser Hinsicht auf folgende Bemerkungen: Der Umstand, wonach das Lied zugleich (oder vorzugsweise) für den Gesang mit bestimmt ist, macht nicht nur die strophische Abtheilung der Verse nothwendig, sondern auch die vollständige, metrische Uebereinstimmung der correspondirenden Verse mindestens wünschenswerth. Nur Abweichungen sehr unbedeutender Art sind in einzelnen Fällen hier zulässig.


{Versmaß}

§. 121. Wie der äußere Bau der Verse, so nimmt auch der innere Charakter derselben des Dichters volle Aufmerksamkeit in Anspruch, mit andern Worten, das Versmaaß muß möglichst dem Jnhalt des Liedes gemäß gewählt werden. Bestimmte Vorschriften und ausschließende Bestimmungen lassen sich hierüber zwar nicht aufstellen; doch möchte im Allgemeinen Folgendes maaßgebend sein: Sanften, weichen Gefühlen, namentlich aber Empfindungen der Trauer entsprechen am meisten der dreifüßige und der fünffüßige Trochäus, während der vierfüßige Trochäus sich mehr für kräftige, ernste und für Gefühle der Sehnsucht eignet.

Entschlossenheit, Muth, Freude sprechen sich in vierfüßigen, naive, tändelnde Gefühle in zwei- und dreifüßigen Jamben, Heiterkeit, gesellige Fröhlichkeit in längern jambischen oder in jambisch-anapästischen Versen aus. Auch trochäisch-daktylische Verse werden oft mit gutem Erfolg für den Ausdruck gesteigerter Freude gebraucht.


{Reim}

§. 122. Endlich fordert auch der Reim seine sorgfältige Beachtung. Wie wir schon oben (§. 65) bemerkt haben, kann das Lied denselben nur schwer entbehren. Wir finden ihn -- mit sehr wenigen Ausnahmen -- in allen deutschen Liedern. Und nicht mit Unrecht. Der Reim verleiht dadurch, daß er gleichsam schon eine Composition des Liedes bildet, demselben einen wundersamen Reiz; er vermag vorzugsweise die vollendete Harmonie der geschilderten Gefühle zu charakterisiren. Denn gerade im Liede lassen sich alle die, oben angedeuteten (möglichen) Schönheiten des Reimes am besten und vollständigsten entwickeln, alle die Wirkungen, die man durch denselben bezwecken kann, am leichtesten erreichen. Darum wird der Dichter immer auf die entsprechendsten, schönsten Reime vorzugsweise beim Liede bedacht sein müssen. Reimkünsteleien passen aber zu dem Charakter des Liedes eben so wenig, als künstliche und zusammengesetzte Versmaaße. Nur in naiv-komischen Gedichten dieser Art ist so etwas zuweilen mit guter Wirkung zu brauchen.


{Religiöse und weltliche Lieder}

§. 123. Die Lieder zerfallen nach ihrem Jnhalt zunächst in zwei Hauptklassen, in religiöse oder geistliche und in sogenannte weltliche Lieder.

§. 124. Das religiöse Lied schildert immer Gefühle, wie sie aus dem Bewußtsein unseres Verhältnisses zu Gott entspringen. Da dies Verhältniß nach den verschiedensten, rein menschlichen oder dogmatischreligiösen Lebensbeziehungen hin aufgefaßt werden kann, so lassen sich wieder verschiedene Arten religiöser Lieder unterscheiden, z. B. Bußlieder, Danklieder, Bittlieder u. a. Wird das religiöse Lied bei dem kirchlichen Gottesdienst angewendet, so heißt es Kirchenlied.


§. 125. Weltlich nennt man ein Lied, wenn in ihm die Beziehung auf Gott nicht heraustritt, sondern gewöhnliche Lebensverhältnisse oder Gegenstände der sichtbaren Welt die Basis der geschilderten Gefühle bilden. Die meisten weltlichen Lieder haben die geschlechtliche Liebe zum Gegenstand; andere beziehen sich auf die geselligen Verhältnisse der Menschen; andere auf Zustände oder Ereignisse, oder auf bedeutende Personen des Vaterlandes; noch andere endlich basiren auf Gegenstände oder Erscheinungen der Natur. Danach kann man die weltlichen Lieder eintheilen in Liebeslieder, Gesellschaftslieder, Vaterlandslieder und Naturlieder. Einer dieser vier Arten werden sich die meisten Lieder unbedingt zuweisen lassen; nur bei einigen wenigen wird dies nicht der Fall sein.

{Liebeslieder}

§. 126. Die Lieder, deren Gegenstand die Liebe ist, werden auch erotische (von Eros, dem Gott der Liebe) genannt. So unermeßlich groß die Menge der erotischen Lieder, so ansehnlich selbst die Zahl der ausgezeichneten unter denselben ist, so wird doch auch ferner die Liebe immer Hauptgegenstand des Liedes bleiben. Wie sie, als die Poesie des Lebens, dieses verschönert und verherrlicht, so wird sie auch fort und fort dem Dichter ein unversiegbarer Quell der schönsten, herrlichsten Ergüsse sein.

{Gesellschaftslieder}

§. 127. Diejenigen Lieder, deren Gegenstand die geselligen (doch nicht die staatsbürgerlichen!) Beziehungen der Menschen unter einander sind, fassen wir unter dem Namen Gesellschaftslieder zusammen, da uns dieser der entsprechendste scheint. Je nach ihrer besondern Tendenz erhalten die Gesellschaftslieder verschiedene Namen, z. B. Lieder der Freundschaft, Trinklieder, Wanderlieder u. s w.


Anmerkung. Hierbei erwähnen wir auch die anakreontischen Lieder. Man gab im vorigen Jahrhundert denjenigen Gedichten diesen Namen, die nach den Vorbildern des griechischen Dichters Anakreon (zur Zeit des Cyrus) frohen Lebensgenuß in naiver, leichter und gefälliger Weise aussprechen. Gleim so wenig, als die andern sogenannten Anakreontisten haben aber ihr Vorbild erreicht. Heut zu Tage braucht man den Namen nicht mehr, wiewohl die neueste Zeit reich genug an solchen Liedern ist, die denselben mit vollem Recht verdienen.


{Vaterlandslieder}

§. 128. Unter dem Namen Vaterlandslieder fassen wir alle diejenigen Lieder zusammen, in denen Ereignisse oder Zustände oder (Beziehungen auf) bedeutende Personen des Vaterlandes die Basis der geschilderten Gefühle bilden. Sonach gehören in diese Rubrik die Kriegs- und Freiheitsgesänge (Vaterlandslieder im engern Sinne), die sogenannten politischen Lieder und diejenigen Gelegenheitsgedichte, welche bei festlichen Veranlassungen fürstlichen Personen überreicht werden oder als Ausdruck der Gefühle für dieselben dienen sollen. Die bei weitem größte Zahl dieser Lieder hat zugleich den Zweck, die Vaterlandsliebe, die Theilnahme an vaterländischen Jnteressen zu wecken oder zu steigern. Es ist jedoch nicht genug, daß diese Tendenz heraustrete, ja auch nicht genug, daß das Gedicht Begeisterung athme, vielmehr ist vor allem nöthig, daß ihm der poetische Gehalt nicht mangele. Dieser allein bestimmt seinen wahren Werth. Das haben gar manche unserer Vaterlandsdichter viel zu wenig bedacht. Wir wollen schweigen von dem seichten Gehalt, von der oft in jeder Hinsicht bejammernswerthen Armseligkeit, welche die bei weitem größte Zahl derjenigen Lieder zeigt, die bei feierlichen Veranlassungen den Fürsten überreicht, die bei Vaterlandsfesten in die Zeitungen gerückt oder an der Tafel gesungen werden -- sie sind für einzelne Tage und einzelne Zwecke bestimmt und gemacht und haben für die Literatur keine oder doch nur sehr geringe Bedeutung. Aber tief beklagen müssen wir es, wenn auch in den Kriegs- und Freiheitsliedern, und in den "politisch" zubenannten Gedichten die Poesie von der Tendenz in den Hintergrund geschoben, oder gar erdrückt ist, wie es leider! bei gar vielen der Fall ist.


Ja leider! hat man der Poesie gar häufig nur das schöne Gewand gestohlen, um die Nüchternheit seiner patriotischen Gefühle dadurch zu verdecken! leider schlägt mancher Vaterlandsdichter, indem er die Ketten zu lockern, die Fesseln zu lösen sucht, in welche man das Vaterland in dieser oder jener Hinsicht geschlagen, die freie Göttin Poesie, die Herrin, nicht Sklavin sein soll, selbst in Ketten, damit die, an sich prosaische, Tendenz allein das Regiment führe. So soll es, so darf es nicht sein! Der Ausdruck patriotischer Gefühle muß ein durch und durch poetischer, die besondere Tendenz des Liedes muß von der Poesie getragen, gehoben, verklärt sein.


§. 129. Es ist in neuester Zeit viel hin- und hergestritten worden, ob die Politik in den Kreis der Poesie gehöre oder nicht? Wir finden es inconsequent und lächerlich, wenn man die Antwort unbedingt verneinend ausfallen läßt. Kriegsliedern hat man, unsers Wissens, die poetische Zulässigkeit noch nicht abgesprochen. Sind aber Kriegslieder im Grunde etwas anderes, als politische Lieder? Oder soll unsere Vaterlandsliebe sich nur auf das Departement des Auswärtigen und das des königlichen Hauses erstrecken? Soll das, was alle Gemüther eines ganzen Landes bewegt (oder doch alle bewegen sollte!) nicht passender Stoff poetischen Ergusses sein? Wir beklagen es mit allen Besonnenen, wenn im politischen Liede eine gehässige Bitterkeit, persönliche Gereiztheit sich kund giebt; uns ekelt forcirter Patriotismus an, trage er nun die blutige Farbe der Empörung oder die graue des Servilismus; wir sind nicht gemeint, (wie einer unserer neuesten politischen Dichter,) daß allen denjenigen Dichtern Gesinnungslosigkeit beizumessen sei, die in unserer politischen Zeit von etwas anderem singen, als von Politik; -- aber wir freuen uns, wenn das Jnteresse des Tages ächte poetische Ergüsse veranlaßt, wir freuen uns, wenn wir nicht bloß von Waldvögelein und Mondenschein, von Liebespein und Liebeslust singen, sondern auch den Ton männlicher Gesinnung anstimmen hören, der das Herz kräftigt und die Entschiedenheit fördert.

{Naturlieder}

§. 130. Die Naturlieder sprechen entweder die Gefühle aus, welche Gegenstände oder Erscheinungen der Natur im Gemüthe hervorrufen, oder sie schildern diese Gegenstände und Erscheinungen selbst, oder sie lassen das Gemüth betrachtend bei denselben verweilen, oder sie sind endlich allegorischen Charakters.

{Volkslieder}

§. 131. Hat ein weltliches Lied eine weite Verbreitung im Volke gefunden, wird es von demselben gern und viel gesungen, so nennt man es Volkslied. Viele der Volkslieder (man kann sagen die Volkslieder im engern Sinne überhaupt) sind aus der Mitte des Volkes hervorgegangen und gehören also der Naturpoesie an (siehe §. 1, Anmerkung). Produkte der Kunstpoesie werden nur dann zu Volksliedern werden, wenn sie der Bildungsstufe des Volks entsprechen, also im Volkstone gehalten sind und wenn sie des Volkes Jnteressen auf eine ihm zusagende Weise berühren.


{Liederdichter}

§. 132. Das Lied, das wohl überhaupt bei allen Völkern bis in die früheste Zeit ihrer Bildung hinaufreicht, ist auch in Deutschland schon frühe angebaut worden. Es liegt außer dem Kreise unserer Darstellung, eine Geschichte des deutschen Liedes zu geben; wir führen hier nur die Namen der ausgezeichnetsten unserer Liederdichter an.(*) Jm religiösen Liede zeichneten sich aus: Luther, Nicol. Hermann, Ringwald, Joh. Herrmann, Rist, Paul Gerhardt, J. Angelus (Scheffler), Joach. Neander, Arnold, Neumark, Schmolke, Gellert, Klopstock, Uz, Cramer, Lavater, Zinzendorf, Herder, Novalis (Hardenberg), Albertini, Falk, Alb. Knapp, Spitta, Garve.


Unter den Dichtern weltlicher Lieder nehmen Walther v. d. Vogelweide, M. Opitz, P. Flemming, S. Dach, Günther, Hagedorn, Gleim, Jacobi, Herder, Bürger, Fr. Stollberg, Voß, Claudius, Göthe, Schiller, Schubart, Matthisson, Salis, Hölty, A. W. Schlegel, F. Schlegel, Tieck, Fouque, Arnim, Hebel, Schenkendorf, Körner, Arndt, Uhland, Rückert, Schwab, W. Müller, J. Kerner, Mayer, Eichendorff, Chamisso, Platen, Heine, Hoffmann, A. Grün, Lenau, Freiligrath, Beck, Seidl, Herwegh, E. Geibel, Wolfg. Müller &c. eine vorzügliche Stelle ein.

(*) Anmerkung. Wir bemerken hier ein für alle mal, daß wir bei solchen Hinweisungen auf die Literaturgeschichte in der Regel vorzugsweise die letzten hundert Jahre berücksichtigen und daß eine erschöpfende Vollständigkeit nicht in unseren Absichten liegen kann.

Aus: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht bearbeitet und mit Hinweisungen auf die Gedichtsammlungen von Echtermeyer, Kurz, Schwab, Wackernagel und Wolff versehen von Ernst Kleinpaul, Lehrer an der höheren Stadtschule in Barmen. Barmen: W. Langewiesche, 1843, S. 83-91

http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/kleinpaul_poetik_1843

Herder, Volkslied, Zweiter Teil. Vorrede 1778/79

Das Wesen des Liedes ist Gesang, nicht Gemälde: seine Vollkommenheit liegt im melodischen Gange der Leidenschaft oder Empfindung, den man mit dem alten treffenden Ausdruck: Weise nennen könnte, (-) Lied muß gehört werden, nicht gesehen"


Pierer's Universal-Lexikon

Lied

[365] Lied,

1) ursprünglich Strophe; ist schon in frühester Zeit

2) Dichtung u. unterschied sich von Leich so, daß das L. aus Strophen einer u. derselben Art, der Leich aus Strophen verschiedener Art gebildet ist. Da die deutsche Dichtung vor dem 12. Jahrh., wenn auch nicht immer rein epischen Inhalt, doch die Form u. Farbe der Erzählung hatte, so blieb auch der Ausdruck L. während der althochdeutschen Zeit in der Hauptsache auf das epische L. beschränkt; obgleich daneben fröhliche u. leichtfertige Lieder erwähnt werden, die in den Häusern, auf den Gassen u. im Freien, bei Schmausereien, Spielen u. fröhlichen Festen gesungen wurden, ferner Spottlieder (schon 744 verboten), Zauberlieder u. Zaubersprüche (wie die Merseburger Gedichte) u. Wiegenlieder (wie das 1859 von Zappert aufgefundene u. in Wienherausgegebene). In der mittelhochdeutschen Zeit blieb liet auch (neben dem gewöhnlichern märe od. aventiure) eine Benennung für das erzählende Gedicht, wurde aber auch neben Leich u. Spruch die Bezeichnung für eine der drei lyrischen Hauptformen. Unter L. verstand die mittelhochdeutsche Lyrik, zum Unterschied von Leich u. Spruch (s. b.),

3) eine Folge von Strophen desselben, in der Regel dreitheiligen Baues u. derselben Melodie u. brauchte sie vorzugsweise im Minnesang, doch auch in Dichtungen sittlichen, religiösen u. politischen Inhalts, sowie zur Begleitung des Tanzes. Die in der mittelhochdeutschen Zeit vorzugsweise gepflegte Gattung der lyrischen Poesie war das Minnelied (s. Minnesinger); die ältesten noch vorhandenen (theils von unbekannten Verfassern, theils dem von Kürnberg zugeschrieben) reichen bis in die Mitte des 12. Jahrh. zurück; schon vor 1163 war es sehr üblich, den Frauen Liebeslieder (Trutlieter) zu singen; außerdem gab es religöse Lieder, wozu auch die Leisen, die auf Bittgängen, Wallfahrten u. bei ähnlichen Gelegenheiten angestimmt wurden, sowie die Ketzerlieder gehörten; ferner Lob- u. Strafgedichte, die an einzelne Fürsten u. Edle gerichtet waren, Klaggesänge auf berühmte Verstorbene, die politischen Dichtungen etc. Auch in der folgenden Periode (bis zum Ausgang des 16. Jahrh.) blieb das Liebeslied jedoch das vornehmste aller lyrischen Dichtungsarten; daneben das Frühlings- u. Sommerlied, das Sittenlied, namentlich auch das Trinklied (im 16. Jahrh. gab es zahllose Lieder zum Preise des Weines); Jägerlieder u. Bergreien, Studenten- u. Soldatenlieder, nur wenig politische Lieder. Die geistliche Poesie erreichte durch die Reformation mit dem Kirchenlied die höchste Blüthe (s. Hymnologie). Die Kunstdichtungen der Meistersänger (s.d.) arteten in Bezug auf die Form des Liedes in Überkünstelung aus, hielten aber in Bezug auf den Inhalt an der Richtung der letzten Minnesänger auf Lehrhaftigkeit fest; die Liebe u. die mit ihr in der älteren Lyrik so eng verbundene Freude an der Natur waren weniger Gegenstände des meisterlichen Gesanges. Bisher war die Musik nothwendig für die Lyrik, jetzt beginnt sich dieselbe in eine musikalische u. eine nicht[365] musikalische zu theilen. Das L. wurde stets nur in Verbindung mit Musik gedacht. Der Charakter des Liedes, wie es sich in der neueren deutschen Literatur gestaltet hat, beruht auf der Darstellung nur Eines Gefühls, welches die Seele bewegt hat. Der Ton des Liedes ist an sich der Ton reiner Freude, der Beruhigung, der Hoffnung. Dieser Ton wird angeregt durch die Beziehung des Gefühls auf ein ersehntes od. gegenwärtiges Gut. Was diese Form betrifft, so fordert man von dem Liederdichter weit mehr Einförmigkeit in Beobachtung der Abschnitte, mehr Vollendung des Gedankens mit jeder Strophe, leichtere u. fließendere Sylbenmaße, als in der Ode, ferner Vermeidung des Kühnen u. Prachtvollen. Das L. ist dazu bestimmt, daß es gesungen wird; die Composition muß sich genau nach der Stimmung der Poesie richten u. ganz mit derselben verschmelzen, so daß es nicht möglich ist, eine andere Melodie von gleichem Werthe auf dasselbe Gedicht zu erfinden. Dabei muß das L. leicht sangbar, die Melodie faßlich u. nicht von großem Umfang sein. Die vorzüglichen deutschen Liedercomponisten sind: Hiller, Reichardt, Schulz, Himmel, Beethoven, Konr. Kreutzer, Fr. Schubert, K. M. von Weber, Spohr, Methfessel, Bernhard, Mühling, Kücken, Reißiger, Mendelssohn, Löwe, Curschmann, Bank, Zöllner, Schumann u. A. Man theilt das L. in das geistliche u. das weltliche.

A) Das geistliche L. ist zur Erweckung religiöser Gefühle bestimmt. Wie das L. überhaupt, so soll auch das geistliche L. gesungen werden u. erheischt deshalb nicht blos gewisse besondere Einrichtungen in der Form, sondern auch eine bestimmte Melodie, wonach es vorgetragen werden kann. Die Wirkung des geistlichen Liedes hängt daher sowohl von der Schönheit seiner Poesie, als seiner Gesangsweise ab. Die wichtigste Art des geistlichen Liedes ist die, welche dem öffentlichen Gottesdienste angehört u. das Kirchenlied heißt, bestimmt, von einer ganzen Gemeinde im Choral abgesungen zu werden; s. Gesangbuch u. Hymnologie.

B) Das weltliche L. ist die Darstellung eines bestimmten, durch die Zustände u. Vorgänge des wirklichen Lebens od. durch Erscheinungen in der Natur angeregten Gefühls. Seine Arten sind daher so vielfach, als Zustände, Vorgänge u. Naturscenen vielfach aufregen können. Man unterscheidet daher Liebeslieder, ferner Kinder-, Wiegen-, Schullieder, Kriegslieder, Trinktlieder, die verschiedenen Arten des Volksliedes (s.d.), zu welchem auch die Fischer-, Spinner-, Jäger-, Winzerlieder etc. gehören. Aus dem 16. u. 17. Jahrh. hat sich ein Schatz trefflicher u. gemüthvoller Lieder erhalten, deren Dichter meist unbekannt sind; in neuerer Zeit zeichneten sich bes. im Liede aus: Goethe, Kleim, Voß, Weiße, Hölty, Bürger, Arndt, Körner, Rückert, W. Müller, Heine, Hoffmann von Fallersleben, Geibel, Groth etc. Die antike Welt hat ihrem Charakter gemäß von wirklicher Liederdichtung nur wenig aufzuweisen; wie die Lyrik überhaupt, konnte auch insbesondere das L. erst in der Gefühlstiefe der christlichen Zeit, namentlich aber bei den Deutschen zu höchster Blüthe gedeihen. Das deutsche L. bleibt für andere Nationen unnachahmbar, meist schon unübersetzbar; der französische Chanson (s.d.) u. die italienischen Canzone entsprechen nicht vollständig, wie selbst die Franzosen fühlen, indem sie jetzt häufig das Wort L. unübersetzt beibehalten.


Quelle: Pierer's Universal-Lexikon, Band 10. Altenburg 1860, S. 365-366. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20010345590


Kommentar

Im "Buch von der Deutschen Poeterey" von Martin Opitz kommt die Gattung Lied unter der Bezeichnung "Lyrica" vor. Neuere Poetiken vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert sprechen vom Lied als ursprünglichster Form oder "Herzstück" der Lyrik. Dabei handelt es sich um eine neue Entwicklung, die Antike, Mittelalter und früher Neuzeit noch fremd war. Wegen der spezifischen Bedeutung des Liedes als einer gesungenen (romantischen) Gattung im Deutschland des 19. Jahrhunderts (Franz Schubert, Carl Löwe, Robert Schumann, Hugo Wolf) wurde die Wortform "the lied" bzw. "le lied" ins Englische und Französische übernommen.

Das deutsche Wort Lied stammt vom althochdeutschen "leod, liod" und ist verwandt mit altfrz. lai (strophisches gesungenes Gedicht). Wortgeschichte und Bedeutungsdifferenzierung siehe Lied (Grimms Wörterbuch)