Fragmente zur Mathematik (Novalis)

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Die Philosophie ist, wie alle synthetische Wissenschaft, wie die Mathematik, willkürlich. Sie ist eine ideale, selbsterfundene Methode, das Innre zu beobachten, zu ordnen etc.

Alles aus Nichts erschaffne Reale, wie z. B. die Zahlen und die abstrakten Ausdrücke – hat eine wunderbare Verwandtschaft mit Dingen einer andern Welt, mit unendlichen Reihen sonderbarer Kombinationen und Verhältnissen, gleichsam mit einer mathematischen und abstrakten Welt an sich, mit einer poetischen, mathematischen und abstrakten Welt.

Logische, grammatische und mathematische Untersuchungen, nebst mannigfaltiger, besonders philosophischer Lektüre und Nachdenken müssen mir den Weg bahnen. (Im Klassifizieren und Definieren usw. will ich mich an Werners System und an den Wissenschaften üben.)

Jetzt will ich alle Wissenschaften speziell durchgehn und Materialien zur Enzyklopädistik sammeln. Erst die mathematischen, dann die übrigen; die Philosophie, Moral usw. zuletzt. Gravitationslehre und Arythmetica universalis will ich zuerst durchgehn. Jener soll eine Stunde, dieser zwei Stunden gewidmet werden. Was mir nebenher einfällt, wird in das allgemeine Brouillon mit hineingeschrieben. Die übrige Zeit wird teils dem Roman, teils vermischter Lektüre gewidmet und der Chemie und Enzyklopädistik überhaupt.


Bruchstücke philosophischer Enzyklopädistik

Der poetische Philosoph und der philosophische Poet

Das Poem des Verstandes

Das Poem des Verstandes ist Philosophie. Es ist der höchste Schwung, den der Verstand sich über sich selbst gibt. Einheit des Verstandes und der Einbildungskraft. Ohne Philosophie bleibt der Mensch in seinen wesentlichsten Kräften uneins. – Es sind zwei Menschen: ein Verständiger und ein Dichter. Ohne Philosophie unvollkommner Dichter, ohne Philosophie unvollkommner Denker, Urteiler.

Der poetische Philosoph

Der poetische Philosoph ist en état de Créateur absolu. Ein Kreis, ein Triangel werden schon auf diese Art kreiert. Es kommt ihnen nichts zu, als was der Verfertiger ihnen zukommen läßt usw. Man muß immer überhaupt bedenken, daß das Höchste, zwar nicht in der wirklichen, aber in der idealischen Geschichte, vor dem Niedrigeren usw. kommt; also auch, wenn der Mathematiker wirklich etwas Richtiges tut, so tut er's als poetischer Philosoph.  

Der philosophische Poet

Der Logiker geht vom Prädikat, der Mathematiker vom Subjekt, der Philosoph von der Kopula aus. Der Poet von Prädikat und Subjekt, der philosophische Poet von allen dreien zugleich.


Die Philosophie ist das Ideal der Wissenschaft überhaupt

Es gibt keine Philosophie in concreto. Philosophie ist wie der Stein der Weisen, die Quadratur des Zirkels usw. eine bloße notwendige Aufgabe der Szientifiker, das Ideal der Wissenschaft überhaupt. Daher Fichtens Wissenschaftslehre nichts als die Beschreibung dieses Ideals. Es gibt, als konkrete Wissenschaften, nur Mathematik und Physik. Philosophie ist die Intelligenz selbst; vollendete Philosophie ist vollendete Intelligenz.


Philosophie und Mathematik

Allgemeine Sätze sind nichts als algebraische Formeln. Die reine Philosophie ist daher gerade so etwas wie die Letternalgebra. So eine Formel kann ein Gattungs-, ein Klassen- und Lokalzeichen sein – methodischer Name einer echten genetischen Definition. Definition ist ein Faktum. Die Bezeichnung dieses Faktums ist die gemeinhin so genannte Definition.

(Auf eine ähnliche Weise, wie sich die Logarithmen auf die geometrischen Progressionen beziehen, kann sich der Mechanism auf den Organism beziehen: bloß Bezeichnungsweise.)

Der Abstraktionskalkül der Philosophie ist vollkommen dem Infinitesimalkalkül zu vergleichen.


Scholastik

Die allgemeinen Ausdrücke der scholastischen Philosophie haben sehr viel Ähnlichkeit mit den Zahlen – daher ihr mystischer Gebrauch, ihre Personifikation, ihr musikalischer Genuß, ihre unendlichfache Kombination. Alles aus nichts erschaffne Reale, wie z.B. die Zahlen und die abstrakten Ausdrücke – hat eine wunderbare Verwandtschaft mit Dingen einer andern Welt, mit unendlichen Reihen sonderbarer Kombinationen und Verhältnissen, gleichsam mit einer mathematischen und abstrakten Welt an sich, mit einer poetischen, mathematischen und abstrakten Welt.


Kant und Fichte die Szientifiker des philosophischen Genies

Das echt philosophische System muß die reine Geschichte der Philosophie enthalten. Dieses, angewandt auf die spezielle Chronik der Bildung der Philosophie unter den Menschen, gibt die Geschichte der menschlichen Philosophie.

Fichte ist der Bearbeiter der Kantischen Kritik, der zweite Kant, das höhere Organ, insofern Kant das niedre Organ ist. Inwieweit ist er dies vollkommen? Er setzt die Leser da nieder, wo sie Kant aufnimmt. Seine Wissenschaftslehre ist also die Philosophie der Kritik, ihre Einleitung, ihr reiner Teil. Sie enthält die Grundsätze der Kritik. Aber meinem Bedünken nach fehlt ihr viel zu diesem ihrem Ideal. Sie begreift nur einen Teil der Philosophie der Kritik und ist so unvollständig wie die Kritik selbst. Kants Plan war's, eine universelle, enzyklopädische Kritik zu liefern; er hat ihn aber nicht ganz ausgeführt und nicht mit gleichem Glück in den einzelnen Massen der Ausführung. Dasselbe gilt von der Fichtischen Bearbeitung des Kantischen Kritikplans.

Es ließe sich eine äußerst instruktive Reihe von spezifischen Darstellungen des Fichtischen und Kantischen Systems denken, z.B. eine poetische, eine chemische, eine mathematische, eine musikalische usw. Eine, wo man sie als Szientifiker des philosophischen Genies betrachtete, eine historische usw. Ich habe eine Menge Bruchstücke dazu.

Der echte Gewinst bei Fichte und Kant ist in der Methode, in der Regularisation des Genies.

Die genialischen Einfälle und Methoden sind hier gleichsam exhauriert und in ein System gebracht.

Die Resultate waren einzeln fast vollständig schon da, aber der Geist des Systems, der kritische, fehlte, und ohne diesen war der ganze Besitz ungewiß und unbrauchbar. Durch die zweckmäßige Reunion der Glieder, durch Kritizism, Vereinprozeß von Sinn und Willen, wird der Geist fixiert.


Kant

Begriff von Sinn. Nach Kant bezieht sich reine Mathematik und reine Naturwissenschaft auf die Formen der äußern Sinnlichkeit. Welche Wissenschaft bezieht sich denn auf die Formen der innern Sinnlichkeit?

Gibt es noch außersinnliche Erkenntnis? Ist noch ein andrer Weg offen, aus sich selbst herauszugehen und zu andern Wesen zu gelangen oder von ihnen affiziert zu werden?

(Anschauung des Raums und der Zeit. Einbildungskraft. Schema. Synthesis von leerem und erfülltem Raum.)

(Kants Erscheinungen. Transzendentalphilosophie.)

(Die mathematischen Anschauungen sind die sichtbaren Regeln der Ordnung des mannigfaltigen Raums oder der ausgedehnten Gegenstände sowie auch der mannigfaltigen Momente – der sukzessiven Gegenstände.)

Die wirklichen Gegenstände fixieren nur die unendlichen Variationen der Raum- und Zeitgestaltungen durch die Einbildungskraft. Sie fixieren die Schemate durch Füllung mit widerstrebender, unabhängiger Masse. Synthesis von Ich und Nicht-Ich.

Kant ist ein netter Beobachter und Experimentator.


Fichte

Es wäre wohl möglich, daß Fichte Erfinder einer ganz neuen Art zu denken wäre, für die die Sprache noch keinen Namen hat. Der Erfinder ist vielleicht nicht der fertigste und sinnreichste Künstler auf seinem Instrument, ob ich gleich nicht sage, daß es so sei. Es ist aber wahrscheinlich, daß es Menschen gibt und geben wird, die weit besser fichtisieren werden als Fichte. Es können wunderbare Kunstwerke hier entstehen, wenn man das Fichtisieren erst artistisch zu treiben beginnt.

Fichtes Philosophie ist ein Denkerzeugungsprozeß oder Organisationsprozeß – ein Phänomen selbst oder ein Faktum.

Verdienst freiwilliger Passivität: mystische Orthodoxen. Fichte wählt das entgegengesetzte Verdienst.

Das logische Schema der Wissenschaft hat Fichte gleichsam zum Muster einer realen Menschenkonstruktion und Weltkonstruktion gewählt. Seine Ähnlichkeit mit Plotin.

Fichte tut durch geschriebne Worte und Wortformeln, Kombinationen, innere Wunder – oder er hält für eine willkürliche Wunderhandlung: Denken und Schreiben oder Sprechen zugleich, mit gegenseitiger Postulation oder Nezessitation. Satz: Gegenseitig bezognes, simultanes Sprechen und Denken (tätiges Betrachten) tut Wunder – erzeugt eine Substanz (Flamme), die beides, Sprechen und Denken, erregt und bildet.

Aus Fichtes Voraussetzung der Logik und seiner Annahme eines allgemeingeltenden Gedankens folgt seine ganze Philosophie notwendig. Angewandte Logik ist die Wissenschaftslehre – weiter nichts. Die Philosophie fängt mit so einer Armseligkeit, einem trivialen Gedanken an – das gehört zu ihrem Wesen. Mit einem Hauch fängt sie an. Die Wissenschaftslehre ist nichts als ein Beweis der Realität der Logik – ihrer Zusammenstimmung mit der übrigen Natur und völlig der Mathematik analog in Rücksicht ihrer Entdeckungen und Berichtigungen – und dessen, was sie leisten kann. Le Sage hat mit der Mathematik etwas Ähnliches geleistet.

(…)

Die Kombinationen von Ich und Nicht-Ich

Die Kombinationen von Ich und Nicht-Ich, nach der Anleitung der Kategorien, geben die mannigfachen Systeme der Philosophie. (System der Ableitung aus dem Einfachen. Das System der Bearbeitung der gemeinen Erfahrung, System der bloßen Ich-Identität, System des bloßen Nicht-Ichs, widersprechendes System des Ichs und Nicht-Ichs. Zureichender Grund.) System des Okkasionalism. (Beziehung auf das Erregungs-System.)

(Eine gelegenheitliche Ursache ist Reiz.) Fichtes System. Kants System. Chymische Methode, physikalische, mechanische, mathematische Methode usw. System der Anarchie, Demokratie, Aristokratie, Monarchie. Artistische Methode – artistisches System. Das Konfusions-System. Mystizism. Historism usw.)


Denklehre

Das Denken

Das Denken ist, wie die Blüte, gewiß nichts als die feinste Evolution der plastischen Kräfte und nur die allgemeine Naturkraft in der n. Dignität. Denken ist unter den Operationen, was der Schlußsatz unter den Sätzen ist. Denken im gewöhnlichen Sinn ist Denken des Denkens, Vergleichen usw. der spezifisch verschiednen Gedanken. Direktes Träumen – reflektiertes Träumen – potenziertes Träumen.

Von der Korruptibilität des menschlichen Nachdenkens.

Anwendung der Mathematik auf die Denklehre – Schnelligkeit und Reichhaltigkeit des Denkens – nicht auch Stärke des Denkens.

Grade des Denkens. Die Sprache ist ein Gedankometer. Scharfes Denken, eindringliches Denken.

Selbstempfinden wie Selbstdenken: aktives Empfinden. Man bringt das Empfindungsorgan wie das Denkorgan in seine Gewalt.

Unser Denken war bisher entweder bloß mechanisch, diskursiv, atomistisch oder bloß intuitiv, dynamisch. Ist jetzt etwa die Zeit der Vereinigung gekommen?

Denken ist eine Muskelbewegung.


Der Verstand

Wie, wenn der Verstand nicht der Sinn für Qualitäten, sondern nur für Quantitäten wäre und das tätige Gedächtnis hingegen der Sinn für Qualitäten wäre; jener der mathematische, dieser der physikalische Sinn? (Gedächtniskategorien – Vernunftkategorien; tätige Vernunft ist produktive Imagination.)

Gott, Welt, Mensch, Tier, Pflanze usw. sind Vernunftkategorien. (Beispiele von Gedächtniskategorien.)


Subjekt und Prädikat

Das Subjekt gehört zu der Anschauung, das Prädikat ist Begriff. Der Weg von der Anschauung zum Begriff ist synthetisch, der umgekehrte analytisch in mathematischer Bedeutung. Die Anschauung ist aber individuell, der Begriff allgemein, und aus diesem Gesichtspunkt dreht sich auch die vorige Behauptung um. Nun ist der Weg von der Anschauung aus analytisch und der Weg vom Begriff aus synthetisch.


Subjekt und Objekt

Es gibt mehrere Arten von Unbekannten. Subjekt und Objekt ist soviel wie Sinn überhaupt und Gegenstand oder Reiz. Eine stetige Veränderung ist eine Zeitveränderung. Entstehn der Zeiten aus relativer und daher sich allmählich vermindernder Elastizität unsrer Gedankenaktion. Räume und Zeiten sind Symptome von Schwäche. Das Äußre ist gleichsam nur ein verteiltes, übersetztes Innre, ein höheres Innre. (Wesen und Erscheinung?)

Alles Objekt wird Reiz (und Formel) einer neuen Objektion. Es ist die unterste Reihe – das nächste Subjekt ist die Differenzreihe. Es ist ein Geronnenes und das Subjekt ein Flüssiges, eine Atmosphäre. Es ist eine beständige Größe, das Subjekt eine veränderliche. Beide in einer Funktion.


Kategorien

Kategorien – Urbeschaffenheit eines Noumenons.


Das Alphabet cogitationum humanarum

Die Kategorien sind das Alphabet cogitationum humanarum, worin jeder Buchstabe eine Handlung begreift, eine philosophische Operation, einen höhern (mathematischen) Kalkül. Die Philosophie der Kategorien ist von der höchsten Wichtigkeit.


Intellektualer Stoff

Den allgemeinen Begriffen: Sein, Verschiedenheit usw. ist es wie der Philosophie usw. gegangen: jeder hat aus ihnen gemacht, was er gewollt hat. Das zeigt sehr deutlich, daß man sie nicht allein gebrauchen oder in ihnen etwas Wunderbares suchen soll. Sie sind intellektualer Stoff, aus dem sich machen läßt, was man will. Sie sind Indikationen des Bestimmens, der Arten der Bestimmungsprozesse. Sie haben keine Bestimmung; man muß ihnen keine geben. Eine solche Indikation eines höhern Verfahrens ist auch Philosophie usw.

Umkehrung der drei logischen Grundsätze – daraus entstehn die drei logischen Antinomien und Grundprobleme. So mit der Mechanik usw. Die Kategorien kommen nirgends einzeln, sondern immer verbunden vor. Der Mathematiker muß die Arten oder Qualitäten (Nenner) unterscheiden können, um richtig rechnen zu können. Der qualitative Denker sortiert, der quantitative Denker behandelt die Sorten einzeln oder mehrere usw.