Lyrikbegriff (Vischer)

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Friedrich Theodor Vischer über Lyrik

[Studentischer Beitrag, Christina Wolff]


Die lyrische Poesie verhilft zum bewusstem Vernehmen der Dinge. Der lyrische Dichter sagt, was sich dem Worte entzieht, es unterscheiden sich zweierlei Formen der objektiven Anschauung: das lyrische Subjekt führt uns erzählend, schildernd äußere Objekte vor, aber auch sein eigenes Bild, indem es sich vor seine und unsere Phantasie in einem bestimmten Zustand hinstellt. Die letztere Form ist zwar subjektiv, aber im Subjektiven noch zu den objektiven Elementen zu zählen. Das Objektive im engeren und allgemeineren Sinne genügt nicht und eben das ist die richtige Lyrik.

Die lyrische Poesie hat zwar das Objekt nicht so ganz verloren wie die Musik, aber sie kann das Objekt nicht entwickeln, nicht ausbreiten. Der Augenblick ist entscheidend. Daher gilt von der lyrischen Dichtart wie von keiner anderen das Goethesche Wort, daß ein wahres Gedicht Gelegenheitsgedicht im höheren Sinne des Wortes sei. Die Gelegenheit ist der Zufall des Anlasses, der die Phantasie absichtslos in Bewegung setzt. ... Die Situation ist der Moment, wo Subjekt und Objekt sich erfassen, dies in jenem zündet, jenes dies ergreift und sein Weltgefühl in einem Einzelgefühl ausspricht. Die Lyrik fasst nur einen kleinen Punkt der Welt an, unzählige andere Punkte der Berührung und Klänge vollenden das Weltbild. Man muss daher die Erzeugnisse der lyrischen Dichtung summieren.

Der lyrische Stil ist im Unterschiede vom epischen darauf angewiesen, mehr erraten zu lassen als auszusprechen. Die Natur des Gefühls fordert Kürze des Ganzen.



Zitat

aus "Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen", Band 3 Friedrich Theodor Vischer Verlag C. Macken, 1857

§. 886.


Wie die lyrische Dichtung der Zeit nach wesentlich auf den Moment gewiesen ist, so dem Umfange nach, in welchem sie das Objective ergreift, auf die Vereinzelung: es ist wesentlich dieses Subject, das in dieser Situation von einem Punct aus der Totalität der Welt berührt wird; daher ist empirisches Erleben in der Form der Zufälligkeit vorausgesetzt, daher liegt auch das Pathologische (vergl. §. 393,2) besonders nahe und muß an dieser Stelle ausdrücklich wieder abgewiesen werden. Das freie und universale Gemüth, das in Kampf und Schmerz sich mit der Welt versöhnt hat, legt nun zwar in jedes Einzelne sein ganzes Inneres und das Gefühl des Universums, aber unentwickelt, und nur die Gesammtheit der lyrischen Aeußerungen gibt das Bild einer Persönlichkeit, eines Volks, der Völker, der Welt. Die bestimmte Art des Zusammenfühlens der Individualität und der Welt verleiht dem Gedichte seinen Duft.

Die lyrische Poesie hat über der Innigkeit, die ihr gewonnen ist, das Object zwar nicht so ganz verloren, wie die Musik; wir haben ihre epischen, [1331] bildlichen, gnomischen, überhaupt einen Gegenstand nennenden Elemente kennen gelernt; aber sie kann das Object nicht entwickeln, nicht ausbreiten. Ist ihr zeitliches Element die Gegenwart, also der Augenblick, so ist in Beziehung auf ihren Verkehr mit den Gegenständen ihr Charakter die Punctualität; sie ist ein punctuelles Zünden der Welt im Subjecte: in diesem Moment erfaßt die Erfahrung dieses Subject auf diese Weise.




Quellen und Literaturangaben

"Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen", Band 3 Friedrich Theodor Vischer Verlag C. Macken, 1857


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