Abenteuerlich

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Abentheuerlich (Sulzer)

Abentheuerlich. (Dichtkunst)

Eine Art des falschen Wunderbahren, dem selbst die poetische Wahrscheinlichkeit fehlet. Von dieser Art sind die ungeheuren Heldenthaten und andre Begebenheiten, die man in den alten Ritterbüchern findet. Der eigentliche Charakter des Abentheuerlichen besteht darinn, daß es aus einer Welt hergenommen ist, wo alles ohne hinreichende Gründe geschieht, wie in den Träumen. Dinge, die in der Ordnung der würklichen Natur unmöglich sind, werden ordentliche Begebenheiten in der abentheuerlichen Welt.

Das Abentheuerliche findet sich so wol in Begebenheiten, als in Handlungen, in Sitten und in Charakteren. In den zeichnenden Künsten ist das so genannte Groteske eine Art des Abentheuerlichen, und dahin gehören auch die chinesischen Mahlereyen, da Häuser und Landschaften in der Luft schweben. Diese Gattung des Ungereimten herscht insgemein in den Träumen, wo die ungereimtesten Dinge würklich scheinen; aber jede erhitzte und vom Verstand ganz verlassene Einbildungskraft, bringt abentheuerliche Vorstellungen hervor. Er scheinet, daß die Völker der heissen Morgenländer, mehr, als andre, diesen Ausschweifungen der Einbildungskraft unterworfen seyn; denn der Hauptsitz des Abentheuerlichen ist in den Romanen, in den Gedichten und so gar in der Theologie dieser Völker. In den arabischen Erzählungen von tausend und einer Nacht, ist fast alles in dieser Art. Die abendländischen Völker scheinen durch ihre Bekanntschaft mit den Arabern, auf das Abentheurliche gekommen zu seyn, und Spanien, wo ehemals jene Völker sich am meisten ausgebreitet hatten, scheint das übrige Europa damit angesteckt zu haben. Es ist eine Zeit gewesen, wo diese Ausschweifungen aus der Einbildungskraft in die Sitten und in die Gesinnungen übergegangen sind, wo man abentheuerlich gehandelt hat.

Seitdem Vernunft und Geschmack in den neuern Zeiten wieder empor gekommen, wird das Abentheuerliche von den Dichtern bloß zur Belustigung nachgeahmt. Erzählungen aus der abentheurlichen Welt hergenommen, sind oft sehr ergetzend und ein Labsal des Geistes in den Stunden, da man von Nachdenken ermüdet, dem Verstand eine gänzliche Ruhe geben muß. Gute Werke von dieser Art haben ihren Werth. Es scheinet, daß Hr. Wieland bey Bekanntmachung seines Idris die Absicht gehabt, Deutschland ein Werk dieser Gattung zu liefern, das in seiner Art claßisch werden sollte, so wie es der Orlando furioso des Ariost in Italien ist. Es fehlt in der That diesem Werk nicht an glänzenden poetischen Schönheiten; doch scheint etwas mehr, als dieses erfoderlich zu seyn, um ein Buch bey einer ganzen Nation claßisch zu machen.

So angenehm das Abentheurliche in scherzhaften Werken werden kan, so widrig wird es, wenn in ernsthaften Werken, aus Mangel der Ueberlegung, das Große und das Wunderbare dahin ausarten. Die Gränzen der einander gerade entgegen stehenden Dinge, liegen insgemein nahe an einander. Wenn den Dichter da, wo er das Große oder das Wunderbare behandelt, das Nachdenken nur auf einen Augenblick verläßt, so schleicht sich plötzlich das Abentheuerliche an solchen Orten ein, wo es höchst anstößig wird. Die Begierde, gewisse Gegenstände recht groß vorzustellen, kann diese Würkung thun. Es wäre zu zeigen, daß dieses selbst dem großen Corneille begegnet ist, der mehr als einmal das Große seiner Helden, bis zum Abentheuerlichen getrieben hat. Eben dieses ist einem deutschen Dichter in seinen Trauerspielen, in Ansehung der Empfindungen und Leidenschaften, mehr als einmal wiederfahren. Das Große und das Wunderbare hat seine Gränze, die zwar nicht durch eine bestimmte Linie kann gezeichnet werden, die aber nicht leicht überschritten wird, wenn die Einbildungskraft und die Empfindung vom Verstande begleitet werden. [1]

[1] S. ⇒ Uebertrieben.

Quelle:

Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 3.

Permalink: http://www.zeno.org/nid/20011442344