Estnische Literatur

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Brockhaus 1911

[537] Estnische Sprache und Literatur. Die estnische Sprache, ein Zweig der finn. Familie des ural-altaischen Sprachstamms, gesprochen von den Esten (s.d.), zerfällt in den Dorpatschen, Revalschen (Schriftsprache) und Pernauischen Dialekt, besitzt schöne Volkslieder, Märchen und ein Nationalepos (»Kalewi-poeg«, hg. 1857). Eine Literatur begann im 17. Jahrh. und nahm im 19. größern Aufschwung durch die Gelehrte Estnische Gesellschaft in Dorpat (seit 1838) und bes. durch die Jungesten und die Estnische Literarische Gesellschaft (seit 1873). Grammatik von Wiedemann (1875), »Estnisch-deutsches Wörterbuch« von demselben (2. Aufl., hg. von Hurt, 1891-93).

Quelle: Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon, fünfte Auflage, Band 1. Leipzig 1911., S. 537. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20001089382


Meyers 1906

Die esthnische Sprache gehört ihrem Grundstock nach der finnisch-ugrischen Gruppe der großen Uralaltaischen Sprachfamilie (s.d.) an und zeichnet sich vor der finnischen durch größere Kürze und Gedrungenheit aus. Sie zerfällt in drei Hauptdialekte, die man nach den vorzüglichsten Städten ihres Verbreitungsbezirks den dörptischen, revalischen (der für den reinsten gilt) und peruanischen genannt hat. Die Hauptmasse des Volkes ist durchweg national-esthnisch und versteht kaum ein Wort Deutsch. Auch in allen bisher zur Bildung der Bauern errichteten Schulen wird der Unterricht in der Sprache des Volkes erteilt. Sobald sich jemand unter den E. eine höhere Bildung aneignet, tritt er zur deutschen oder (in vereinzelten Fällen) zur russischen Nationalität über. Zur Pflege der Volkssprache besteht seit 1873 eine nur esthnisch schreibende Literarische Gesellschaft (Eesti körjameeste selts), deren Veröffentlichungen (»Toimetused«, d. h. Besorgungen) besonders für die reifere Jugend bestimmt sind und sich über alle Lehrfächer erstrecken. Vgl. Rosenplänter, Beiträge zur genauern Kenntnis der esthnischen Sprache (Pernau 1813–32,20 Hefte); Wiedemann, Esthnisch-deutsches Wörterbuch (Petersb. 1865; 2. vermehrte Aufl. von Hurt, 1891ff.); Derselbe, Esthnische Grammatik (das. 1875); Weske, Untersuchungen zur vergleichenden Grammatik des finnischen Sprachstammes (Leipz. 1873); Ploompun u. Kann, Deutsch-esthnisches Wörterbuch (Reval 1903). – Der Hang zur Poesie ist bei den E. ungemein stark. Wie die Letten improvisieren sie bei allen ihren Zusammenkünften Verse und Gedichte, die in einer melanchol ischen Tonart (immer nur fünf Töne umfassend) gesungen werden. Sie singen und dichten (und zwar vorzugsweise die Frauen) bei allen ihren Arbeiten, im Walde, auf dem Felde, zu Hause, in den Spinnstuben, in den Riegen (s. oben) etc. Nachdem das große Nationalepos der Finnen, die Kalevala (s.d.), erschienen war und die höchste Beachtung der europäischen Gelehrten hervorgerufen hatte, begann man auch in Esthland die Überbleibsel des dortigen Volksgesanges zu sammeln, die in Stoff und Charakter mit der »Kalewala« eine unverkennbare Verwandtschaft zeigen, und es glückte endlich auch, ein Gegenstück dazu herzustellen. Es führt den Namen Kalewi Poëg (»Sohn Kalews«) und enthält 20 Gesänge mit über 19,000 Versen, die sämtlich aus reimlosen, aber oft Assonanz und Alliteration zeigenden vierfüßigen Trochäen bestehen. Sein Herausgeber (Dorp. 1857) ist Fr. Kreutzwald, Übersetzungen besorgten K. Reinthal und Bertram (das. 1861) und F. Löwe (mit Anmerkungen von Reiman, Reval 1900). Vgl. Schott, Die Sagen vom Kalewi Poëg (Berl. 1863); L. v. Schröder, Zur Entstehungsgeschichte des Kalewi Poëg (in den »Verhandlungen der Gelehrten Esthnischen Gesellschaft«, Dorp. 1891). Andre Sammlungen veröffentlichten H. Neuß (»Esthnische Volkslieder, Urschrift und Übersetzung«, Reval 1850–52, 3 Tle.) und Kreutzwald und Neuß (»Lieder der E.«, Petersb. 1854). Esthnische Sagen und Märchen gab gleichfalls Kreutzwald heraus (1866; deutsch von F. Löwe, Halle 1869), ferner H. Jannsen (übersetzt und mit Anmerkungen versehen, Riga 1888). 1895 hat die livländische Ritterschaft sowie die finnisch-ugrische Gesellschaft zu Helsingfors eine namhafte Unterstützung für die Herausgabe der alten esthnischen Volksstücke, Sprüche und Melodien bewilligt.

Ursprünglich waren die E. ein wildes, kriegerisches, auch als Seeräuber über die ganze Ostsee gefürchtetes Volk, das aber seit Anfang des 13. Jahrh. in langen und schweren Kämpfen von den Deutschen Rittern unterjocht und als leibeigene Bauern 600 Jahre lang in drückender Knechtschaft gehalten worden ist. Dadurch sind Volkscharakter und Kulturentwickelung der E. wesentlich bedingt. Die Leibeigenschaft wurde zu Anfang des 19. Jahrh. aufgehoben, und es geschah vieles zur Hebung des kulturellen Niveaus und des Wohlstandes, doch sind die nationalen Gegensätze zwischen der esthnischen Landbevölkerung und den deutschen Grundherren (saksad, d. h. Sachsen), dank einer lebhaften antideutschen Agitation (jungesthnische Bewegung), auch heute noch nicht ausgeglichen, und der Charakter der E. zeigt neben den allen finnischen Stämmen eignen Zügen Mißtrauen und Verschlossenheit. Bis vor kurzem gehörten die E. durchweg zur lutherischen Kirche; neuerdings macht die griechisch-orthodoxe Propaganda, z. T. begünstigt von den nationalen Gegensätzen, immer weitere Fortschritte. Seit der Russifizierung der Ostseeprovinzen bahnt sich eine wachsende Vermischung mit russischen Elementen an, wobei die E. sich als sehr anpassungsfähig, anderseits aber auch durch Arbeitsamkeit, Geschick und wirtschaftliche Tüchtigkeit den Russen vielfach überlegen erweisen. Die Sprache wird eifrig gepflegt. Es erschienen 1901 in esthnischer Sprache 14 Zeitungen und Zeitschriften, und es besteht neben einer aufstrebenden eignen eine ansehnliche Übersetzungsliteratur. Vgl. v. Parrot, Versuch einer Entwickelung der Sprache, Abstammung etc., der Liwen, Lätten, Eesten etc. (neue Ausg., Berl. 1839); Fr. Kruse, Urgeschichte des esthnischen Volksstammes (Mosk. 1846); Wiedemann, Aus dem innern und äußern Leben der E. (Petersb. 1876); »Verhandlungen der Gelehrten Esthnischen Gesellschaft zu Dorpat« (1840ff.).

Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 6. Leipzig 1906, S. 128-129. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20006572863