Poesie

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Sulzer 1777

[258] Dichtkunst. Poetik.

Eine so wichtige Kunst, als die Poesie ist, verdienet von Männern, die den feinesten Geschmak mit der schärfsten Beurtheilung vereinigen, in ihrem psychologischen Ursprung, in ihren mannigfaltigen Aeusserungen und in ihrer besten Anwendung betrachtet zu werden. Nicht deswegen, daß durch die beste Theorie dieser Kunst ein Dichter könnte gebildet werden; denn nur die Natur kann dieses thun; sondern damit die, denen die Natur die Anlage gegeben, ihre Bestimmung deutlich erkennen lernten, und einen Weg vorgezeichnet fänden, auf welchem sie fortgehen müssen, um zu dem Grad der Grösse zu kommen, dessen ihr Genie fähig ist. Obgleich sehr viel zu dieser Theorie dienendes geschrieben ist, so fehlt es noch an einem Lehrgebäude der Dichtkunst. Die, welche davon geschrieben haben, fanden das, was sie voraus setzen sollten, die Theorie der schönen Künste überhaupt, nicht vor sich, deswegen liessen sie sich in vielerley Beobachtungen und Untersuchungen ein, die die Poesie mit allen andern schönen Künsten gemein hat.

Wenn man die allgemeine Theorie der Künste, oder die Aesthetik voraus setzet, so scheinet die Poetik insbesondere folgende Untersuchungen zu erfodern. Zuerst eine richtige Bestimmung des eigenthümlichen Charakters der Poesie, wodurch sie zu einer besondern Kunst wird, und der besondern Mittel, die sie anwendet, den allgemeinen Zwek der Künste zu erreichen. Hierauf würde der Charakter des Dichters, und die nähere Bestimmung seines absonderlichen Genies zu betrachten seyn, wodurch er gerade ein Dichter, und nicht ein Redner oder ein andrer Künstler wird.

Dann würde der wahre Begriff des Gedichts fest zu setzen und bestimmt zu zeigen seyn, wodurch es sich von jedem andern Werk der redenden Künste unterscheidet. Es würde sich hieraus ergeben, was in der Materie oder in den Gedanken, was in der Sprache und in der Art des Ausdrukes poetisch ist. Hierauf müßte man versuchen, die verschiedenen Gattungen des Gedichts allgemein zu bestimmen, und den besondern Charakter einer jeden Gattung festzusetzen. Man müßte den Ursprung der Gattung und Arten in der Natur des poetischen Genies aufsuchen, und daher wieder die, jeder Art vorzüglich angemessene Materie, die geschiktesten Formen, und den wahren Ton bestimmen.

Bey jedem besondern Theile dieser Untersuchungen müßte man eine beständige Rüksicht auf die praktische Anwendung der Theorie haben, damit der Dichter dabey alles fände, was zu Erforschung und Ausbildung seines Genies dienet. Er müßte daraus lernen, durch was für Studium und Uebung er seine Fähigkeiten erweitern, durch welche Wege er seinen Stoff erfinden, und durch was für Arbeiten er die Fertigkeit in seiner Art erwerben könne.

Wiewol es uns noch an einem solchen System fehlet, so haben über alle zur Poetik gehörige Materien verschiedene grosse Männer alter und neuer Zeit so viel einzele Betrachtungen vorgetragen, daß dem, der das Werk im Zusammenhang ausführen wollte, die Arbeit schon sehr würde erleichtert werden.

Aristoteles scheinet zuerst die Bahn hiezu eröffnet zu haben. Der Theil seiner Poetik, der auf unsre Zeiten gekommen ist, zeuget, wie die meisten Schriften dieses grossen Mannes, von scharfen philosophischen Einsichten und feinem Geschmak. Doch hat er, welches bey einem Genie, wie das seinige war, das immer von den ersten und allgemeinesten Grundsätzen anzufangen liebte, zu verwundren ist, sich blos bey dem aufgehalten, was der Zufall oder das Genie der Dichter bis auf seine Zeiten in der Poesie hervorgebracht hatte. Etwas allgemeiner und zugleich weiter aussehend ist das Lehrgedicht des Horaz; ein Werk, wo die wichtigsten Lehren der Kunst auf die vollkommenste Weise vorgetragen sind. Da es die größten Geheimnisse der Kunst anzeiget, so sollte jeder Dichter dieses Werk unaufhörlich studiren. Aber Horaz hat als ein Dichter geschrieben, dem es nicht erlaubt war, sich in genaue Entwiklung der Sachen einzulassen. Er spricht in dem Ton eines Gesetzgebers, dessen Wille[258] für Gründe dienet. In diesem Ton und mit nicht geringerer Scharfsinnigkeit haben in Frankreich Boileau1, und in England Pope2 von der Dichtkunst geschrieben.

Von den unzähligen in die Poetik einschlagenden dogmatischen Schriften, enthalten die in der Anmerkung hierunten 3 angeführten, das gründlichste und wichtigste, was über diese Materien bis dahin entwikelt worden.

  • 1 Art poetique.
  • 2 Essay on Criticism.
  • 3 Della ragion poetica Libri due di Vicentio Gravina. / Muratori della perfetta poesia. /Reflexions sur la poesie & la peinture par l'abbé du Bos.
    • Von deutschen Schriften: Die critischen Werke von Bodmer und von Breitinger. Homes Grundsätze der Critik.

Ramlers, Batteux. Schlegels Abhandlungen, die seinem übersetzten Batteux beygefügt sind.

Quelle: Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 258-259. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20011444207


Adelung 1798

[799] Die Poesīe, (dreysylbig,) plur. die Poesīen, (viersylbig,) aus dem Griech. und Lat. Poesis. 1) Die Fertigkeit, ein Gedicht zu verfertigen, ohne Plural; die Dichtkunst, welches jetzt in der anständigern Sprechart üblicher ist. 2) Ein Gedicht; auch nur noch im gemeinen Leben.

Quelle: Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 3. Leipzig 1798, S. 799. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20000361267


Damen Conversations Lexikon 1835

[175] Dichtkunst (Poesie vom Griechischen: poieo, ich mache schaffe), ist die erste und umfassendste aller Künste; die erste, weil des Menschen erster Gedanke, Gott, ein poetischer ist; die umfassendste, weil sie das Wort bebaut, dessen Keime aus der Ewigkeit gekommen sind und sich in die Unendlichkeit verlieren; auch darum, weil das Reich des Wortes grenzenlos ist und die Darstellungen durch dasselbe nicht zu berechnen sind. Das Gemälde stellt immer nur eine Situation dar; das Gedicht gibt auf ein Mal tausend Bilder der Phantasie hin und das ganze Leben muß in ihr aufgehen im Andrange eines solchen Blüthenmeeres von Ideen, auf deren Wellen sie hinschwimmt an das Gestade des Jenseits. – Wie sich Poesie von der Wirklichkeit dadurch unterscheidet, daß sie die Erscheinungen idealisirt, so ist auch die Poesie der Gegensatz von Prosa dadurch, daß sie mehr die Phantasie, Prosa mehr den Verstand anregt, diese sich mit dem Gedanken allein begnügt, jene aber den Gedanken bildlich darstellt. Auch die Prosa kann auf die Phantasie wirken, aber durch andere Mittel; sie wirkt nicht unmittelbar auf dieselbe, sondern durch das Gemüth, während Poesie die Einbildungskraft zuerst in Anspruch nimmt. Der Prosaist sucht zu überzeugen, der Dichter zu rühren. Der Prosaist rückt uns den Gegenstand zwar auch nahe, aber er stellt uns, wie vor ein Gemälde, in das rechte Licht und auf eine gewisse Höhe, vor der wir die Vorgänge beschauen, ohne in dieselben mit hineingezogen zu werden; der Dichter hingegen läßt uns selbst Theil nehmen und gönnt uns nicht eher Ruhe, als bis sich im Gedichte die Ruhe hergestellt hat. Die gebundene Rede (der Vers) macht zwar den gewöhnlichen, aber nicht immer wesentlichen Unterschied; ja[175] manche Dichtungsarten behalten die Prosa bei, wie der Roman, die Novelle u. s. f., und Verse, selbst die künstlichsten, machen noch kein Gedicht, wenn ihnen Phantasie mangelt. Der Verfasser eines Romans ist aber auch dann erst ein Dichter, wenn er in demselben offenbart, was das Wesen der Poesie ausmacht: Eigenthümlichkeit der Weltanschauung, Schaffen und folgerechtes Durchführen neuer Charaktere und Verhältnisse, Einbildungskraft in Benutzung aller Mittel, die das Leben und die Natur darbieten, endlich schöne Form in der Darstellung. Ein Gedicht, das von dem, was der Dichter aussprechen will, kein anschauliches Bild gibt, oder das unser Gemüth nicht also gleich in die beabsichtigte Stimmung versetzt, ist ein schlechtes. – Genug hierüber für Frauen O was sind alle Aesthetiken gegen das Gefühl eines edlen Weibes! Es wird mündig geboren und bevormundet die Weisheit des Mannes von tausend Talenten. Wie vor dem stillen Wunder einer Blume steht der Denker still vor dem Frauenherzen, diesem Tribunale des Schönen; er legt in die Wagschale dieser Richterin sein Wissen, das Weib – einen Staubfaden aus dem Blüthenkelche seines Herzens und – seine Weisheit schnellt empor....

Die Dichtkunst ist in ihrem Entstehen, als Urpoesie, bei allen Völkern wahr, frisch, kräftig gewesen; Bild und Begriff waren noch ungetrennt, da ihnen die Natur erst mit dem Bilde den Begriff gab und sogar ihre Sprache sich nach der Stimme der Natur (nach Naturlauten) formte; ihr Ausdruck war einfach, bewußtloser, naiver Erguß des Gefühles. Erst später bildete sich die Naturpoesie zur Kunst, zur Dichtkunst aus, dann erst, als die Schrift erfunden war und man das festgehaltne Wort beschauen und verändern konnte. In den ersten, uns zugekommenen schriftlichen Werken der Poesie lebt noch diese schöne Unschuld des Anfangs. Die Religion eines jeden Volks war die Leiterin der Poesie und diese bildete sich denn nach den verschiedenen Religionen. Die ersten Dichter waren die Hebräer; von einer früheren Poesie der Inder,[176] Perser, Syrer und Araber zeigen sich nur unzuverlässige Spuren, und wie die Chinesen rechnen, wissen wir. – Nach den Hebräern kam das sogenannte klassische Alterthum, und die griechische Kunst blühte in Europa und Kleinasien. Von Homer an verzweigt sich die Dichtkunst fort und fort und arbeitete sich in allen Formen zur Vollendung durch. – Alle Poesie ist entweder lyrisch, dramatisch, oder episch. Die älteste ist die lyrische. Lyra hieß das älteste besaitete Instrument bei den Griechen, unter dessen Klang man Gedichte recitirte. B–l.

Quelle: Damen Conversations Lexikon, Band 3. [o.O.] 1835, S. 175-177. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20001724444


Herder 1856

Dichtkunst, christliche, Dichtungsarten, s. Poesie.

[568] Poesie, aus dem Griech., eigentlich die schöpferische Thätigkeit des Menschen, d.h. überhaupt die Kunst, insbesonders die Dichtkunst, s. Aesthetik Bd. I. S. 58; über die epische, dramatische, lyrische u. didaktische P. s. die betreffenden Artikel. Poetik, die Wissenschaft, welche von dem Wesen, den Arten und Formen der P. handelt, aber nur in soweit Regeln geben kann, daß sie den Ausschweifungen der Phantasie, des Gefühls u. der Form Schranken setzt, anderseits die Regeln selbst aus den Meisterwerken der P. abstrahirt, wie zuerst Aristoteles gethan.

Quelle: Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1856, Band 4, S. 568. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20003473694


Pierer 1858

[117] Dichtkunst (Poesie), unter den Schönen Künsten die an Mitteln reichste u. in ihren Wirkungen mächtigste. Das Mittel, dessen sich die D. zur Darstellung des Schönen bedient, ist die Sprache, ein körperloses Erzeugniß des menschlichen Geistes, welches die Bilder der schaffenden Phantasie in die Vorstellung Anderer unmittelbar überträgt. Die D. bedarf also nicht, wie die Bildenden Künste, einer realen, körperhaften od. durch Farbenwirkung körperhaft erscheinenden Verwirklichung der Idee des schaffenden Künstlers, sie ist unabhängig von der Materie, kann sich also in freierem Fluge dem Ideale nähern, dessen Hauch die Darstellung der Wirklichkeit zur künstlerischen Schöpfung, zur Schönheit erhebt. Mit der Musik hat sie die unmittelbare Wirkung auf das menschliche Gemüth gemein, aber sie ist befähigt, bestimmtere, klarere Vorstellungen zu erwecken, als die Tonkunst, welche sich begnügen muß, blos eine Stimmung hervorzurufen. Sie vereinigt, indem sie sowohl in die Tiefen des menschlichen Gemüthes hinab zu steigen als auch die reale Welt in ihren mannigfachen Erscheinungen zur künstlerischen Darstellung zu bringen vermag, alle Kräfte in sich, welche die übrigen Künste nur zum Theil besitzen. Wie die Kunst sich überhaupt in ihrem Ursprunge an die Außenwelt anlehnte, so ging auch die Poesie aus der Betrachtung derselben hervor. Die Poesie aller Völker ist in ihrem Anfange die Mythe, die Erhebung der Naturerscheinungen zu selbständigen, willenbegabten Mächten. Die Vorstellung von dem Zusammenhang dieser von der Poesie geschaffenen Götterwelt mit dem Thun u. Lassen der Menschen führte zum Epos (s.d.). Die epische Dichtung stellt das Geschehene als unter dem Einfluß von Schicksalsmächten geschehend dar. Erst mit der fortschreitenden Cultur, wo der Mensch mehr u. mehr zum Bewußtsein seiner Kraft u. Fähigkeiten gelangte, gingen die Völker zur Lyrik (s.d.), zur Äußerung subjectiver Gefühle u. Empfindungen, zur Betrachtung der Welt aus rein individuellen Gesichtspunkten, über. Zur höchsten Vollendung steigerte sich aber die D. erst, als das Individuum sich des Contrastes bewußt wurde, welcher zwischen dem eigenen Willen u. den allgemeinen Verhältnissen, welche dasselbe umgeben, besteht, als in Folge des näheren Zusammenrückens der Menschen Rechte u. Pflichten entstanden, deren Verletzung den Einzelnen in Opposition gegen die gesammte od. einen großen Theil der Gesellschaft setzt. Die Schilderung des Kampfes zwischen dem Einzelnen u. der Gesammtheit u. sein Untergang in diesem Kampfe ist die Aufgabe der dramatischen Poesie (s. Drama). Im Epos sehen wir breite Massen, von demselben nationalen Geiste beseelt, von derselben religiösen Idee zusammengehalten, im Kampfe gegen einander, aber wir sehen nur das äußere Thun derselben, u. jeder einzelne der hervorragenden Kämpfer unterscheidet sich nur durch besondere Eigenschaften u. Neigungen, ohne daß dieselben, zusammengenommen, das Bild eines Charakters geben. Die Lyrik zeigt uns das Gemüth des Menschen in einem bestimmten Affect, der sich uns selbst mittheilt, also nur ein kleines Theilchen der inneren Natur des Menschen. Erst im Drama erreicht die D. ihr höchstes Ziel, die Darstellung des ganzen Menschen, des Handelns nach Grundsätzen u. höheren Zwecken. Außer diesen drei Hauptgattungen der D. gibt es noch Dichtungsarten, welche aus der Mischung epischer u. dramatischer od. lyrischer Elemente hervorgegangen sind; so das Idyll, die Ballade, die Fabel. Noch andere Dichtungsarten nähern sich der Darstellung u. Beschreibung der Wirklichkeit ohne Beziehung auf ihr Ideal, d.i. der prosaischen Geschichtserzählung u. Beschreibung; dahin gehört die didaktische Poesie, der Roman u. die Novelle. Denselben Vorzug, welchen die D. in ihrem freien Streben nach dem Idealen vor den übrigen Künsten voraus hat, besitzt sie in noch höherem Grade in Bezug auf die Verkehrung des Ideals, auf die Darstellung des Realen unter einem niedrigen, seiner Unzweckmäßigkeit wegen überraschenden, d.h. komischen Gesichtspunkte. Sowohl im Epos u. in der Lyrik als auch in der dramatischen Poesie kann an die Stelle des Ideals der Gegensatz desselben treten, u. es entstehen auf diese Weise das komische Heldengedicht, das Thierepos, die Satyre, das Lustspiel, der humoristische Roman u.a. Abarten der Poesie. Wie der Inhalt jeder poetischen Schöpfung verklärt u. vergeistigt ist durch das Licht des Ideals, so entrückt der Dichter sein Werk auch durch die Form des sprachlichen Ausdrucks der gemeinen Wirklichkeit. Er gibt den Worten einen dem Ohre gefälligen Klang, indem er zwischen Hebung u. Senkung des Tons nach gewissen Regeln wechselt, durch Alliteration od. Reim einen Gleichklang, einen Wohllaut hervorbringt. Diese äußere Form hat je nach der Art der Dichtung einen eigenthümlichen Charakter u. entfernt sich mehr od. weniger von der gewöhnlichen Redeweise. Die Lyrik hat in dieser Beziehung den weitesten Spielraum, weniger das Epos, noch weniger das Drama (vgl. Vers u. Strophe). Die Lyrik ist durchaus an die rhythmische Form gebunden, weil sie am meisten Verwandtschaft mit der Musik hat u. unmittelbar auf das menschliche Gefühl wirkt. Das Epos erfordert Breite u. Klarheit der Darstellung, eine plastische Ruhe u. Gemessenheit, welche an einer Verschlingung der Rede zu bunten Formen scheitern würde; das Drama aber darf sich am wenigsten von der natürlichen Art der Gedanken- u. Gefühlsäußerung entfernen, weil es seine Gestalten selbstredend u. selbsthandelnd auftreten läßt u. das treueste Spiegelbild menschlichen [117] Wesens ist. Die Geschichte der D. bildet den wichtigsten Theil der Culturgeschichte, weil sich in den Werken der D. die geistigen Strömungen der Zeit u. das nationale u. religiöse Bewußtsein der Völker am reinsten abspiegelt. Daher hat sich die historische Forschung der D. auch früher bemächtigt, als jeder anderen Kunst, u. über die D. fast aller Zeiten u. Völker besitzen wir eine große Anzahl Darstellungen, s. die Literaturen der einzelnen Völker. Eine Gesammtübersicht gibt Rosenkranz, Handbuch der Geschichte der Poesie, Halle 1832, 3 Bde., u. Zimmermann, Geschichteder Poesie aller Völker, Stuttg. 1847.

Quelle: Pierer's Universal-Lexikon, Band 5. Altenburg 1858, S. 117-118. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20009782656


Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe 1907

[447] Poesie (gr. poiêsis, eigtl. Schöpfung), Dichtkunst, heißt diejenige Kunst, welche das Schöne durch die Sprache darstellt. Sie vereinigt die Wirkungen der Musik und der bildenden Künste, da die Worte erstens Töne und als solche wie die Ausdrucksmittel der Musik an die Zeit gebunden sind, zweitens aber, als Zeichen und Träger einer Bedeutung, alles, was die Welt in sich einschließt (Räumliches und Zeitliches), darstellen können. Daher ist sie die reichste und fruchtbarste Kunst. Ihr Vehikel ist das Wort; dieses arbeitet für den inneren Sinn, das Erinnerungsvermögen, die Einbildungskraft, nicht, wie die Farbe und der Stein, für die äußere Anschauung; aber es bleibt nicht wie der bloße Ton, der durch das Gehör zur Phantasie spricht, bei unbestimmter Innerlichkeit stehn, sondern erhebt sich als festes Zeichen zur Klarheit und Deutlichkeit des Inhalts. Die Poesie ist daher mit der Wissenschaft verwandt; beide empfangen ihre Form von der Sprache, beide bringen das Innere des Menschen zur Darstellung. Aber die Wissenschaft will lehren, und die Poesie will Wohlgefallen hervorrufen. Die Poesie stellt das Schöne dar, die Wissenschaft hingegen das Wahre. Jene ist subjektiv, diese objektiv; dort ist das Gefühl, hier der Verstand die Hauptsache. Einem und demselben Gegenstande gegenüber sind viele Gedichte möglich; die Wissenschaft erstrebt nur eine sachgemäße Darstellung desselben. Der Dichter schafft Werke, deren kleinstes ein Ganzes ist, sofern sich daran die Eigenart des Schöpfers ausspricht; die wissenschaftliche Arbeit dagegen, auch die größte, bleibt im einzelnen Stückwerk. Gegenstand der Dichtung ist das gesamte Innen- und Außenleben. Nach Jakob Grimms (1785-1863) ansprechender Erklärung ist sie »das Leben gefaßt in Reinheit und gehalten im Zauber der Sprache«. Der Dichter selbst muß nach Goethe (Hans Sachsens poetische Sendung) ein kluges, treues Auge und Liebe besitzen, um die Welt klar und rein zu schauen, und eine Zunge haben, die sich leicht und fein in Worte ergießt. Jeder Dichter aber muß mit seiner Nation innerlich zusammenhängen, da sein Mittel nicht ein neutraler Stoff, sondern eine bestimmte, den Geist eines Volkes ausdrückende Sprache ist; der echte Dichter gibt seinem Volke Neues, aber dem Geist des Volkes Entsprechendes. Aus der Nachahmung fremder Poesie ist noch nie wahre Poesie entstanden. – Die poetischen Stoffe sind[447] entweder objektiv oder subjektiv, d.h. der Dichter empfängt den Anstoß zum Schaffen entweder von außen oder von innen. Aus jenem entspringt die epische, aus diesem die lyrische Poesie; durch Verbindung beider entsteht die dramatische, welche Schicksal und Charakter darstellt. Vgl. Epos, Lyrik, Drama.

Die Dichtung kann es in bezug auf äußere Formen den bildenden Künsten nicht gleich tun; sie kann nichts so greifbar bilden wie Architektur und Plastik, nichts so anschaulich vorführen wie die Malerei (vgl. Lessing, Laokoon). Der Dichter muß erst künstlich Vorstellungen anschaulich machen; er bedient sich dazu der Bilder und Gleichnisse (Metaphern, Tropen, Metonymien) und belebt seine Worte durch Personifikationen, durch packende und eindringliche Ausdrücke, durch rhetorische Figuren, durch Rhythmus und Reim. In der Dichtung versuchen sich sehr viele Menschen. Der echte Dichter ist selten und der echte Dramatiker am seltensten. Das Drama ist der Gipfel der Kunst, und nach einem Ausspruch Gottfried Kellers ist es »ein Paradies auf Erden; es ist aber auch verteufelt schwer, hineinzukommen«. Vgl. Epos, Lyrik, Drama.

Quelle: Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 5. Aufl., 1907, S. 447-448. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20003588319


Meyers 1908

[62] Poesie (griech., von poiein, »machen, schaffen«) oder Dichtkunst ist die Kunst der ästhetisch wertvollen Darstellung durch Worte. Ästhetisch wertvoll ist eine solche Darstellung dann, wenn sie in letzter Linie darauf ausgeht, die Gefühlsinhalte des Lebens zu erschließen, und wenn sie weder der logischen Erkenntnis, noch dem ethischen Wollen dienstbar gemacht wird. Über die Bedingungen, unter denen eine derartige ästhetisch befriedigende Darstellung zustande kommt, s. den Artikel »Ästhetik«. Als Kunst der Darstellung durch Worte ist die P. nächstverwandt der Musik, die ja auch in Lauten, nicht in sprachlichen, aber in musikalischen Lauten zu uns redet. Sie ist ebendamit in gewissem Sinne, wie die Musik, eine Kunst der Sukzession, d. h. eine Kunst, welche die Teile des Darzustellenden nicht gleichzeitig, sondern nacheinander uns entgegenführt. Aber die Sukzession ist doch in beiden Fällen wesentlich verschieden: während nämlich in der Musik ein in sich geschlossenes Gebilde nur durch die vollständige Abfolge der in sich einheitlichen und zusammengehörigen Tonreihen zustande kommt, vermag die P. durch den Inhalt der Worte ein Ganzes (etwa die Vorstellung eines Schlosses, einer Person oder auch eines Geschehnisses) vorwegzunehmen, um erst hierauf allmählich die Einzelheiten des Gegenstandes oder Vorganges durch Beschreibung oder Erzählung auszumalen oder zu vervollständigen. Sie setzt ihre Gebilde nicht mosaikartig zusammen, sondern sie weiß unsre Phantasie zwischen Gesamtvorstellungen und Teilvorstellungen gefällig hin und her zu lenken. Die P. unterscheidet sich von der Musik weiterhin dadurch, daß sie nicht, wie diese, nur Inneres, sondern auch Äußeres (sinnlich Wahrnehmbares), nicht lediglich Stimmungen oder allgemeinste Weisen der seelischen Erregung, sondern konkrete Objekte, Vorgänge, individuelle Erlebnisse, inhaltlich vollbestimmte Gedanken, Gefühle etc. zu Gegenständen der Darstellung hat. In dieser Hinsicht tritt die P. mit den bildenden Künsten, Plastik und Malerei, auf eine Linie. Anderseits steht sie im Gegensatz zu diesen Künsten dadurch, daß die P. alles, was sie durch ihr Darstellungsmittel, die Worte, ausdrückt, sei es Äußeres oder Inneres, lediglich unsrer Phantasie vorführt, nicht wie Plastik und Malerei Formen und Farben der Außenwelt unmittelbar den Sinnen darbietet. Auch darf die P. in weit größerm Umfang als die bildenden Künste den abstrakten Gedanken Ausdruck verleihen, wenn diese nur der konkreten Gesamtanschauung dienstbar und untergeordnet bleiben. Ferner ist die P. als Kunst der Sukzession den bildenden Künsten auch in der Darstellung des Äußern insofern überlegen, als sie nicht nur beharrendes Dasein und momentane oder dauernde Zustände, sondern auch Bewegungen, Veränderungen, Vorgänge, Handlungen unmittelbar, obzwar nur für die Phantasie, darzustellen vermag, während die bildenden Künste sich begnügen müssen, aus den dargestellten Zuständen oder Momenten die Bewegungen oder Veränderungen erschließen zu lassen. Die P. kann demnach, was sie verliert, indem sie nur an die Phantasie sich wendet, ganz oder teilweise dadurch wiedergewinnen, daß sie die Darstellung des Geschehens sich angelegen sein läßt. Sie vermag auf diese Weise alles das Schöne und Erhabene, das erst in einem Geschehen oder einem Wechsel des Geschehens, vor allem in seinem eignen sukzessiven Sichausleben und -Auswirken, sei es überhaupt, sei es vollständig, zutage tritt, zum Gegenstand der Darstellung zu machen und sich so über alle andern Künste hinaus zu erweitern und zu vertiefen. In der sukzessiven Darstellungsweise der P. liegt aber auch eine Gefahr, nämlich die Gefahr, daß wir bei der ihr entsprechenden sukzessiven Auffassung des Dargestellten beständig eins über dem andern verlieren, daß dasjenige, was uns jetzt beschäftigt, die Aufmerksamkeit dem Folgenden entzieht oder umgekehrt von ihm völlig verschlungen wird, daß also für unsre Phantasie nur ein bunter Wechsel von Inhalten, niemals ein einheitliches Ganze zustande kommt. Damit diese Gefahr vermieden werde, bedarf es in der P. mehr als in den bildenden Künsten der innern Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen. Es müssen solche Beziehungen die Aufmerksamkeit einerseits nach vorwärts, anderseits ebensowohl nach rückwärts leiten, also Früheres mit Späterem verbinden und zu Einem verweben. Und es genügt nicht, daß das Einzelne mit Einzelnem durch solche Beziehungen verbunden sei, sondern es müssen ebensolche Beziehungen im großen die Verknüpfung herstellen. Trotz aller solcher das Einzelne zum Ganzen verwebender Beziehungen bleibt aber doch in der poetischen Darstellung das Einzelne, weil es nur für die Phantasie besteht und auch an ihr nur vorüberzieht, an sich relativ bedeutungslos. Die einfache Nennung etwa eines Merkmals, eines Dinges oder einer Persönlichkeit im Verlaufe der poetischen Darstellung hat an sich geringe Kraft. Diesem Mangel vermag die P. zu begegnen, indem sie das zu Charakterisierende, statt es nur einfach zu bezeichnen, sukzessive in mannigfacher Weise beleuchtet, es sich entwickeln und jetzt unter diesen, jetzt unter jenen Umständen sich betätigen, jetzt nach dieser, jetzt nach jener Seite seine Eigenart kundgeben läßt. Indem die P. solche verschiedenartige Momente der Darstellung Eines und Desselben nicht nur aneinanderreiht, sondern zugleich durch jene Beziehungen miteinander verwebt, bewirkt sie zugleich, daß diese Momente nicht nur als einzelne wirken, sondern auseinander hinweisen, sich wechselseitig erleuchten, modifizieren, korrigieren und in diesem Zusammenwirken trotz der Sukzession ein sicheres Bild ergeben. Endlich hat die relative Kraftlosigkeit des Einzelnen in der poetischen Darstellung noch die wichtige Folge, daß in der P. das an sich Häßliche oder ästhetisch Unbefriedigende in ungleich höherm Grade möglich, d. h. in ungleich höherm Grade zu positiver, ästhetischer Wirkung verwertbar ist, als in andern Künsten. Je mehr das einzelne Häßliche, wie alles Einzelne überhaupt, an sich zurücktritt, um so mehr kann es Durchgangspunkt werden für ein Schönes, Hintergrund, von dem ein Schönes oder ästhetisch positiv Wertvolles sich abhebt, Boden, aus dem ein solches erwächst, Objekt, an dem es sich betätigt, dem es standhält, oder das durch das positiv Wertvolle überwunden wird und so die Macht des letztern erweist (s. Häßlich). Vor allem gelangt die Tragik (s. d.), der Humor (s. d.) und jede Art des Konfliktes erst in der P. zu voller Bedeutung. Jede Tragik, jeder Humor, jeder Konflikt schließt ja ein an sich Unbefriedigendes oder (im weitern Sinne des Wortes) Häßliches in sich.

Alles in allem erscheint so die P. als die umfassendste, reichste und freieste unter allen Künsten, vor andern dazu befähigt, weite Zusammenhänge des Lebens zu umspannen, anderseits in die Tiefe zu gehen und überall das ästhetisch Wertvolle zu finden und aus Licht zu ziehen. Außer den bezeichneten Mitteln, eine solche Wirkung zu üben, hat die P. im einzelnen noch allerlei andre Mittel. Als Kunst der Sukzession vermag sie in mannigfacher Weise Erwartung zu erregen[62] und bald unmittelbar zu befriedigen, bald zu spannen und eine erhöhte Befriedigung zu erzeugen; sie kann bald rasch vorwärts drängen, bald zurückhalten, jetzt starke Wirkungen häufen, jetzt ein wirkungsvolles Moment ins Einzelne sich ausgestalten und auswirken lassen, einmal lebhaft erregen, dann den Wellenschlag der seelischen Erregung im Hörer in ruhige Bahnen lenken, bald stürmen, bald träumen etc. Der Reichtum der poetischen Sprache, besonders der »ästhetischen Apperzeptionsformen« (s. d.), setzt sie in den Stand, mit großer Freiheit in diesem oder jenem Punkte zu beleben, zu steigern, Phantasie und Gefühl in besonderer Weise anzuregen, die Aufmerksamkeit zu lenken, Wesentliches zu betonen etc.; die poetische Form, die gebundene Rede, auch schon der freiere, durch keine strenge Regel gebundene Rhythmus und Wohlklang schaffen für die Darstellung eine Stimmung, geben ihr ein Kolorit, einen elementaren Gefühlshintergrund, eine begleitende, verstärkende und vereinheitlichende Resonanz. Wie jedes Kunstwerk, so bedarf das poetische der Einheit und der Einheitlichkeit, d. h. des sich Zusammenschließens aller Gedanken oder Motive in einem Punkte oder des Abzielens auf einen solchen, und des Zusammenwirkens aller Elemente der Darstellung, des Stoffes, der Sprache, der äußern Form etc. zu einem in sich einstimmigen Ganzen. Es bedarf anderseits der Gliederung. Wie bei jedem Kunstwerk, so findet auch beim poetischen eine Auswahl dessen statt, was in ihm zur Einheit sich verbindet und in die Gliederung eingeht; ein Herausheben des Bedeutungsvollen, anderseits ein »ästhetisches Negieren«. Das Mittel zu solchem Negieren ist bei ihr das denkbar einfachste; es besteht im Verschweigen. Übrigens kann die P. wegen des Reichtums verknüpfender Beziehungen, die ihr zu Gebote stehen, und wegen der Freiheit in ihrer Verwendung in besonderm Maße nicht nur vieles, sondern auch räumlich, qualitativ und schließlich selbst zeitlich weit Entlegenes zur Einheit verbinden, Fäden da und dort scheinbar zusammenhangslos anspinnen und schließlich doch sie alle in einen einheitlichen Zusammenhang verweben. Auch dies ist dem poetischen Kunstwerk mit andern gemein, daß es ein in sich abgeschlossenes Ganze sein muß, d. h. vor allem so beschaffen, daß es ohne Hinzudenken oder Hinzudichten seitens des Hörers oder Lesers aus sich selbst verständlich ist und keine Frage, deren Beantwortung zur einheitlich abgeschlossenen ästhetischen Wirkung erforderlich ist, in ihm unbeantwortet bleibt. Die Art der Einheit und Abgeschlossenheit, wie überhaupt jede an das poetische Kunstwerk zu stellende Forderung modifiziert sich je nach der Besonderheit der poetischen Gattung. Die Grundgattungen sind die lyrische, die epische, die dramatische und die didaktische Dichtung. Über sie wie über ihre Unterarten (Lyrik, Epos, Roman, Novelle, Märchen, Drama, Lehrgedicht etc.) vgl. die betreffenden Artikel.

Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 62-63. Permalink: http://www.zeno.org/nid/2000726710X


Brockhaus 1911

[426] Poësīe (grch.), jede Art künstlerischer Tätigkeit; insbes. dichterisches Schaffen, daher s.v.w. Dichtkunst, Dichtung; zerfällt als solche in drei Hauptarten: Epos, Lyrik und Drama. Die Lehre von der P. ist die Poetik (s.d.).

Quelle: Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon, fünfte Auflage, Band 2. Leipzig 1911., S. 426. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20001453882