Lied

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Sulzer 1774

[713] Lied. (Dichtkunst)

Man hat diesen Namen so mancherley lyrischen Gedichten gegeben, daß es schweer ist den eigentlichen Charakter zu zeichnen, der das Lied von den ihm verwandten Gedichten, der Ode und dem Hymnus, unterscheidet. Wir haben schon mehrmal erinnert, daß sich die Gränzen zwischen den Arten der Dinge, die nur durch Grade von einander unterschieden sind, nicht genau bestimmen lassen.1 Die Ode und das Lied haben so viel gemeinschaftliches, daß sowol der eine, als der andre dieser beyden Namen, für gewisse Gedichte sich gleich gut zu schiken scheinet. Unter den Gedichten des Horaz, die alle den Namen der Oden haben, sind auch Lieder begriffen, und einige kommen auch in der Sammlung vor, die Klopstok unter der allgemeinen Aufschrift Oden, herausgegeben hat.2 Will man aber das Lied von der Ode würklich unterscheiden, so könnten vielleicht folgende äußerliche und innerliche Kennzeichen für dasselbe angenommen werden.

Zur äußern Unterscheidung könnte man annehmen, daß das Lied allezeit müßte zum Singen, und so eingerichtet seyn, daß die Melodie einer Strophe, sich auch auf alle übrigen schikte; da die Ode entweder blos zum Lesen dienet, oder, wenn sie soll gesungen werden, für jede Strophe einen besondern Gesang erfodert. Nach diesem angenommenen Grundsaz würde das Lied sich von der Ode in Absicht auf das Aeußerliche, oder Mechanische, sehr merklich unterscheiden. Denn jeder Vers des Liedes, müßte einen Einschnitt in dem Sinn, und jede Strophe eine eigene Periode ausmachen, oder noch besser würde jede Strophe in zwey Perioden eingetheilt werden, da jede sich mit einer langen Sylben endigte, weil die Cadenz des Gesanges dieses erfodert.3 Die Ode bindet sich nicht an diese Regel; ihr Vers macht nicht allemal Einschnitte in dem Sinn, und ihre Strophen richten sich nicht nach den Perioden. Ferner müßte in dem Liede die erste Strophe in den Einschnitten, Abschnitten, und Schlüßen der Perioden, allen übrigen zum Muster dienen. In der Ode hingegen würden die verschiedenen Strophen sich blos in Absicht auf das mechanische Metrum gleich seyn, ohne alle Rüksicht auf das Rhythmische, das aus dem Sinn der Worte entsteht. Endlich würde das Lied die Mannigfaltigkeit der Füße nicht zulassen, welche die Ode sich erlaubt; sondern in allen Versen durchaus einerley Füße beybehalten, außer daß etwa der Schlußvers jeder Strophe ein andres Metrum hätte, wie in der Sapphischen Ode. Denn eine solche Gleichförmigkeit ist für den leichten Gesang sehr vortheilhaft. Eine gründliche Anzeige der äusserlichen Eigenschaften des Liedes, das sich vollkommen für die Musik schiket, findet sich in der Vorrede zu den 1760 in Berlin bey Birnstiel herausgekommenen Oden mit Melodien.

Mit diesem äußerlichen Charakter des Liedes müßte denn auch der innere genau übereinstimmen, und in Absicht der Gedanken und Aeußerung der Empfindungen würde eben die Gleichförmigkeit und Einfalt zu beobachten seyn. Alles müßte durchaus in einem Ton des Affekts gesagt werden; weil durchaus dieselbe Melodie wiederholt wird. Die Ode erhebt sich bisweilen auf einigen Stellen hoch über den Ton des andern, auch verstattet sie wol gar mehrere leidenschaftliche Aeußerungen von verschiedener Art, so daß eine Strophe sanft fließt, da die andern ungestühm rauschen. Der hohe und ungleiche Flug der Ode, kann im Lied nicht statt haben. So stark, oder so sanft die Empfindung im Anfange desselben ist, muß sie durchaus fortgesezt werden.

Der Geist des eigentlichen Liedes, in so fern es von der Ode verschieden ist, scheinet überhaupt darin zu bestehen, daß der besungene Gegenstand durchaus derselbige bleibet, damit das Gemüth dieselbe Empfindung lange genug behalte, um völlig davon durchdrungen zu werden, und damit der Gegenstand der Empfindung von mehreren, aber immer dasselbe würkenden Seiten, betrachtet werden.

Schon daraus allein, daß man von dem Lied erwartet, es soll eine einzige leidenschaftliche Empfindung eine Zeitlang im Gemüth unterhalten, und eben da durch dieselbe allmählig tiefer und tiefer einprägen, bis die ganze Seele völlig davon eingenommen und beherrschet wird, könnten fast alle Vorschriften [713] für den Dichter hergeleitet werden. Soll es z.B. das Herz ganz von Dankbarkeit gegen Gott erfüllen, so dürfte der Dichter nur durch das ganze Lied die verschiedenen göttlichen Wolthaten in einem recht rührenden Ton erzählen; wobey er sich aber auch nicht die geringste von den Ausschweifungen auf andre Gegenstände, die der Ode so gewöhnlich sind, erlauben müßte. Soll das Lied Muth zum Streit machen, so müßte durchaus entweder Haß gegen den Feind, oder Vorstellung von der Glükseeligkeit, der durch den Streit zu erkämpfenden Ruhe und Freyheit, oder andre Vorstellungen, wodurch der Muth unmittelbar angeflammt wird, ohne Abweichung auf andre Dinge vorgetragen werden. Es ist überhaupt nothwendig, daß der Dichter von der Empfindung, die er durch das Lied unterhalten und allmählig verstärken will, selbst so ganz durchdrungen sey, daß alle andre Vorstellungen und Empfindungen alsdenn völlig ausgeschlossen bleiben; daß er nichts, als das einzige, was er besingen will, fühle; daß er ein völliges uneingeschränktes Gefallen an dieser Empfindung habe, und ihr gänzlich nachhange. In der Ode kann sich seine Laune, ehe er zu Ende kommt, mehr als einmal ändern; im Lied muß sie durchaus dieselbe seyn.

Wenn man bedenket, wie wenig ofte dazu erfodert wird, die Menschen in leidenschaftliche Empfindung zu sezen;4 und wie leicht es ist, eine einmal vorhandene Laune durch Dinge, die ihr schmeicheln, immer lebhafter zu machen, so wird man begreifen, daß zum Inhalt des Liedes wenig Veranstaltungen erfodert werden. Es giebt mancherley Gelegenheiten, besonders wenn mehrere Menschen in einerley Absicht versammlet sind, wo ein Wort, oder ein Ton, alle plözlich in sehr lebhafte Empfindung sezet. Bey traurigen Gelegenheiten, wo jedermann in stiller und ruhiger Empfindung für sich staunet, darf nur einer anfangen zu weinen, um allen übrigen Thränen abzuloken; so wie bey gegenseitigen Anläsen, das Lachen eines einzigen, eine ganze Gesellschaft lachen macht. Man hat Beyspiele, daß die Aeußerung der Furcht, oder des Muthes eines einzigen Menschen ganze Schaaren furchtsam, oder beherzt gemacht hat. Und wie ofte geschieht es nicht, daß man in Gesellschaft vergnügt und fröhlich ist, lacht und scherzet; oder im Gegentheil, daß Leute aufgebracht sind, Meuterey und Aufruhr anfangen, ohne eigentlich zu wissen warum. Ein einziger hat den Ton angegeben, und die übrigen sind davon angestekt worden.

Hieraus ist abzunehmen, daß bey gewissen Gelegenheiten, ein Lied, wenn es nur den wahren Ton der Empfindung hat, auch ohne besondere Kraft seines Inhalts, ungemein große Würkung thun könne; woraus denn ferner folget, daß der empfindungsvolle Ton, worin die Sachen vorgetragen werden, dem Lied die größte Kraft gebe. Darum sind da, weder tiefsinnige Gedanken, noch Worte von reichem Inhalt, noch kühne Wendungen, noch andre der Ode vorbehaltene Schönheiten nöthig. Das einfacheste ist zum Lied das beste, wenn es nur sehr genau in dem Ton der Empfindung gestimmt ist.

Der Inhalt des Liedes kann von zweyerley Art seyn. Entweder schildert der Dichter seine vorhandene Empfindung, seine Liebe, Freude, Dankbarkeit, Fröhlichkeit u.s.f. oder er besinget den Gegenstand, der ihn, oder andern, in die leidenschaftliche Empfindung sezen soll; oder es enthält wol auch nur bloße Betrachtungen solcher Wahrheiten, die das Herz rühren. Denn wir möchten diese lehrenden Lieder nicht gern verworffen sehen; obgleich unser größte Dichter5 sie nicht zulassen will. Aus diesen drey Arten entsteht die vierte, da der Inhalt des Liedes abwechselnd, bald von der einen, bald von der andern Art ist. Bey allen Arten muß der Ausdruk einfach, ungekünstelt, und so viel immer möglich durch das ganze Lied sich selbst gleich seyn. Alles muß in kurzen Säzen, wo die Worte natürlich und leicht zusammengeordnet sind, ausgedrukt werden: die Schilderungen müssen kurz und höchst natürlich seyn. Es muß nichts vorkommen, das die Aufmerksamkeit auf erforschendes Nachdenken leiten, folglich von der Empfindung abführen könnte. Deswegen sowol der eigentliche, als der figürliche Ausdruk mit allen Bildern bekannt und geläufig seyn muß. Wo der Dichter lehren, unterrichten, oder überreden will, muß er höchst popular seyn, und den Sachen mehr durch einen völlig zuversichtlichen Ton, als durch Gründe den Nachdruk geben. Sezet man zu diesem noch hinzu, daß das Lied, sowol in der Versart, als in dem Klang der Worte, den leichtesten Wolklang haben müsse, so wird man den innerlichen und äußerlichen Charakter desselben ziemlich vollständig haben. [714] Daß das nach diesem Charakter gebildete und von Musik begleitete Lied eine ausnehmende Kraft habe, die Gemüther der Menschen völlig einzunehmen, ist eine aus Erfahrung aller Zeiten und Völker bekannte Sache: denn schon der Gesang, ohne vernehmliche Worte, so wie er sich zum Lied schiket, (wovon im nächsten Artikel besonders gesprochen wird) hat eine große Kraft Empfindung zu erweken: kommen nun noch die eigentlichsten auf denselben Zwek abziehlenden Vorstellungen dazu, und wird beydes durch das Bestreben des Singenden, seine Töne recht nachdrüklich, recht empfindungsvoll vorzutragen, noch mehr gestärket; so bekommt das Lied eine Kraft der in dem ganzen Umfange der schönen Künste nichts gleich kommt. Denn das blos Mechanische des Singens führet schon etwas, den Affekt immer mehr verstärkendes, mit sich. Die höchste Würkung aber hat dasjenige Lied, welches von vielen Menschen zugleich feyerlich abgesungen wird; weil alsdenn, wie anderswo gezeiget worden,6 die leidenschaftlichen Eindrüke am stärksten werden, wenn mehrere zugleich sie äußern.

Unter die wichtigsten Gelegenheiten großen Nuzen aus den Liedern zu ziehen, sind die gottesdienstlichen Versammlungen, zu deren Behuf unter allen gesitteten Völkern alter und neuer Zeiten, besondere Lieder verfertiget worden. Von allen zu Erwekung und Bekräftigung wahrer Empfindungen der Religion gemachten, oder noch zu machenden Anstalten, ist gewiß keine so wichtig, als diese. Schon dadurch allein, daß jedes Glied der Versammlung das Lied selbst mitsingt, erlanget es eine vorzügliche Kraft über die beste Kirchenmusik, die man blos anhört. Denn es ist ein erstaunlicher Unterschied zwischen der Musik, die man hört, und der, zu deren Aufführung man selbst mitarbeitet. Die geistlichen Lieder, die blos rührende Lehren der Religion in einem andächtigen Ton vortragen, bekommen durch das Singen eine große Kraft; denn in dem wir sie singen, empfinden wir auch durch das bloße Verweilen auf jedem Worte, seine Kraft weit stärker, als beym Lesen.

Deswegen sollten die, denen die Veranstaltungen dessen, was den öffentlichen Gottesdienst betrift, aufgetragen sind, sich ein ernstliches Geschäft daraus machen, alles was hiezu gehöret auf das Beste zu veranstalten. Unsre Vorältern scheinen die Wichtigkeit dieser Sache weit nachdrüklicher gefühlt zu haben, als man sie izt fühlt. Die Kirchenlieder, und das Absingen derselben, wurden vor Zeiten als eine wichtige Sach angesehen, izt aber wird dieses sehr vernachläßiget. Zwar haben unlängst einige unsrer dichter, durch das Beyspiel des verdienstvollen Gellerts ermuntert, verschiedene Kirchenlieder verbessert, auch sind ganz neue Sammlungen solcher Lieder gemacht worden: und es fehlet in der That nicht an einer beträchtlichen Anzahl alter und neuer sehr guter geistlicher Lieder. Aber der Gesang selbst wird bey dem Gottesdienst fast durchgehends äusserst vernachläßiget; ein Beweiß, daß so mancher Eyferer, der alles in Bewegung sezet, um gewisse in die Religion einschlagende Kleinigkeiten nach alter Art zu erhalten, nicht weiß was für einen wichtigen Theil des Gottesdienstes er überstehet, da er den Kirchengesang mit Gleichgültigkeit in seinem Verfall liegen läßt.

Nächst den geistlichen Liedern kommen die, welche auf Erwekung und Verstärkung edler Nationalempfindungen abziehlen, vornehmlich in Betrachtung. Die Griechen hatten ihre Kriegesgesänge und Päane, die sie allemal vor der Schlacht zur Unterstüzung des Muthes feyerlich absangen, und ohne Zweifel hatten sie auch noch andre auf Unterhaltung warmer patriotischer Empfindungen abziehlende Lieder, die sowol bey öffentlichen- als privat- Gelegenheiten angestimmt wurden. Auch unsre Vorältern hatten beyde Gattungen: die Barden, deren Geschäft es war, solche Lieder zu dichten, und die Jugend im Absingen derselben zu unterrichten, machten einen sehr ansehnlichen öffentlichen Stand der bürgerlichen Gesellschaft aus. Wenn unsre Zeiten vor jenen, einen Vorzug haben, so besteht er gewiß nicht darin, daß diese und noch andre politische Einrichtungen, die auf Befestigung der Nationalgesinnungen abziehlen, izt völlig in Vergessenheit gekommen sind. Aber wir müssen die Sachen nehmen, wie sie izt stehen. Man muß izt blos von wolgesinnten, ohne öffentlichen Beruf und ohne Aufmunterung, aus eigenem Trieb arbeitenden Dichtern, dergleichen Lieder erwarten. Unser Gleim hat durch seine Kriegeslieder das seinige gethan, um in diesem Stük die Dichtkunst wieder zu ihrer ursprünglichen Bestimmung zurük zu führen. Durch sein Beyspiel ermuntert, hat Lavater ein warmer Republicaner, für seine Mitbürger patriotische Lieder gemacht, darin viel Schäzbares ist. Es ist zu wünschen, [715] daß diese Beyspiele mehrere Dichter, die außer dem poetischen Genie wahre Vernunft und Rechtschaffenheit besizen, zur Nachfolge reize.

Die dritte Stelle könnte man den sittlichen Liedern einräumen, welche Aufmunterungen entweder zu allgemeinen menschlichen Pflichten, oder zu den besondern Pflichten gewisser Stände enthalten, oder die die Annehmlichkeiten gewisser Stände und Lebensarten besingen. Diese müssen, wenn man nicht die natürliche Ordnung der Dinge verkehren will, den bloßen Ermunterungen zur Freude vorgezogen werden. Noch ehe man ein: Brüder laßt uns lustig seyn, anstimmt, welches allerdings auch seine Zeit hat, sollte man ein: Brüder laßt uns fleißig, oder redlich seyn, gesungen haben. Man findet daß die Griechen Lieder für alle Stände der bürgerlichen Gesellschaft, und für alle Lebensarten gehabt haben,7 die zwar, wie aus einigen Ueberbleibseln derselben zu schließen ist, eben nicht immer von wichtigem Inhalt gewesen: aber darum sollte eine so nüzliche Sache nicht völlig versäumt, sondern mit Verbesserung des Inhalts nachgeahmt werden. Man hat ein so leichtes und doch so kräftiges Mittel, die Menschen zum Guten zu ermuntern, nicht so sehr vernachläßigen sollen. Es ist bereits im Artikel über die Leidenschaften erinnert worden, was einer der fürtrefflichsten Menschen, der zugleich ein Mann von großem Genie ist, von der Wichtigkeit solcher Lieder denkt. Man wird schwerlich ein würksameres und im Gebrauch leichteres Mittel finden, als dieses ist, die Gesinnungen und Sitten der Menschen zu verbessern. Ich besinne mich in einer vor nicht gar langer Zeit herausgekommenen Sammlung englischer Gedichte von einem gewissen Hamilton ein Lied von ausnehmender Schönheit gelesen zu haben, darin ein edles junges Frauenzimmer den Charakter des Jünglings schildert, den sie sich zum Gemahl wählen wird. Es ist so voll edler Empfindungen, und sie sind in einen so einnehmenden Ton vorgetragen, daß ich mir nicht vorstellen kann, wie ein junges Frauenzimmer ein solches Lied, zumal wenn es gut in Musik gesezt wäre, ohne merklich nüzlichen Einfluß auf ihr Gemüth, singen könnte. Zu wünschen wäre, daß jede Angelegenheit des Herzens auf eine so einnehmende und rührende Weise in Liedern behandelt würde. Hier öffnet sich ein unermeßliches Feld für Dichter, die die Gabe besizen ihre Gedanken in leichte und melodiereiche Verse einzukleiden. Zunächst an diese Gattung gränzen die sanften affektvollen Lieder, deren Charakter Zärtlichkeit ist. Klagelieder über den Tod einer geliebten Person; Liebeslieder von wahrer Zärtlichkeit, durch seine sittliche Empfindungen veredelt; Klagen über Wiederwärtigkeit; freudige Aeußerungen über erfüllte Wünsche und dergleichen. Man hat in dieser Art Lieder von der höchsten Schönheit. Was kann z. E. einnehmender seyn, als der Abschied von der Nice des Metastasio? Alles, was von wolgeordneten zärtlichen Empfindungen der edelsten Art in das menschliche Herz kommen kann, werden recht gute Liederdichter in dieser Art anbringen können. Sie können ungemein viel zur Veredlung der Empfindungen beytragen. Und wenn auch zulezt nichts darin seyn sollte, als eine naive Aeußerung irgend einer unschuldigen Empfindung, so sind sie wenigstens höchst angenehm. Hievon will ich nur ein paar Beyspiele zum Muster anführen. Das eine ist das bekannte Lied: Siehst du jene Rosen blühn; das andere ein Lied aus der comischen Oper die Jagd, das anfängt: Schön sind Rosen und Jesminen.

Eine ganz besondere Annehmlichkeit und Kraft Empfindungen einzupflanzen, könnten solche Lieder haben, wo zwey Personen abwechselnd singen und mit einander um den Vorzug feiner und edler Empfindungen streiten. Man weiß wie sehr Scaliger von dem Horazischen Lied: Donec gratus eram tibi,8 gerührt worden: und doch ist es im Grund blos naiv. So könnte aus Klopstoks Elegie Selmar und Selma ein fürtreffliches Lied in dieser Art gemacht werden; und so könnte man zwey in einander verliebte Personen in abwechselnden Strophen singen lassen, da jede auf eine ihr eigene Art zwar natürliche, aber feine und edle Empfindungen äusserte; oder zwey Jünglinge einführen, die wetteyfernd die liebenswürdigen Eigenschaften ihrer Schönen besängen. Offenbar ist es, wie dergleichen Gesänge, wenn der Dichter Verstand und Empfindung genug hat, von höchstem Nuzen seyn könnten. Nur müßte man sich dabey auf der einen Seite nicht bey blos sinnlichen [716] Dingen, einem Grübchen im Kinn, oder einem schönen Busen, aufhalten und immer mit dem Amor, mit Küssen und den Grazien spielen; noch auf der andern Seite seine Empfindungen ins phantastische treiben und von lauter himmlischen Entzükungen sprechen. Die Empfindungen, die man äußert, müssen natürlich und nicht im Enthusiasmus eingebildet seyn; nicht auf bloß vorübergehende Aufwallungen, sondern auf dauerhafte, rechtschaffenen Gemüthern auf immer eingeprägte Züge des Charakters gegründet seyn. Hier wär also für junge Dichter von edler Gemüthsart noch Ruhm zu erwerben. Denn dieses Feld ist bey der ungeheuren Menge unsrer Liebeslieder, noch wenig angebaut.

Zulezt stehen die Lieder, die zum gesellschaftlichen Vergnügen ermuntern. Diese, auch selbst die artigen Trinklieder, wenn sie nur die, von der gesunden Vernunft gezeichneten Gränzen einer wolgesitteten Fröhlichkeit nicht überschreiten, sind schäzbar. Die Fröhlichkeit gehört allerdings unter die Wolthaten des Lebens, und kann einen höchst vortheilhaften Einflus auf den Charakter der Menschen haben. Der hypochondrische Mensch ist nicht blos dadurch unglüklich, daß er seine Tage mit Verdruß zubringt; ihn verleitet der Verdruß sehr oft unmoralisch zu denken, und zu handeln. Wol ihm, wenn die Dichter der Freude sein Gemüth bisweilen erheitern könnten!

Aber es ist nicht so leicht, als sich der Schwarm junger unerfahrner Dichter einbildet, in dieser Art etwas hervorzubringen, das den Beyfall des vernünftigen und feineren Theils der Menschen verdienet. Nur gar zu viel junge Dichter in Deutschland haben uns läppische Kindereyen, anstatt scherzhafter Ergözlichkeiten gegeben; andre haben sich als ekelhafte, grobe Schwelger, oder einem würklich liederlichen Leben nachhängende verdorbene Jünglinge gezeiget, da sie glaubten eine anständige Fröhlichkeit des jugendlichen und männlichen Alters zu besingen. Es ist nichts geringes auf eine gute Art über gewisse Dinge zu scherzen, und bey der Fröhlichkeit den Ton der feineren Welt zu treffen. Wer nicht lustig wird, als wann er im eigentlichen Verstand schwelget; wen die Liebe nicht vergnügt, als durch das Gröbste des thierischen Genusses, der muß sich nicht einbilden mit Wein und Liebe scherzen zu können. Mancher junge deutsche Dichter glaubt, die feinere Welt zu ergözen, und Niemand achtet seiner, als etwa Menschen von niedriger Sinnesart, die durch die schönen Wissenschaften so weit erleuchtet worden, daß sie wissen, was für Gottheiten Bachus, Venus und Amor sind. Aber wir haben uns hierüber schon anderswo hinlänglich erkläret.9 Der große Haufen unsrer vermeintlich scherzhaften Liederdichter verdienet nicht, daß man sich in umständlichen Tadel ihrer kindischen Schwermereyen einlasse. Unser Hagedorn kann auch in dieser Art zum Muster vorgestellt werden. Seine scherzhaften Lieder sind voll Geist, und verrathen einen Mann, der die Fröhlichkeit zu brauchen gewußt hat, ohne sie zu mißbrauchen. Aber hierin scheinen die französischen Dichter an naivem, geistreichem und leichtem Scherz alle andern Völker zu übertreffen. Man hat eine große Menge ungemein schöner Trinklieder von dieser Nation.

Die blos wizig scherzhaften Lieder, worin außer einigen schalkhaften Einfällen auch nichts ist, das zur Fröhlichkeit ermuntert, verdienen hier gar keine Betrachtung, und gehören vielmehr in die geringste Classe der Gedichte, davon wir unter dem Namen Sinngedichte sprechen werden. Zu dieser Art rechnen wir z.B. das X Lied im ersten Theil der vorherangezogenen Berlinischen Sammlung einiger Oden mit Melodien, welches zur Aufschrift hat: Kinderfragen und noch mehrere dieser Sammlung. Noch weniger rechnen wir in die Classe der nüzlichen Lieder diejenigen, die persönliche Satyren enthalten; wie so viele Vaudevilles der französischen Dichter. Sie sind ein Mißbrauch des Gesanges.

Unsere heutige Meister und Liebhaber der Musik machen sich gar zu wenig aus den Liedern. In keinem Concert höret man sie singen: rauschende Concerte, mit nichtsbedeutenden Symphonien untermischt, und mit Opernarien abgewechselt, sind der gewöhnliche Stoff der Concerte, die deswegen von gar viel Zuhörern mit Gleichgültigkeit und Gähnen belohnt werden. Glauben dann die Vorsteher und Anordner dieser Concerte, daß sie sich verunehren würden, wenn sie dabey Lieder singen ließen? Und können sie nicht einsehen, wie wichtig sie dadurch das machen könnten, was izt blos ein Zeitvertreib ist und ofte so gar dieses nicht einmal wäre, wenn die Zuhörer sich nicht noch auf eine andre Weise dabey zu helfen wüßten? Daß man sich in Concerten der Lieder schämet, beweißt, daß die Tonkünstler selbst nicht mehr wissen, woher ihre Kunst entstanden ist, und wozu sie dienen soll; daß sie lieber, wie Seiltänzer [717] und Taschenspieler, Bewunderung ihrer Geschiklichkeit in künstlichen Dingen, als den hohen Ruhm suchen, in den Herzen der Zuhörer jede heilsame und edle Empfindung rege zu machen. Man erstaunet bisweilen zu sehen, in was für Hände die göttliche Kunst das menschliche Gemüth zu erhöhen, gefallen ist!

Das Lied scheinet die erste Frucht des aufkeimenden poetischen Genies zu seyn. Wir treffen es bey Nationen an, deren Geist sonst noch zu keiner andern Dichtungsart die gehörige Reife erlanget hat; bey noch halb wilden Völkern. In dem ältesten Buch auf der Welt, welches etwas von der Geschichte der ersten Kindheit des menschlichen Geschlechts erzählt, haben Sprach- und Alterthumsforscher, Spuhren der urältesten Lieder gefunden, und Herodotus gedenkt im zweyten Buche seiner Geschichten eines Liedes, das auf den Tod des einzigen Sohnes des ersten Königs von Aegypten gemacht worden. Die Griechen waren überausgroße Liebhaber der Lieder. Bey allen ihren Festen, Spielen, Mahlzeiten, fast bey allen Arten gesellschaftlicher Zusammenkünfte, wurde gesungen; worüber man in der vorhererwähnten Abhandlung des La Nauze umständliche Nachrichten findet. Ein neuer Schriftsteller10 versichert, daß die heutigen Griechen, noch in diesem Geschmak sind. Auch die älteren Araber waren große Liederdichter; der Barden unter den alten Celtischen Völkern ist bereits erwähnt worden. Die Römer, die überhaupt ernsthafter, als die Griechen waren, scheinen sich weniger aus dem Singen gemacht zu haben. Man nennt uns funfzig Namen eben so vieler Arten griechischer Lieder, deren jede ihre besondere Form und ihren besondern Inhalt hatte, aber keinen ursprünglich Römischen. Unter den heutigen Völkern sind die Italiäner, Franzosen, und Schottländer die größten Liebhaber der Lieder. In Deutschland hingegen ist der Geschmak für diese Gattung sehr schwach, und es ist überaus selten, das man in Gesellschaften singt. Dennoch haben unsre Dichter diese Art der Gedichte nicht verabsäumet. Hr. Ramler hat eine ansehnliche Sammlung unter dem Namen der Lieder der Deutschen herausgegeben. Aber die meisten scheinen mehr aus Nachahmung der Dichter andrer Nationen, als aus wahrer Laune zum Singen, entstanden zu seyn. Nur in geistlichen Liedern haben sowol ältere Dichter um die Zeit der Kirchenverbesserung, als auch einige Neuere, sich auf einer vortheilhaften Seite, und mehr, als bloße Nachahmer gezeiget.

  • 1 S. Art. Gedicht S. 435.
  • 2 z. B. der Schlachtgesang S. 71; Heinrich der Vogler S. 111; Vaterlandslied. S. 214. sind besser Lieder, als Oden zu nennen.
  • 3 S. ⇒ Cadenz.
  • 4 S. ⇒ Empfindung, ⇒ Leidenschaft.
  • 5 Klovstok in der Vorrede zu seinen verbesserten geistlichen Liedern.
  • 6 S. ⇒ Leidenschaft.
  • 7 Eine ziemlich vollständige Nachricht davon findet man in einer Abhandlung des Herrn La Nauze über die Lieder der Griechen in dem IX Theile der Memoires de l'Academie des Inscriptions et Belles-Lettres.
  • 8 Od. L. III. 19.
  • 9 S. ⇒ Freude.
  • 10 Porter in seinen Anmerkungen über die Türken.

Quelle: Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 713-718. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20011447133


Wolff, Poetischer Hausschatz des deutschen Volkes (1844)

"Der Charakter des Liedes gründet sich auf die Darstellung eines einzigen bestimmten, bestimmt ausgesprochenen Gefühls unter der Einheit einer möglichst vollkommenen ästhetischen Form, welche für den Gesang geeignet seyn muß. Jene Empfindung nun nach seinen verschiedenen Richtungen und Eigenschaften hin ausgesprochen, bildet den Stoff oder Inhalt des Liedes, und mit ihm muß der Ton, d.h. die Art und Weise der Behandlung und des dichterischen Vortrages in genauer Uebereinstimmung stehen."

Es kann sich über alle Gegenstände des inneren u. äußeren Lebens erstrecken. Geläufige Einteilung: Geistliche / weltliche Lieder.


Adelung 1793

Lied (1), das

[2063] 1. * Das Lied, des -es, plur. die -er, ein nur in einigen Gegenden, z.B. Meißens, übliches Wort, einen Tisch, und besonders den Tisch, oder die Bank zu bezeichnen, worauf die Fleischer ihr Fleisch feil haben. So heißt es in einer der neuesten Dresdener Fleischer-Ordnungen: Die Fleischer sollen das gute und schlechte Fleisch nicht unter einander auf das Liet (Lied) legen. – Er soll es auf die Bank oder Liet bringen. S. Laden, das Hauptwort, zu dessen Geschlechte es zu gehören scheinet.

Quelle: Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 2. Leipzig 1796, S. 2063. Permalink: http://www.zeno.org/nid/2000029909X


Lied (2), das

[2063] 2. * Das Lied, des -es, plur. die -er, ein im Hochdeutschen veraltetes Wort, ein Glied, ein Gelenk, und einen vermittelst eines Gelenkes oder Gewindes beweglichen Deckel zu bezeichnen. S. Glied und Augenlied.

Quelle: Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 2. Leipzig 1796, S. 2063. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20000299103


Lied (3), das

[2063] 3. Das Lied, des -es, plur. die -er, Diminut. Liedchen, im Plural auch wohl Liederchen, Oberd. Liedlein. 1) In der eigentlichsten und weitesten Bedeutung, alles was gesungen wird, melodisch hervor gebrachte Töne; in welcher Bedeutung, doch nur in der höhern Schreibart, die melodischen Töne mancher Vögel ein Lied oder Lieder genannt werden. Die Nachtigall singt ihr zährtliches Lied. 2) In engerer Bedeutung, ein jedes zum[2063] Singen bestimmtes Gedicht. Das hohe Lied Salomonis. In dieser Bedeutung pflegt man nur noch in der dichterischen Schreibart ein jedes Gedicht zuweilen ein Lied zu nennen. 3) In noch engerer und gewöhnlicherer Bedeutung, ein zum Singen bestimmtes Gedicht, welches Empfindungen schildert, besonders wenn es in Strophen abgetheilet ist, welche insgesammt nach Einer Melodie gesungen werden können; zum Unterschiede von einer Ode, einem Psalme u.s.f. Ein geistliches Lied, welches auch in engerer Bedeutung ein Gesang, Nieders. ein Salm, genannt wird. Ein weltliches Lied. Das Schäferlied, Heldenlied, Trinklied, Hochzeitlied, Siegeslied, Loblied, Morgenlied u.s.f. Davon kann ich auch ein Liedchen singen, figürlich, ich habe solches auch erfahren. Das ist das Ende vom Liede, das ist der Beschluß, der letzte Ausspruch, wobey es bleiben soll; wofür man im geschmacklosen Scherze auch wohl umgekehrt sagt, das ist das Lied vom Ende. Anm. Bey dem Ottfried und Notker Lied, bey andern Lioth, im Nieders. Leed, im Isländ. Liod, im mittlern Lat. Leudus. Gottsched leitete es von dem vorigen Lied, Glied, her, weil es aus Strophen, als so vielen Gliedern und Gelenken bestehe. Allein es ist wohl unstreitig, daß es zu dem Geschlechte der Wörter laut, Laute, lauten u.s.f. gehöret, und überhaupt den melodischen Klang der Stimme ausdruckt. Bey dem Ottfried heißen daher Lieder im Plural noch Ludila, und das Isländ. Liod bedeutet auch die Musik überhaupt.

Quelle: Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 2. Leipzig 1796, S. 2063-2064. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20000299111


Ernst Kleinpaul, Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst, 1843

I. Das Lied.


{Einfachheit}

§. 119. Das Lied drückt in einer einfachen, aber möglichst vollendeten und für den Gesang geeigneten Form eine einzelne, bestimmte Empfindung aus. Einfachheit in jeder Hinsicht ist das wesentliche Erforderniß aller Gedichte, die den Namen Lied beanspruchen. Gewöhnliche Lebensverhältnisse und Ereignisse, überhaupt Gegenstände, die dem Gemüthe nahe liegen, werden die Anknüpfungspunkte der zu schildernden Empfindung bilden. Und diese Empfindung, wenn auch nach verschiedenen Beziehungen hin ausgesprochen, wird (in Rücksicht dieser Beziehungen) doch eine harmonische, ihr Erguß ein natürlicher, ruhiger, sanfter sein.

§. 120. Wie die Empfindung selbst, so muß auch der Ausdruck derselben sich durch Einfachheit charakterisiren. Das Gefühl, nicht die Jdee hat im Liede die Herrschaft; deshalb werden Gehalt und Gang der Gedanken, so wie die gebrauchten Bilder der gewöhnlichen Sphäre des Menschenlebens gemäß sein. Daß diese Forderung nur bei einer durchaus ungekünstelten, einfachen, aber nichts desto weniger vollendeten Form ihre befriedigende Lösung finden kann, ist an sich klar, wir beschränken uns deshalb in dieser Hinsicht auf folgende Bemerkungen: Der Umstand, wonach das Lied zugleich (oder vorzugsweise) für den Gesang mit bestimmt ist, macht nicht nur die strophische Abtheilung der Verse nothwendig, sondern auch die vollständige, metrische Uebereinstimmung der correspondirenden Verse mindestens wünschenswerth. Nur Abweichungen sehr unbedeutender Art sind in einzelnen Fällen hier zulässig.


{Versmaß}

§. 121. Wie der äußere Bau der Verse, so nimmt auch der innere Charakter derselben des Dichters volle Aufmerksamkeit in Anspruch, mit andern Worten, das Versmaaß muß möglichst dem Jnhalt des Liedes gemäß gewählt werden. Bestimmte Vorschriften und ausschließende Bestimmungen lassen sich hierüber zwar nicht aufstellen; doch möchte im Allgemeinen Folgendes maaßgebend sein: Sanften, weichen Gefühlen, namentlich aber Empfindungen der Trauer entsprechen am meisten der dreifüßige und der fünffüßige Trochäus, während der vierfüßige Trochäus sich mehr für kräftige, ernste und für Gefühle der Sehnsucht eignet.

Entschlossenheit, Muth, Freude sprechen sich in vierfüßigen, naive, tändelnde Gefühle in zwei- und dreifüßigen Jamben, Heiterkeit, gesellige Fröhlichkeit in längern jambischen oder in jambisch-anapästischen Versen aus. Auch trochäisch-daktylische Verse werden oft mit gutem Erfolg für den Ausdruck gesteigerter Freude gebraucht.


{Reim}

§. 122. Endlich fordert auch der Reim seine sorgfältige Beachtung. Wie wir schon oben (§. 65) bemerkt haben, kann das Lied denselben nur schwer entbehren. Wir finden ihn -- mit sehr wenigen Ausnahmen -- in allen deutschen Liedern. Und nicht mit Unrecht. Der Reim verleiht dadurch, daß er gleichsam schon eine Composition des Liedes bildet, demselben einen wundersamen Reiz; er vermag vorzugsweise die vollendete Harmonie der geschilderten Gefühle zu charakterisiren. Denn gerade im Liede lassen sich alle die, oben angedeuteten (möglichen) Schönheiten des Reimes am besten und vollständigsten entwickeln, alle die Wirkungen, die man durch denselben bezwecken kann, am leichtesten erreichen. Darum wird der Dichter immer auf die entsprechendsten, schönsten Reime vorzugsweise beim Liede bedacht sein müssen. Reimkünsteleien passen aber zu dem Charakter des Liedes eben so wenig, als künstliche und zusammengesetzte Versmaaße. Nur in naiv-komischen Gedichten dieser Art ist so etwas zuweilen mit guter Wirkung zu brauchen.


{Religiöse und weltliche Lieder}

§. 123. Die Lieder zerfallen nach ihrem Jnhalt zunächst in zwei Hauptklassen, in religiöse oder geistliche und in sogenannte weltliche Lieder.

§. 124. Das religiöse Lied schildert immer Gefühle, wie sie aus dem Bewußtsein unseres Verhältnisses zu Gott entspringen. Da dies Verhältniß nach den verschiedensten, rein menschlichen oder dogmatischreligiösen Lebensbeziehungen hin aufgefaßt werden kann, so lassen sich wieder verschiedene Arten religiöser Lieder unterscheiden, z. B. Bußlieder, Danklieder, Bittlieder u. a. Wird das religiöse Lied bei dem kirchlichen Gottesdienst angewendet, so heißt es Kirchenlied.


§. 125. Weltlich nennt man ein Lied, wenn in ihm die Beziehung auf Gott nicht heraustritt, sondern gewöhnliche Lebensverhältnisse oder Gegenstände der sichtbaren Welt die Basis der geschilderten Gefühle bilden. Die meisten weltlichen Lieder haben die geschlechtliche Liebe zum Gegenstand; andere beziehen sich auf die geselligen Verhältnisse der Menschen; andere auf Zustände oder Ereignisse, oder auf bedeutende Personen des Vaterlandes; noch andere endlich basiren auf Gegenstände oder Erscheinungen der Natur. Danach kann man die weltlichen Lieder eintheilen in Liebeslieder, Gesellschaftslieder, Vaterlandslieder und Naturlieder. Einer dieser vier Arten werden sich die meisten Lieder unbedingt zuweisen lassen; nur bei einigen wenigen wird dies nicht der Fall sein.

{Liebeslieder}

§. 126. Die Lieder, deren Gegenstand die Liebe ist, werden auch erotische (von Eros, dem Gott der Liebe) genannt. So unermeßlich groß die Menge der erotischen Lieder, so ansehnlich selbst die Zahl der ausgezeichneten unter denselben ist, so wird doch auch ferner die Liebe immer Hauptgegenstand des Liedes bleiben. Wie sie, als die Poesie des Lebens, dieses verschönert und verherrlicht, so wird sie auch fort und fort dem Dichter ein unversiegbarer Quell der schönsten, herrlichsten Ergüsse sein.

{Gesellschaftslieder}

§. 127. Diejenigen Lieder, deren Gegenstand die geselligen (doch nicht die staatsbürgerlichen!) Beziehungen der Menschen unter einander sind, fassen wir unter dem Namen Gesellschaftslieder zusammen, da uns dieser der entsprechendste scheint. Je nach ihrer besondern Tendenz erhalten die Gesellschaftslieder verschiedene Namen, z. B. Lieder der Freundschaft, Trinklieder, Wanderlieder u. s w.


Anmerkung. Hierbei erwähnen wir auch die anakreontischen Lieder. Man gab im vorigen Jahrhundert denjenigen Gedichten diesen Namen, die nach den Vorbildern des griechischen Dichters Anakreon (zur Zeit des Cyrus) frohen Lebensgenuß in naiver, leichter und gefälliger Weise aussprechen. Gleim so wenig, als die andern sogenannten Anakreontisten haben aber ihr Vorbild erreicht. Heut zu Tage braucht man den Namen nicht mehr, wiewohl die neueste Zeit reich genug an solchen Liedern ist, die denselben mit vollem Recht verdienen.


{Vaterlandslieder}

§. 128. Unter dem Namen Vaterlandslieder fassen wir alle diejenigen Lieder zusammen, in denen Ereignisse oder Zustände oder (Beziehungen auf) bedeutende Personen des Vaterlandes die Basis der geschilderten Gefühle bilden. Sonach gehören in diese Rubrik die Kriegs- und Freiheitsgesänge (Vaterlandslieder im engern Sinne), die sogenannten politischen Lieder und diejenigen Gelegenheitsgedichte, welche bei festlichen Veranlassungen fürstlichen Personen überreicht werden oder als Ausdruck der Gefühle für dieselben dienen sollen. Die bei weitem größte Zahl dieser Lieder hat zugleich den Zweck, die Vaterlandsliebe, die Theilnahme an vaterländischen Jnteressen zu wecken oder zu steigern. Es ist jedoch nicht genug, daß diese Tendenz heraustrete, ja auch nicht genug, daß das Gedicht Begeisterung athme, vielmehr ist vor allem nöthig, daß ihm der poetische Gehalt nicht mangele. Dieser allein bestimmt seinen wahren Werth. Das haben gar manche unserer Vaterlandsdichter viel zu wenig bedacht. Wir wollen schweigen von dem seichten Gehalt, von der oft in jeder Hinsicht bejammernswerthen Armseligkeit, welche die bei weitem größte Zahl derjenigen Lieder zeigt, die bei feierlichen Veranlassungen den Fürsten überreicht, die bei Vaterlandsfesten in die Zeitungen gerückt oder an der Tafel gesungen werden -- sie sind für einzelne Tage und einzelne Zwecke bestimmt und gemacht und haben für die Literatur keine oder doch nur sehr geringe Bedeutung. Aber tief beklagen müssen wir es, wenn auch in den Kriegs- und Freiheitsliedern, und in den "politisch" zubenannten Gedichten die Poesie von der Tendenz in den Hintergrund geschoben, oder gar erdrückt ist, wie es leider! bei gar vielen der Fall ist.


Ja leider! hat man der Poesie gar häufig nur das schöne Gewand gestohlen, um die Nüchternheit seiner patriotischen Gefühle dadurch zu verdecken! leider schlägt mancher Vaterlandsdichter, indem er die Ketten zu lockern, die Fesseln zu lösen sucht, in welche man das Vaterland in dieser oder jener Hinsicht geschlagen, die freie Göttin Poesie, die Herrin, nicht Sklavin sein soll, selbst in Ketten, damit die, an sich prosaische, Tendenz allein das Regiment führe. So soll es, so darf es nicht sein! Der Ausdruck patriotischer Gefühle muß ein durch und durch poetischer, die besondere Tendenz des Liedes muß von der Poesie getragen, gehoben, verklärt sein.


§. 129. Es ist in neuester Zeit viel hin- und hergestritten worden, ob die Politik in den Kreis der Poesie gehöre oder nicht? Wir finden es inconsequent und lächerlich, wenn man die Antwort unbedingt verneinend ausfallen läßt. Kriegsliedern hat man, unsers Wissens, die poetische Zulässigkeit noch nicht abgesprochen. Sind aber Kriegslieder im Grunde etwas anderes, als politische Lieder? Oder soll unsere Vaterlandsliebe sich nur auf das Departement des Auswärtigen und das des königlichen Hauses erstrecken? Soll das, was alle Gemüther eines ganzen Landes bewegt (oder doch alle bewegen sollte!) nicht passender Stoff poetischen Ergusses sein? Wir beklagen es mit allen Besonnenen, wenn im politischen Liede eine gehässige Bitterkeit, persönliche Gereiztheit sich kund giebt; uns ekelt forcirter Patriotismus an, trage er nun die blutige Farbe der Empörung oder die graue des Servilismus; wir sind nicht gemeint, (wie einer unserer neuesten politischen Dichter,) daß allen denjenigen Dichtern Gesinnungslosigkeit beizumessen sei, die in unserer politischen Zeit von etwas anderem singen, als von Politik; -- aber wir freuen uns, wenn das Jnteresse des Tages ächte poetische Ergüsse veranlaßt, wir freuen uns, wenn wir nicht bloß von Waldvögelein und Mondenschein, von Liebespein und Liebeslust singen, sondern auch den Ton männlicher Gesinnung anstimmen hören, der das Herz kräftigt und die Entschiedenheit fördert.

{Naturlieder}

§. 130. Die Naturlieder sprechen entweder die Gefühle aus, welche Gegenstände oder Erscheinungen der Natur im Gemüthe hervorrufen, oder sie schildern diese Gegenstände und Erscheinungen selbst, oder sie lassen das Gemüth betrachtend bei denselben verweilen, oder sie sind endlich allegorischen Charakters.

{Volkslieder}

§. 131. Hat ein weltliches Lied eine weite Verbreitung im Volke gefunden, wird es von demselben gern und viel gesungen, so nennt man es Volkslied. Viele der Volkslieder (man kann sagen die Volkslieder im engern Sinne überhaupt) sind aus der Mitte des Volkes hervorgegangen und gehören also der Naturpoesie an (siehe §. 1, Anmerkung). Produkte der Kunstpoesie werden nur dann zu Volksliedern werden, wenn sie der Bildungsstufe des Volks entsprechen, also im Volkstone gehalten sind und wenn sie des Volkes Jnteressen auf eine ihm zusagende Weise berühren.


{Liederdichter}

§. 132. Das Lied, das wohl überhaupt bei allen Völkern bis in die früheste Zeit ihrer Bildung hinaufreicht, ist auch in Deutschland schon frühe angebaut worden. Es liegt außer dem Kreise unserer Darstellung, eine Geschichte des deutschen Liedes zu geben; wir führen hier nur die Namen der ausgezeichnetsten unserer Liederdichter an.(*) Jm religiösen Liede zeichneten sich aus: Luther, Nicol. Hermann, Ringwald, Joh. Herrmann, Rist, Paul Gerhardt, J. Angelus (Scheffler), Joach. Neander, Arnold, Neumark, Schmolke, Gellert, Klopstock, Uz, Cramer, Lavater, Zinzendorf, Herder, Novalis (Hardenberg), Albertini, Falk, Alb. Knapp, Spitta, Garve.


Unter den Dichtern weltlicher Lieder nehmen Walther v. d. Vogelweide, M. Opitz, P. Flemming, S. Dach, Günther, Hagedorn, Gleim, Jacobi, Herder, Bürger, Fr. Stollberg, Voß, Claudius, Göthe, Schiller, Schubart, Matthisson, Salis, Hölty, A. W. Schlegel, F. Schlegel, Tieck, Fouque, Arnim, Hebel, Schenkendorf, Körner, Arndt, Uhland, Rückert, Schwab, W. Müller, J. Kerner, Mayer, Eichendorff, Chamisso, Platen, Heine, Hoffmann, A. Grün, Lenau, Freiligrath, Beck, Seidl, Herwegh, E. Geibel, Wolfg. Müller &c. eine vorzügliche Stelle ein.

(*) Anmerkung. Wir bemerken hier ein für alle mal, daß wir bei solchen Hinweisungen auf die Literaturgeschichte in der Regel vorzugsweise die letzten hundert Jahre berücksichtigen und daß eine erschöpfende Vollständigkeit nicht in unseren Absichten liegen kann.

Aus: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht bearbeitet und mit Hinweisungen auf die Gedichtsammlungen von Echtermeyer, Kurz, Schwab, Wackernagel und Wolff versehen von Ernst Kleinpaul, Lehrer an der höheren Stadtschule in Barmen. Barmen: W. Langewiesche, 1843, S. 83-91

http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/kleinpaul_poetik_1843

Herder, Volkslied, Zweiter Teil. Vorrede 1778/79

Das Wesen des Liedes ist Gesang, nicht Gemälde: seine Vollkommenheit liegt im melodischen Gange der Leidenschaft oder Empfindung, den man mit dem alten treffenden Ausdruck: Weise nennen könnte, (-) Lied muß gehört werden, nicht gesehen"


Pierer's Universal-Lexikon

Lied

[365] Lied,

1) ursprünglich Strophe; ist schon in frühester Zeit

2) Dichtung u. unterschied sich von Leich so, daß das L. aus Strophen einer u. derselben Art, der Leich aus Strophen verschiedener Art gebildet ist. Da die deutsche Dichtung vor dem 12. Jahrh., wenn auch nicht immer rein epischen Inhalt, doch die Form u. Farbe der Erzählung hatte, so blieb auch der Ausdruck L. während der althochdeutschen Zeit in der Hauptsache auf das epische L. beschränkt; obgleich daneben fröhliche u. leichtfertige Lieder erwähnt werden, die in den Häusern, auf den Gassen u. im Freien, bei Schmausereien, Spielen u. fröhlichen Festen gesungen wurden, ferner Spottlieder (schon 744 verboten), Zauberlieder u. Zaubersprüche (wie die Merseburger Gedichte) u. Wiegenlieder (wie das 1859 von Zappert aufgefundene u. in Wienherausgegebene). In der mittelhochdeutschen Zeit blieb liet auch (neben dem gewöhnlichern märe od. aventiure) eine Benennung für das erzählende Gedicht, wurde aber auch neben Leich u. Spruch die Bezeichnung für eine der drei lyrischen Hauptformen. Unter L. verstand die mittelhochdeutsche Lyrik, zum Unterschied von Leich u. Spruch (s. b.),

3) eine Folge von Strophen desselben, in der Regel dreitheiligen Baues u. derselben Melodie u. brauchte sie vorzugsweise im Minnesang, doch auch in Dichtungen sittlichen, religiösen u. politischen Inhalts, sowie zur Begleitung des Tanzes. Die in der mittelhochdeutschen Zeit vorzugsweise gepflegte Gattung der lyrischen Poesie war das Minnelied (s. Minnesinger); die ältesten noch vorhandenen (theils von unbekannten Verfassern, theils dem von Kürnberg zugeschrieben) reichen bis in die Mitte des 12. Jahrh. zurück; schon vor 1163 war es sehr üblich, den Frauen Liebeslieder (Trutlieter) zu singen; außerdem gab es religöse Lieder, wozu auch die Leisen, die auf Bittgängen, Wallfahrten u. bei ähnlichen Gelegenheiten angestimmt wurden, sowie die Ketzerlieder gehörten; ferner Lob- u. Strafgedichte, die an einzelne Fürsten u. Edle gerichtet waren, Klaggesänge auf berühmte Verstorbene, die politischen Dichtungen etc. Auch in der folgenden Periode (bis zum Ausgang des 16. Jahrh.) blieb das Liebeslied jedoch das vornehmste aller lyrischen Dichtungsarten; daneben das Frühlings- u. Sommerlied, das Sittenlied, namentlich auch das Trinklied (im 16. Jahrh. gab es zahllose Lieder zum Preise des Weines); Jägerlieder u. Bergreien, Studenten- u. Soldatenlieder, nur wenig politische Lieder. Die geistliche Poesie erreichte durch die Reformation mit dem Kirchenlied die höchste Blüthe (s. Hymnologie). Die Kunstdichtungen der Meistersänger (s.d.) arteten in Bezug auf die Form des Liedes in Überkünstelung aus, hielten aber in Bezug auf den Inhalt an der Richtung der letzten Minnesänger auf Lehrhaftigkeit fest; die Liebe u. die mit ihr in der älteren Lyrik so eng verbundene Freude an der Natur waren weniger Gegenstände des meisterlichen Gesanges. Bisher war die Musik nothwendig für die Lyrik, jetzt beginnt sich dieselbe in eine musikalische u. eine nicht[365] musikalische zu theilen. Das L. wurde stets nur in Verbindung mit Musik gedacht. Der Charakter des Liedes, wie es sich in der neueren deutschen Literatur gestaltet hat, beruht auf der Darstellung nur Eines Gefühls, welches die Seele bewegt hat. Der Ton des Liedes ist an sich der Ton reiner Freude, der Beruhigung, der Hoffnung. Dieser Ton wird angeregt durch die Beziehung des Gefühls auf ein ersehntes od. gegenwärtiges Gut. Was diese Form betrifft, so fordert man von dem Liederdichter weit mehr Einförmigkeit in Beobachtung der Abschnitte, mehr Vollendung des Gedankens mit jeder Strophe, leichtere u. fließendere Sylbenmaße, als in der Ode, ferner Vermeidung des Kühnen u. Prachtvollen. Das L. ist dazu bestimmt, daß es gesungen wird; die Composition muß sich genau nach der Stimmung der Poesie richten u. ganz mit derselben verschmelzen, so daß es nicht möglich ist, eine andere Melodie von gleichem Werthe auf dasselbe Gedicht zu erfinden. Dabei muß das L. leicht sangbar, die Melodie faßlich u. nicht von großem Umfang sein. Die vorzüglichen deutschen Liedercomponisten sind: Hiller, Reichardt, Schulz, Himmel, Beethoven, Konr. Kreutzer, Fr. Schubert, K. M. von Weber, Spohr, Methfessel, Bernhard, Mühling, Kücken, Reißiger, Mendelssohn, Löwe, Curschmann, Bank, Zöllner, Schumann u. A. Man theilt das L. in das geistliche u. das weltliche.

A) Das geistliche L. ist zur Erweckung religiöser Gefühle bestimmt. Wie das L. überhaupt, so soll auch das geistliche L. gesungen werden u. erheischt deshalb nicht blos gewisse besondere Einrichtungen in der Form, sondern auch eine bestimmte Melodie, wonach es vorgetragen werden kann. Die Wirkung des geistlichen Liedes hängt daher sowohl von der Schönheit seiner Poesie, als seiner Gesangsweise ab. Die wichtigste Art des geistlichen Liedes ist die, welche dem öffentlichen Gottesdienste angehört u. das Kirchenlied heißt, bestimmt, von einer ganzen Gemeinde im Choral abgesungen zu werden; s. Gesangbuch u. Hymnologie.

B) Das weltliche L. ist die Darstellung eines bestimmten, durch die Zustände u. Vorgänge des wirklichen Lebens od. durch Erscheinungen in der Natur angeregten Gefühls. Seine Arten sind daher so vielfach, als Zustände, Vorgänge u. Naturscenen vielfach aufregen können. Man unterscheidet daher Liebeslieder, ferner Kinder-, Wiegen-, Schullieder, Kriegslieder, Trinktlieder, die verschiedenen Arten des Volksliedes (s.d.), zu welchem auch die Fischer-, Spinner-, Jäger-, Winzerlieder etc. gehören. Aus dem 16. u. 17. Jahrh. hat sich ein Schatz trefflicher u. gemüthvoller Lieder erhalten, deren Dichter meist unbekannt sind; in neuerer Zeit zeichneten sich bes. im Liede aus: Goethe, Kleim, Voß, Weiße, Hölty, Bürger, Arndt, Körner, Rückert, W. Müller, Heine, Hoffmann von Fallersleben, Geibel, Groth etc. Die antike Welt hat ihrem Charakter gemäß von wirklicher Liederdichtung nur wenig aufzuweisen; wie die Lyrik überhaupt, konnte auch insbesondere das L. erst in der Gefühlstiefe der christlichen Zeit, namentlich aber bei den Deutschen zu höchster Blüthe gedeihen. Das deutsche L. bleibt für andere Nationen unnachahmbar, meist schon unübersetzbar; der französische Chanson (s.d.) u. die italienischen Canzone entsprechen nicht vollständig, wie selbst die Franzosen fühlen, indem sie jetzt häufig das Wort L. unübersetzt beibehalten.


Quelle: Pierer's Universal-Lexikon, Band 10. Altenburg 1860, S. 365-366. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20010345590


Kommentar

Im "Buch von der Deutschen Poeterey" von Martin Opitz kommt die Gattung Lied unter der Bezeichnung "Lyrica" vor. Neuere Poetiken vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert sprechen vom Lied als ursprünglichster Form oder "Herzstück" der Lyrik. Dabei handelt es sich um eine neue Entwicklung, die Antike, Mittelalter und früher Neuzeit noch fremd war. Wegen der spezifischen Bedeutung des Liedes als einer gesungenen (romantischen) Gattung im Deutschland des 19. Jahrhunderts (Franz Schubert, Carl Löwe, Robert Schumann, Hugo Wolf) wurde die Wortform "the lied" bzw. "le lied" ins Englische und Französische übernommen.

Das deutsche Wort Lied stammt vom althochdeutschen "leod, liod" und ist verwandt mit altfrz. lai (strophisches gesungenes Gedicht). Wortgeschichte und Bedeutungsdifferenzierung siehe Lied (Grimms Wörterbuch)