Nietzsches Ferienreise durch die Provinz Sachsen

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Friedrich Nietzsche


Meine Ferienreise

[78] Pforta 1860. Hundstage

Früh um drei Uhr standen wir auf; der Morgen war kühl, düster, man konnte einen Regen vermuten. Schweigend gingen wir durch die Felder, manchen Blick noch auf das liebe Haus zurückwerfend, das hinter uns lag. Der Himmel wurde immer trüber, immer umwölkter; als wir über die Saale fuhren, fielen die ersten schweren Tropfen. Schon lag der Eisenbahndamm vor uns, noch zehn Minuten und wir sind da. Es regnet heftig; mit hastigen Schritten geht es vorwärts.

Ein dröhnendes Geräusch; donnernd rasselt der Zug an uns vorüber.

Atemlos kommen wir an; der Bahnwärter winkt uns zu eilen; wir nehmen Platz; der Zug setzt sich in Bewegung. Wunderbar, wir waren ganz durchnäßt und ganz mit Schweiß überdeckt; aber ohne Schaden ging alles vorüber. Merseburg lassen wir seitwärts liegen; in Halle machen wir Halt. Ich war über die Veränderung erstaunt, die in dieser Stadt innerhalb weniger Jahre stattgefunden hat; nette, moderne Häuser und Läden überall, wo früher jene schwarzen, langgegiebelten Gebäude mit den hohen Eingangstreppen waren. Ein kleines Geschäft, das den Onkel noch verhinderte, wurde bald abgemacht; dann begaben wir uns auf die Post und ließen uns einschreiben. Nach kurzer Zeit fuhr der Postwagen vor, wir stiegen ein und fort ging's nach Eisleben. Der Himmel hatte sich aufgeheitert. Lange glänzende Strahlen lagen auf den weiten Feldern, dazwischen schwebten die[78] flüchtigen Schatten eilender Wolken. Lange Zeit verweilte unser Auge auf der Irrenanstalt, an die sich so leicht eine traurige Gedankenkette knüpft. Das lange, weiße Gebäude tritt seltsam aus dem hellen, frischen Grün hervor, das sich rings hinzieht. Dann wurde die Straße eintöniger; hier und da ein Blick auf die öde Heide, sonst alle Felder grün, weiß, gelb in ewiger Abwechslung. Ich begann meine Reisegesellschaft zu mustern. Neben mir saß ein Mann, der, zufrieden mit allem, wie es schien, gutmütig zu allem lächelnd nickte, was sein Nachbar sagte. Dieser hingegen war in fortwährender Aufregung; der Fluß seiner Rede konnte durch nichts gedämmt werden. Er verbreitete sich hauptsächlich über seine eignen Güterangelegenheiten; ein Mann von Geld, aber ohne Bildung. Charakteristisch war, daß er fortwährend von Minister B... H... sprach, hie und da heftig auf ihn losfuhr, dann aber allemal hinzufügte: »Trotzdem ist es doch ein ganz vorzüglieber Mann, der B. H., was der Mann nicht für ein leutseliges Gemüt hat!« Und dann pflegte er seine Zusammenkünfte mit ihm aufs ausführlichste mitzuteilen. Mir schien es fast nur eine Art von Stolz zu sein, denn die Ehre, mit einem Minister in nähere Berührung zu kommen, widerfährt nicht einem jeden. – Sobald wir über Langenbogen hinaus waren, wurde die Gegend interessanter. Die Straße hob sich allmählich in Windungen, endlich lag, als wir um eine Ecke herumbogen, plötzlich der weite Spiegel des Salzigen Sees vor uns. Ringsum grüne Hügelkette, Weinberge, in den golden schimmernden Fluten eine dichtbewaldete Landzunge, vom Mund des Volks die Teufelsbrücke genannt, anknüpfend an eine Sage, die durch ganz Deutschland verbreitet in den mannigfachsten Variationen so manche Brücke, so manche Mühle umrankt. Bald wiederholte sich der liebliche Anblick; zu unsrer Rechten tauchte der Süße See auf. Die wunderschönen ruhigen Fluten, das kleine, nett gebaute Seeburg, die grünen Bergzüge fließen so sanft ineinander und vereinigen sich zu einem reizenden Gemälde. Hier ist es auch, wo der Postillion durch einzelne Melodien ein sehr klares, reines Echo weckt, das ganze Zeilen treulich wiedergibt. –

Jetzt nahm uns eine grüne Hügellandschaft auf; vergeblich fragte ich nach Holzzelle, dem Wohnort von Immermanns Onkel; niemand wußte mir diesen Schauplatz jener Studentenstreiche, an die ich nie ohne Gelächter denke, anzugeben.[79]

Endlich erreichten wir Eisleben. Wir stiegen in der Post ab, begaben uns in einen Gasthof und erquickten uns hier durch Speise und Trank. Neben uns nahm ein Mann Platz, der mir, wie es schien, ein beständiger Besuch zu sein schien; vermöge alberner Bemerkungen und einer höchst dreisten, unverschämten Redeweise leitete er bald die Unterhaltung, die sich freilich um höchst gleichgültige Gegenstände drehte. Wir verhielten uns sehr ruhig. Dann begann er, die geistliche Nähe witternd, plötzlich sich auf die niedrigste Weise an den Pfaffen, den Landaussaugern usw. auszulassen.

Um vier Uhr bestiegen wir wieder die Post. Der Weg führte nach Mansfeld zwar in ewigen Umwegen, so daß wir uns fast im Kreise bewegten, aber doch endlich zum Ziele. Die Burg selbst wird von dem neuen Besitzer, dem Herrn v. d. Recke aufs glänzendste restauriert. Wir hatten das Vergnügen, mit dem »hohen, edlen« Herrn zu reisen; er unterhielt sich auf das liebenswürdigste mit uns. Der Onkel, dessen Patron er ist, ist auch voll seines Lobes auch in bezug auf seine ganz christlichen Grundsätze. – Auch in Mansfeld hielten wir uns nicht auf. Je näher ich kam, desto reger wurde meine Erwartung. Wir gingen dann zu Fuß; die Gegend wurde immer schöner. Je höher wir stiegen – und der ganze Weg ist beinahe ein beständiges Aufsteigen – um so dichter kamen wir in den Wald. Dazwischen wieder lichte Stellen – zur Seite ein lang sich dahinstreckender Berg mit dem wundervollsten Grün, in den Tälern fruchtbare Felder, dahinter blaue Bergketten. Endlich ragte der Turm aus der Ferne hervor. Wir trafen einzelne Männer aufs eifrigste mit Holzhacken beschäftigt. Sonst alles dichter, grüner Wald.

Ein Schritt – und wir standen plötzlich im Dorf und nach wenig Augenblicken im Haus des lieben Onkels. Freudig, jubelnd empfing uns die alte Haushälterin, eine Naumburgerin. Wir waren beide etwas ermattet, ein kräftiges Abendbrot stärkte uns wieder. Von Anfang an war mir hier gleich so heimisch, wie noch nirgends. Nach dem Abendbrot begann der Onkel auch auf seinem Aeolodicon zu spielen. Goldenklar begann ein zarter Ton, im reinsten Wohlklang folgten andere und plötzlich schwoll die Harmonie in wundervoller Weise an. So ernst, so erhaben, so ganz dem innersten Gefühl entquollen, strömte eine mächtige Tonfülle in den reinsten, kirchlichen Typen.[80]

Am Abend sangen wir noch ein geistlich Lied zusammen, wozu die Haushälterin des Onkels herbeikam. Dann hielt der Onkel die Abendandacht. Diese schöne Sitte wurde nie hier vernachlässigt. –

Den andern Tag verbrachte ich immer noch ausruhend; der Onkel führte mich in seiner ganzen Besitzung herum. Das Haus selbst ist einfach, aber geräumig, mehrere große Stuben, Kammern, Küche, Keller, Boden. Ein Hof mit mehreren Gebäuden, Scheune und kleinem Gemüsegarten, den sich der Onkel selbst angelegt hat. Ein Brunnen mit sehr schönem frischem Trinkwasser. Einige Schritte entfernt liegt der große Baumgarten, ein gleichseitiges Rechteck von ungeheurer Dimension. Die mannigfachsten Baumarten, Fruchtbäume, dazwischen Gemüseanpflanzungen. Den vierten Teil nimmt der Blumengarten ein; die kleine von Gebüsch umgebene Laube habe ich sehr oft aufgesucht. – Das ganze Leben hier war höchst gemütlich und einfach. Ich hielt mich oben oft in der großen Stube auf, während der Onkel unten arbeitete. Treffliche Bücher fand ich hier, später bekam ich auch eigne Bücher nachgeschickt. Beständig habe ich mich auf das angenehmste beschäftigt. Mancherlei geschrieben und komponiert. – Viel auch spielt ich auf dem reizenden Aeolodicon, ein Vergnügen, das ich nicht sattbekommen konnte.

Den folgenden Tag bekam ich vor Mittag einen Brief von meinem Freund W. Pinder. Durch Umstände verhindert mit mir in Korbetha zusammenzutreffen, wollte er doch noch nachkommen, eine Nachricht, die mich sehr erfreute. In der Hoffnung, ihn den Nachmittag auf der Post in Mansfeld zu finden, ging ich hin, ihn abzuholen. Aber ich hatte mich getäuscht; er kam nicht. Und so kehrte ich allein durch die schönen Wälder zurück. –

Sonntag war's. Der Onkel war den ganzen Morgen noch sehr fleißig. Ich sah ihn erst unmittelbar vor dem Kirchgang. Die Kirche ist klein, aber sehr nett ausgeschmückt; der Besuch war immer recht zahlreich. Aber was für eine wunderschöne Rede hielt der Onkel! Welche Kraft in dieser Predigt! Wie nachdrücklich war jedes Wort! Ich erinnere mich fast noch jedes Gedankens, den der Onkel aussprach. Er sprach über die Versöhnung, anknüpfend an das Wort: Wenn du deine Gabe zum Altare bringst, so versöhne dich zuvor mit deinem Bruder. Es war den Tag gerade Kommunion; gleich nach der Predigt[81] traten die zwei Amtleute des Dorfes vor, gebildete Männer, aber von jeher einander feind, und versöhnten sich, indem sie sich gegenseitig die Hand reichten. Das heißt doch ein Erfolg! Ich blieb nach der Predigt mit dem Onkel noch zurück; denn es war noch eine Taufe. Der Herr Kantor kam herunter und begrüßte uns. Welch ein lieber Mann! Eine lange gerade Gestalt, schmal, etwas eingefallen, aber noch sehr rüstig, mit dem freundlichsten Gesicht, der ruhigsten, zufriedensten Miene. Dabei so bescheiden, so still, daß man von Tag zu Tag ihn lieber gewinnt. Der Onkel lud ihn mit zu Mittag ein. Nach Tische beratschlagten wir, wohin wir unsre Blicke wenden sollten. Um drei gingen wir fort, fortwährend im dichten grünen Hochwald. Welchen erhabnen Eindruck macht nicht so ein Waldspaziergang! Plötzlich traten wir in das Freie heraus und sogleich weitet sich die Aussicht. Ein liebliches Gemälde bietet sich uns dar. Wir standen auf einem Bergrücken, von Heidekräutern bewachsen; vor uns breiteten sich goldene Gefilde, die Güldne Auen, vor allen trat Sangerhausen mit seinen Türmen deutlich hervor. Weiter dahinter der Kyffhäuser und ganz am Horizont die blaue Kette des Thüringer Waldes. Berg und Tal, Wald und Feld bildeten eine lebendige, farbenreiche Landschaft. –

Längere Zeit verweilten wir hier. Dann ging es auf einem andern Wege wieder nach Hause zurück. –

Den folgenden Tag erhielt ich wieder einen Brief von W., der mich sehr froh machte. Der Regen, der ihn gehindert hatte, am bestimmten Tage einzutreffen, hatte ihm doch nicht die Lust genommen und so wollte er den Nachmittag kommen. Wir sandten einen Knaben nach Mansfeld, wir aber beschlossen, am Abend ihm entgegenzugehn. – Auf der Hälfte des Weges trafen wir ihn und freuten uns sehr, uns wiederzusehn. Der ganze Tag verging unter fröhlichen Gesprächen. –

Auch der Dienstag verfloß wieder höchst angenehm; den Nachmittag machten wir einen wunderhübschen Spaziergang zusammen. Erst brannte die Sonne sehr; endlich kamen wir aus dem freien Felde in frische lebende Wiesen und dann in den kühlen Wald. An einer Köhlerhütte machten wir halt. Der ganze Bau interessierte mich, da ich einen ähnlichen noch nie gesehen hatte. Auf einem größern Kreise waren Baumstämme eingerammt, so, daß die Spitzen zusammenkamen und das Ganze die Gestalt eines Giebels hatte. Darüber war[82] dann Erde und Rasen geworfen, so daß sie gegen Regen und Wind fest genug war. In der Hütte selbst waren einige Bänke, sonst schien sie längere Zeit unbewohnt zu sein. In der Nähe fanden wir auch mehrere Meilerstätten. Den Brand anzusehn war mir nicht vergönnt; es war wohl nicht die passende Jahreszeit. –

Endlich traten wir aus dem Wald und befanden uns auf einem ziemlich steilen Abhang, vor uns die blauen Berge des Harzes. Mit dem Fernrohr besichtigten wir die Höhen; ich konnte das Kreuz auf der Josephshöhe erkennen, dann zeigte sich auch Viktorshöhe und der Brocken alles sehr schön und deutlich. Wie gern versetzt man sich über die wenig Meilen hinweg, die uns noch von einem Lieblingsort trennen! Das Auge sieht erst die Stätte von weitem, der Geist aber weilt längst auf ihr und genießt, obschon ihm der träge Körper nicht folgen kann. –

Den folgenden Tag sahen wir endlich den schönsten Punkt, den die nächste Gegend hat, die Rammelsburg. Da der liebe Onkel zurückblieb aus Sorge für die Haushälterin, die krank geworden war, so war der Herr Kantor mit seiner gewohnten Freundlichkeit sogleich bereit uns zu führen. Beinah schien das Wetter uns ungünstig zu werden. Ein brodelndes, dumpfes Gewitter schwebte über unsern Häuptern hin. Wir ließen uns aber nicht abschrecken, sondern suchten die geradesten Wege auf, um so bald als möglich hinzukommen. Zur Rechten zogen sich dicht bewaldete Höhen hin, die in dem schönsten Blau sich verloren, vor uns ein durchrieseltes Wiesental, angrenzend an einen düsteren Forst. Wir gingen hindurch; der Weg führte aufwärts, endlich sahen wir ein niedliches Haus, das Schweizerhäuschen genannt, vor uns stehen. Wir eilten auf dasselbe zu, hielten uns aber die Augen zu bis wir auf der Galerie desselben waren und die ganze Gegend vor uns hatten. Welch reizend Schauspiel! Vor uns die Rammelsburg auf einem bewaldeten Berge liegend, niedriger als wir, rechts und links überall Höhenzüge voll dichter Forsten, die sich übereinander erhoben und deren Grün den angenehmsten Eindruck auf mich machte. Dahinter die blauen Harzberge. Man kann sich eine Waldlandschaft nicht reizender denken. Der liebliche Gegensatz von Berg und Tal, das alte Schloß, der Duft, der auf den Wäldern schwebte, endlich der blaue Himmel, der darüber so still, so friedlich ruhte. Im[83] Tale tönte das Geplätscher der Bode, sonst alles still, ohne Geräusch. Wir waren ganz in den Anblick vertieft; im stummen Entzücken standen wir da, wie traulich ist doch die Waldeinsamkeit! – Oben fand ich an den Wänden des Hauses einen Vers aus Amaranth angeschrieben, der ganz diesem Gefühl entquollen zu sein schien. Auch die Namen der Mama und Liesbeth fand ich wieder, die sich vor einem Jahre hier angeschrieben hatten. Ich schrieb den meinigen hinzu. Wohl eine Stunde weilten wir hier. Dann führte uns der Herr Kantor auf unsern Wunsch hin nach der Rammelsburg. Um keine Umwege machen zu müssen, stiegen wir gerade den Weg hinunter, überschritten den lebendigen, forellenreichen Waldbach und stiegen auf der andern Seite wieder hinauf. Noch mehrere romantische Partien sahen wir; so standen wir plötzlich an einem Abhang, der, ähnlich der Roßtrappe uns mit Staunen und Schrecken erfüllte. Das Lieblichste auf dem ganzen Wege aber sahen wir oben. Das ganze Bodental mit seinem grünen Teppich, die grünen duftigen Bergketten zu den Seiten, am Fuß des Berges einzelne Häuser, die zu Rammelsburg gehörten, der Bach, der silbern das Grün durchschlängelte und weit in der Entfernung mit Wald und Wiese verschwamm, das alles deuchte mir der lieblichste Anblick, den ich je gesehn hatte. Wir ruhten hier oben noch etwas aus, dann begannen wir den Rückweg. Der Herr Kantor erzählte uns aus seinem Leben, besonders aus den Jahren 1813-15, die angenehmsten Geschichten. Wie leid tut es mir, daß ich eine wunderhübsche Geschichte von einem Schillschen Jäger beinah wieder vergessen habe! Am Abend aßen wir wieder zusammen, der Onkel war sehr heiter und er erzählte uns allerlei lustige Sachen.

Es regnete die Nacht etwas; den Morgen kam der Herr Superintendent von Boneckau, um die Schule zu revidieren. Wir begaben uns in den Garten, wo wir uns über die Kirschbäume hermachten, ein Geschäft, das wir überhaupt sehr eifrig betrieben haben. Der Herr Superintendent war mit bei Tische, lud uns auch ein, mit ihm nach Mansfeld zu fahren, aber der Onkel schlug es aus. Den Nachmittag gingen wir nach dem Knochenbrunnen, der mitten im Walde aus einem Abhange quellend, kleine Knöchlein mit sich führt. Wir sammelten mehrere, und ich versuchte, dies auf das sonderbarste zu erklären; es wird aber wohl so sein, wie ein Förster gesagt hat, daß es Knochen[84] von Fröschen sind, die sich im Winter hier verkrochen haben und umgekommen sind, die dann von den strömenden Fluten mit herausgespült werden. Der Weg war etwas feucht. –

Der folgende Tag führte uns nach einem neuen Punkt der Waldfeste Grillenburg. An der Luke vorbei führte der Weg durch einen wunderschönen Tannenwald, verlor sich dann etwas im dichten Gebüsch, tauchte dann aber wieder an einer sonnigen, erdbeer reichen Stelle auf. Dann ging es etwas abwärts, dann wieder empor und plötzlich standen wir vor einer wunderschön gelegenen Burg. Wir stiegen sogleich auf den höchsten Teil der Mauer und ergötzten uns an den schönen Wäldern, die sich in den schönsten Farben vor uns ausbreiteten. Nach rechts war der Blick freier. Ein nettes Dorf lag zu unsern Füßen. Dahinter lag die Goldne Aue. Den Horizont begrenzten die Höhen des Thüringer Waldes. Der Onkel erzählte uns folgende Geschichte, die darauf bezüglich ist. Die Herren der Grillenburg hatten einst die Braut eines Grafen von Mansfeld entführt. Letzterer, untröstlich über den Verlust, verkleidete sich als Troubadour und besuchte alle Burgen der Umgegend, indem er immer ein Lied wiederholte, das, wie er wußte, seine Geliebte recht wohl kannte. Endlich kam er auch zur Grillenburg; vor der Mauer begann er traurig seinen innigen Gesang. Da antwortete ihm plötzlich eine bekannte Stimme und fiel leise in dieselbe Melodie ein. Der freudig überraschte Sänger eilte nach Mansfeld zurück, überfiel bei Nacht die Grillenburg mit seinen Mannen, und als schönste Beute brachte er seine Geliebte mit. –

Der folgende Tag; es war Sonnabend; ist berühmt, weil an ihm der Beschluß zu unsern monatlichen Sendungen und zu der gemeinschaftlichen Kasse gefaßt wurde. W. und ich waren in den Wald gegangen; hier setzten wir uns etwas hin und beratschlagten darüber. Der Plan erstreckte sich zuerst nur auf Poesie und Wissenschaft. Musik war noch ausgeschlossen. Über einzelne Forderungen und Bedingungen entstand ein Streit. Endlich schwiegen wir mißmutig und gingen schweigend zurück in den Garten des Onkels. Hier endlich löste sich unsre Zunge; beide Teile waren nachgiebiger geworden. – An diesem Tag soll nun jährlich ein Fest gefeiert werden, und zwar auf der Rudelsburg, wozu jeder irgendeinen Beitrag schriftlich einliefern muß, dies wird dann oben auf dem Turm vorgelesen. –[85]

Das Ende unsres Aufenthaltes nahte heran. Es war wiederum Sonntag, und Dienstag wollte der W. so durchaus wieder fort. – Den Vormittag hörten wir wieder eine herrliche Predigt. Mittag war wieder der Herr Kantor zu Tisch eingeladen. Nachdem wir in der Betstunde gewesen waren, wo der Onkel die Kinder katechisierte, gingen wir alle vier zusammen etwas spazieren. Wir suchten heute die Überreste eines verwüsteten Dorfes auf. Dichter Wald und Gebüsch bedeckte die Stätte, so daß man kaum durchdringen konnte. Man erkannte noch die Lage des Kirchhofs; sonst waren alle Trümmer dicht bewachsen und unerkennbar. Dann suchten wir Erdbeeren und fanden auch eine ziemliche Menge. Zu Hause zurückgekehrt, beschlossen wir den Tag unter heiteren Gesprächen. Ich möchte gern noch mehreres von den hübschen Erzählungen, die uns der Onkel mitteilte, anführen; aber wie leer kommt mir alles Geschriebene vor, im Gegensatz zu dem lebendigen, mündlichen Wort! Wenn uns jemand eine Geschichte erzählt, so knüpft sich sogleich ein persönliches Interesse daran; wenn dieses aber fehlt, so erscheint uns manches sehr unbedeutend und nichtig. – Der folgende Tag war ein Packtag. Der Onkel war von vormittags zehn bis vier nachmittags abwesend, und zwar bei einem benachbarten Geistlichen, dessen Geburtstag war. Wir verbrachten diese Zeit, da wir der Einladung des Onkels, mitzukommen, nicht Folge leisteten, unter Abschreiben von schönen Gedichten und Volksliedern, die wir noch nie gesehn hatten, oder mit Aeolodiconspielen und Lesen. Den Nachmittag besuchten wir noch den Herrn Kantor, um von ihm Abschied zu nehmen. Er war wieder so außerordentlich freundlich. Dann wollten wir noch dem Onkel entgegengehn, aber kaum waren wir fort, so trafen wir ihn. Den ganzen Abend verbrachten wir noch sehr angenehm, indem uns der Onkel Abenteuer aus seinem Leben erzählte, die er meistenteils auf Reisen erlebt hatte; wir waren immer sehr gespannt. –

Endlich war der traurige Dienstag herangekommen, wo wir Gorenzen verlassen wollten; ich war sehr betrübt und wäre gar zu gern noch ein paar Tage dageblieben. Aber es mußte nun einmal geschieden sein! –

Wir standen etwas zeitig auf, tranken Kaffee und frühstückten und machten uns dann nach vielem Abschiednehmen auf den Weg. Der[86] Onkel begleitete uns noch ein ziemliches Stück. Dann schied er von uns; mir wurde sehr traurig zumute. Die wenigen Worte des Dankes, die ich ihm sagen konnte, waren für all die Freude, für all diese herrlichen Stunden so unzureichend. Und gerade jetzt, wo mir das großväterliche Haus auf immer geschlossen ist, war mir ein so lieber Ort so wohltuend, so beglückend. –

Der erste Teil des Weges war wunderschön. Bald in den prachtvollsten Wiesen, auf denen noch der Morgentau blitzte, bald durch die dunkelsten Tannenwälder, in ewigem Wechsel. Wie oft schauten wir wehmütig auf die herrliche Gegend zurück! – Wir eilten jetzt den Ebenen unsres Vaterlandes immer mehr zu; das merkten wir an dem beständigen Herabsteigen. Ein weißer Nebelfleck leuchtete lange am Horizonte; es war der Süße See. Bald winkten uns von fern die Türme von Eisleben. Die Sonne brannte etwas, ich wünschte sehr bald dort zu sein. Auf der Post besorgten wir sogleich unser Gepäck, begaben uns dann in einen Gasthof und nahmen hier etwas zu uns. Dann gingen wir zum Lutherhaus, geführt von einem ehrbaren Handwerker. Ein Seminarist empfing und führte uns zuerst in einen Saal, wo sehr viele An denken an Luther waren. Handschriften, Bilder von Lucas Cranach, sämtliche Kurfürsten von Sachsen, der Schwan Luthers und andres unzählige. Ein Zimmer daneben enthielt sehr wertvolle alte Gemälde, den Untergang der Welt, den Kreuzestod Jesu, die Auferstehung, mehrere darunter von Lucas Cranach, sonst auch von andern berühmten Meistern. Dann gingen wir die Treppe herunter und traten in die Stube, wo Luther geboren war, wiederum mit vielen Bildern ausgeschmückt. Wir hatten nicht lange Zeit, drum trennten wir uns bald wieder und besuchten noch den Herrn Oberpfarrer Jahr, den ehemaligen Superintendenten von Naumburg. Er nahm uns auf das freundlichste auf und war überrascht, als wir nach einem Halbstündchen schon wieder aufbrachen, lud uns auch zu einem längern Aufenthalt sehr liebenswürdig ein. Sein Sohn, der Primaner, begleitete uns zur Post. In kurzem fuhren wir ab. Mir war es den ganzen Tag sehr unwohl. Auf der langweiligen, staubigen Chaussee wurde es immer schlimmer; ich versuchte zu schlafen, wachte aber immer zu bald wieder von dem lauten Geschwätz meiner Umgebung auf. Besonders zeichnete sich hierin ein junger[87] Reisediener aus, ein gutmütiger Leichtfuß, der trotz seiner beständigen Reisen noch nicht erkannt zu haben schien, daß das Leben auch nur eine Reise sei, aber nach einem ewigen Ziel. – In Halle stiegen wir ab. Mein Freund besuchte noch Verwandte, ich aber ließ mich von einem Jungen, der mein Gepäck trug, auf den Bahnhof führen. Nach unseligen Umwegen kam ich dorthin, ging dort in das Hotel zur Eisenbahn und suchte dort durch Lesen und Essen meine Mißstimmung zu vertreiben. Um sechs begab ich mich auf den Bahnhof selbst, wurde hier noch recht in Schrecken gesetzt, indem mir jemand versicherte, der Zug nach Naumburg wäre schon da. Endlich kam mein Freund, nach längerm Warten auch der Zug, und fort ging's nach Naumburg. Als wir dort um halb neun Uhr ausstiegen, begann es tüchtig zu regnen. Wir waren sehr froh, als wir zu Hause glücklich anlangten und ein jeder seine matten Glieder und den verstimmten Geist durch einen ruhigen Schlaf erquicken konnte. Somit war diese Reise geendet, in vieler Beziehung die angenehmste, die ich seit längerer Zeit gemacht habe. Schade nur, daß mir der letzte Tag der Zurückreise so unangenehm verging! Den andern Tag schrieb ich sogleich noch mit meinem Freund an den Onkel, indem ich mich noch viele Mal bedankte und meine Zurückreise erzählte. – Was soll ich noch anfügen? Meine Aufgabe ist gelöst, mein Ziel erreicht.

Quelle: Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 3, S. 78-88. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20009257411