Jiddische Literatur

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Pierer 1857, Jüdisch-deutsche Literatur

Nicht unbedeutend ist die jüdisch-deutsche Literatur, die sich seit der Mitte des 16. Jahrh. immer mehr ausbildete, in der zweiten Hälfte des 17. Jahrh., insbesondere durch die in Folge der polnischen Verfolgung (von 1648–1654) nach allen Richtungen hin zersprengten Juden ihre höchste Blüthe erreichte, bis auf Mendelssohn herab aber wieder völlig gesunken ist. Sie begann mit Übersetzungen od. Erläuterungen einzelner Theile der Heiligen Schrift. Das erste jüdischdeutsche Buch, das wie alle folgenden mit hebräischen Lettern gedruckt ist, scheint Elias Levite's Übersetzung der fünf Megilloth (Vened. 1544) gewesen zu sein, doch erschien schon vorher Desselben Übersetzung des Sittenbuchs (Isna 1542). Eine vollständige jüdischdeutsche Bibel erschien zuerst Amst. 1677, eine bessere daselbst 1679. Weiter erklärte u. übersetzte man die Gebetbücher, od. verfaßte neue Werke dieser Art, die für das Volk bestimmt waren, weshalb man sich in ihnen auch der verschiedenen jüdischdeutschen Dialekte bediente, während viele Übersetzungen nach größerer Reinheit strebten. Auch die berühmtesten moralischen Schriften der Rabbinen (wie z.B. Bechai's Herzenspflichten etc.) erschienen in jüdischdeutscher Sprache; zur Unterhaltung für jüdische Frauen u. Mädchen waren die Übertragungen beliebter profaner Bücher, wie des Josippon, der 1001 Nacht, deutscher Ritter- u. Heldensagen, ferner theils übersetzter, theils gleich jüdischdeutsch verfaßter Lieder u. Balladen etc. bestimmt. Selbst Fastnachtsspiele, die in bisweilen selbst frivoler Weise biblische Stoffe behandelten, wurden in dem Jargon verfaßt. Auch mehrere Verfolgungsgeschichten, wie bes. der Fettmilchschen (1614–16) in Frankfurt, der Oppenheimerschen (1708) in Wien, des großen Blutbades in Polen (1648), des Aufstandes in Hamburg (1730) sind in demselben vorhanden. Seit Mendelssohn haben sich die Juden in den Städten Deutschlands bemüht, das Jargon gänzlich abzulegen u. mehrere Gebildete haben sie sogar zum Gegenstande der Satyre gemacht, wie z.B. Isaak Euchel (st. 1804 in Berlin) in dem Lustspiele Rabba Henoch (öfter gedruckt, zuletzt mit deutschen Lettern, Berl. 1846).

Quelle: Pierer's Universal-Lexikon, Band 9. Altenburg 1860, S. 159. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20010194533


Meyers 1907

Die jüdisch-deutsche Literatur entwickelte sich namentlich in Polen und Deutschland vor der Mitte des 16. Jahrh. zum Zweck der religiösen Erbauung und Belehrung, der Verbreitung von Übersetzungen aus der profanen Literatur sowie aus der Bibel. Sie umfaßt Paraphrasen und midraschische Ausschmückungen biblischer Bücher (Zeënu urena), religiös-ethische Schriften (z. B. Zuchtspiegel, Seelenfreude, Frauenbüchlein, Buch der Frommen u. a.), Übersetzungen der Gebetbücher, Andachtsbüchlein (Techinnot), historische Werke (Schewet Jehuda u. a.), Ritualwerke (Minhagim), Sagen- und Heldenbücher, Belletristik (Jossippon, Judith, Maassebuch, Übersetzungen von »Tausendundeine Nacht«, Rittergeschichten, König Artur, Dietrich von Bern, Flor und Blancheflur u. a.), Glossare zu Bibel und Talmud, Rechtsgutachten etc. sind im jüdisch-deutschen Dialekt abgefaßt. Seit M. Mendelssohn, dem Germanisator der in Deutschland lebenden Juden, schwand das Judendeutsch immer mehr, vegetierte aber weiter in Rußland, Polen, Galizien, Rumänien etc., trotz der Bemühungen, es in einer Reformliteratur zur Aufklärung der Massen zu verwerten. Erst die seit 1880 in Rußland und Rumänien einsetzenden Verfolgungen und Bedrückungen der Juden und die zionistischen Bestrebungen, die »Judennot« zu lindern, zeitigten die Wiedergeburt des Jüdisch-Deutschen, das heute als Verkehrs- und Schriftsprache nicht nur der Juden in den genannten Ländern, sondern auch der in England, Amerika, Australien, Südafrika eingewanderten auf eine umfangreiche universelle Literatur hinweisen kann. Neben wissenschaftlichen, erbaulichen und andern Schriften wird die Belletristik von Schriftstellern wie Scheikewitz, Blustein, Rabinowitz, Peretz, Abramowitz, Buchbinder, Spektor u. a. gepflegt. Unter den Dichtern ragt M. Rosenfeld (»Songs from the Ghetto«, Boston 1898) hervor, während die jüdisch-deutsche Theater-Literatur in Goldfaden, Lateiner, M. Gordon u. a. namhafte Vertreter hat. Dem öffentlichen Verkehr, der Belehrung und Unterhaltung dienen zahlreiche jüdisch-deutsche Tages-, Wochen- und Witzblätter. Vgl. Jost in Ersch und Grubers »Enzyklopädie«, Bd. 27; Zunz, Gottesdienstliche Vorträge (2. Aufl., Frankf. a. M. 1892, S. 453 ff.); Grünbaum, Jüdisch-deutsche Chrestomathie (Leipz. 1882) und Die jüdisch-deutsche Literatur in Deutschland, Polen und Amerika (in Winter und Wünsche: »Die jüdische Literatur«, 3. Bd., S. 531 ff., Trier 1896); Dalman, Jüdisch-deutsche Volkslieder aus Galizien und Rußland (Leipz. 1888); L. Wiener, The history of yiddish literature in the nineteenth century (New York 1899); E. Bischoff, Jüdisch-deutscher Dolmetscher (Leipz. 1901); J. Gerzon, Die jüdisch-deutsche Sprache (Frankf. 1902). Das Jüdisch-Deutsche, eine Fundgrube für mittelhochdeutsches Sprachgut, harrt noch umfassender wissenschaftlicher Bearbeitung. Über das in der Gaunersprache (s. Kochemer-Loschen) aufgenommene und verarbeitete Judendeutsch vgl. Avé-Lallemant, Das deutsche Gaunertum, Bd. 3 u. 4 (Leipz. 1862), und Steinschneider, Hebräische Bibliographie (Berl. 1864).

Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 343-344. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20006847102