Hymne
Ernst Kleinpaul, Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst, 1843
III. Die Hymne.
§. 136. Das Wort Hymne (wörtlich so viel wie: ich webe, in übergetragener Bedeutung: ich feiere, ich lobsinge) bezeichnete im Griechischen einen Lobgesang, der bei feierlichen Opfern unter Musikbegleitung vorgetragen wurde. Bei uns ist die dem Worte untergelegte Bedeutung eine sehr schwankende. Man giebt nämlich dem der Hymne beiwohnenden Begriff des Feierns entweder eine allgemeinere oder eine speciellere Beziehung und nennt im erstern Falle Hymnen alle die Oden, die zum Preise der Gottheit, oder ausgezeichneter Menschen oder auch zur Verherrlichung erhabener (doch immer personificirt gedachter!) Gegenstände der geistigen oder körperlichen Welt dienen; im letztern Falle aber bedenkt man nur diejenigen Oden mit dem Namen, deren Gegenstand das Lob Gottes ist. — Wir sind geneigt, die engere Bedeutung als die richtigere anzunehmen und dagegen die Gedichte, deren Gegenstand die Verherrlichung von etwas Außergöttlichem ist, nur Oden, nicht Hymnen zu nennen.
Anmerkung. Man könnte zwar sagen, in den zum
Preise erhabener Menschen oder Gegenstände dienenden Gedichten
sollen nicht diese an sich, sondern nur das Göttliche in
ihnen verherrlicht, also gewissermaaßen auch das Lob der
Gottheit gefeiert werden: dadurch aber würde man jedenfalls
die Unklarheit und Verworrenheit der Begriffe um ein Bedeutendes
erweitern.
§. 137. Während in der Ode die Empfindungen
ausströmen, die die Betrachtung des Großen und
Erhabenen überhaupt erzeugt, findet der Dichter
der Hymne in der unaussprechlichen Größe
Gottes den Gegenstand, der ihn zur Begeisterung
hinreißt, seine Seele zur Andacht und Anbetung stimmt.
Da nichts mit solcher Gewalt auf das menschliche Gemüth
zu wirken vermag, als die Betrachtung der
Herrlichkeit Gottes, so wird die Hymne im Tone der
höchsten Begeisterung gehalten sein und der Ausdruck
in ihr einen noch höheren Schwung nehmen müssen,
als in der Ode. Nur dann wird dies weniger der Fall
sein (oft nur zu sein scheinen), wenn die bewundernde
Begeisterung die Seele des Dichters über alle Erscheinungen
und alle Schranken des irdischen Lebens so
erhebt, daß sie von denselben nicht mehr berührt wird
und sich in seliger Anschauung des Unendlichen ganz
verliert — oder wenn sich neben die anbetende Bewunderung des Schöpfers das Gefühl eigner Ohnmacht,
Sündhaftigkeit und Schwäche stellt. Dann wird die
Hymne entweder den Charakter einer erhabenen
Ruhe oder den elegischer Wehmuth an sich tragen.
§. 138. Jn Rücksicht der Form ist dem Hymnen-Dichter
völlige Freiheit der Wahl gestattet. Man
hat sich nach dem besondern Charakter der einzelnen
Hymnen der verschiedensten Versmaaße, häufig auch
mit gutem Erfolg des Reims bedient.
§. 139. Sieht man von der nicht unbedeutenden
Zahl derjenigen unserer Kirchenlieder ab, die den
Namen Hymne zwar nicht führen, aber doch mit
gutem Recht verdienen, so finden sich im Deutschen
verhältnißmäßig nur sehr wenige Hymnen. Namentlich
ist die neueste Zeit arm daran. Aus dem vorigen
Jahrhundert dagegen besitzen wir Nennenswerthes der
Art von Gellert, Klopstock, Cramer und Lavater.
§. 140. Zusatz. Zu den Hymnen werden —
und zwar großentheils mit vollem Rechte — auch die
Psalmen, die uns in der Bibel aufbehalten sind, gerechnet.
Man hat den Namen auch auf deutsche Hymnen
dann angewendet, wenn dieselben rücksichtlich ihres
Stoffes in der mosaischen oder christlichen Religion
wurzeln.
Aus: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht bearbeitet und mit Hinweisungen auf die Gedichtsammlungen von Echtermeyer, Kurz, Schwab, Wackernagel und Wolff versehen von Ernst Kleinpaul, Lehrer an der höheren Stadtschule in Barmen. Barmen: W. Langewiesche, 1843. S. 94-96
http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/kleinpaul_poetik_1843