Automatische Texte

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Automatische Texte

Dieser Artikel wurde unter Verwendung einiger im Internet befindlicher Essays von Reinhard Döhl erstellt.


Was ist Aleatorik?

Ursprünglich ist Aleatorik (lat. alea = Würfel; aleator = Würfelspieler) Bezeichnung eines musikalischen Kompositionsprinzips, in der Absicht, den Einfluss der Komponisten auf das Musikstück so weit wie möglich zu reduzieren, d.h. weitgehend nicht-intentionale Werke zu schaffen.

Versucht wurde dies auf zwei Wegen: einerseits, indem die Partitur dem Interpreten nur Auswahlmöglichkeiten bereitstellt, und dieser dann das zu spielende Musikstück ganz nach Belieben neu zusammensetzen, quasi erwürfeln konnte; andererseits, indem aus einer vorgegebenen Menge von notwendigen Vorentscheidungen, die eine Komposition ausmachen - wie z. B. Tonhöhe, Tondauer, Gesamtlänge, Klangfarbe, Motivwiederholung u.ä. - nach bestimmten Regeln ein neues Stück exakt komponiert, besser: errechnet wurde.

Der Zufall als ästhetisches Prinzip gab dieser Richtung also ihren Namen. Die in der Musik angewandten Wege zum Erzeugen nicht - intentionaler Kunstwerke finden sich entsprechend auch in der literarischen Aleatorik wieder, beim improvisierten automatischen und beim maschinell erzeugten kombinatorischen Text.



Was ist ein improvisierter automatischer Text?

Beim improvisierten automatischen Text wird die traditionelle Vorstellung, der Dichter schreibe aus einer inneren Schau, aus Inspiration, aus dem Un- und Unterbewussten (göttlicher Eingebung) - zur Methode. Der Text wird quasi anonym und automatisch / unabsichtlich niedergeschrieben, etwa in frei improvisierten automatischen Texten (= ecriture automatique), Zufallscollagen von Buchstaben, Worten, Sätzen oder ganzen Textpassagen.


Was bezeichnet ein maschinell erzeugter Text?

Beim maschinell erzeugten Text wird die Forderung, ein Text müsse sich lehrbaren und nachvollziehbaren poetologischen Gesetzen fügen, ersetzt durch maschinell - kombinatorische Textgenerierung. Würfel -, Zufalls - und Computertexte - sogenannte stochastische Texte - sind hierher zu rechnen, ebenso aber auch von Autoren nach strengen formalen Regeln erzeugte Texte.



Sind automatische Texte Unsinn?

Die Geschichte des zufällig gefügten Textes weist Traditionslinien bis zurück in den Manierismus und den Barock auf, wo er in Harsdörffers "Frauen - Zimmer Gesprächsspielen" (1641-49) beim Wörterzuwurf zum Beispiel gesellschaftliches Spiel ist.

Innerhalb der zahlreichen Variationen dieser Gesprächsspiele findet sich auch eines, was Gleichnisse zwischen zwei gänzlich unterschiedlichen Dingen sucht. Beispielsweise wird dort eine Waage mit dem Haupt eines Menschen verglichen: "An der Waage befinden sich zwei Waagschalen, zwei Waagbalken und das Zünglein, was den Ausschlag gibt. An des Menschen Haupt befinden sich hingegen beide rundgehöhlte Ohren, welchen alle Sachen gleichsam eingelegt, durch die Augen als Balken ermessen und von der Zunge nach Befindung beurteilt werden." An einer anderen Stelle werden das Wasser und die Jungfrau von der Lieb verglichen: "Die Liebe und das Wasser befinde ich fast gleich / in Betrachtung ihres Ursprungs / Theils Wasser kommt vom Himmel / gleichwie die Göttliche Lieb von oben herab auf uns unwürdige Menschen triefet: Theils quillet von der Erden wie die Liebesneigung / so irdisch gesinnet ist: Und solches Wasser ist entweder süß / wie auch die Lieb / so auf Tugend gegründet / oder bitteres Salzwasser / wie die Reizung / so in der geilen Wollust wandelt / und als ein flut vorüberrauschet / ja wie das Meer in Unbeständigkeit einig und allein bestehet."

Es handelt sich bei solchen Spielen wie auch bei automatischen Texten offenbar nicht um unsinnige Verknüpfungen. Dadurch, dass sie zueinander durch Zufall in Beziehung gesetzt werden, die auf den ersten Blick wohl von den meisten Menschen als Blödsinn abgetan wird, und man über Gleichnisse nachsinnt, gelangt man durch diese intensivere Betrachtung der Dinge zu ihrer genauen Beschaffenheit und darüber hinaus gewinnt man neue Perspektiven, die Dinge zu betrachten. Dies ist besonders bei einer durch Gewohnheiten geprägten Welt von größter Bedeutung.



Welche Rolle spielt der Zufall?

Lichtenberg weist dem Zufall in "Heft L" auch für Entdeckungen in der Naturlehre und beim Verfertigen von Meisterwerken eine produktive Rolle zu. (L II, 806): "Wenn man nach gewissen Regeln erfinden lernen könnte oder wenn die Vernunft sich selbst in Gang setzen könnte, so wäre dies gerade eine solche Entdeckung als die Tiere zu vergrößern, oder Sträucher zu Größen von Einbäumen auszudehnen. Es scheint als ob allen Entdeckungen eine Zufall zu Grund läge selbst denen, die man durch Anstrengung gemacht zu haben glaubt. Das bereits Erfundene in die beste Ordnung zu bringen, allein dei Haupt - Erfindungssprünge erscheinen so wenig das Werk der Willkür zu sein als die Bewegung des Herzens. - Ebenso kömmt es mir vor, als wenn die Verbesserungen durch die räsonierende Vernunft, bloß leichte Veränderungen wären; wir machen neue Species, aber Genera können wir nicht schaffen. Versuche müssen daher angestellt werden in der Naturlehre, und die zeit abgewartet, in den großen Begebenheiten, Ich verstehe mich. Hierher gehört, was ich an einem andren Ort gesagt habe, dass man nicht sagen sollte: ich denke, sondern es denkt so wie man sagt es blitzt."

Der Zufall ist die treibende Kraft aller Entdeckungen, er bewegt sich nicht in vorgefertigten Bahnen, sondern produziert ggf. sämtliche Zusammenhänge, die ein menschliches Gehirn in dieser Dimension nicht zu knüpfen fähig ist, schon weil es sich oftmals nicht von bereits bestehenden Zusammenhängen lösen kann und sich deshalb in der Assoziation nur in deren engstem Umfeld bewegt. Nicht alle Verknüpfungen können in ihrer Bedeutung erfasst werden, manche sind ganz und gar unverständlich, doch falsch? Ähnlich verhält es sich mit Verknüpfungen auf der Basis der Vernunft. Ist es nicht nachvollziehbar, wird es als Unsinn abgetan, die neu zu erwerbende Perspektive verworfen. Im Dadaismus wird der Zufall zum Hauptprinzip erhoben, es wird kein Unsinn produziert, sondern neue mögliche Perspektiven. Die Grenzen (falls es welche gibt) sind nicht gegenwärtig wie im Drahtkäfig der Vernunft.

Im gesellschaftlichen Rahmen verstanden diente der Dadaismus auch als Provokation.


Welche Rolle spielte die Stuttgarter Gruppe / Schule?

Die Stuttgarter Gruppe / Schule um Max Bense war bereits sehr früh an einer Verbindung von künstlerischer Produktion mit neuen Medien und Abschreibesystemen interessiert. Die Stuttgarter Gruppe / Schule interpretierte wissenschaftlich, indem sie mit Hilfe elektronischer Rechenanlagen Häufigkeitswörterbücher herstellte und für exakte statistische und ästhetische Textanalysen nutzte, sie interpretierte aber auch literarisch, indem sie das Verfahren der Herstellung von Wortindices praktisch umkehrte und den Computer anwies, mit Hilfe eines eingegebenen Lexikons und einer Anzahl von syntaktischen Regeln Texte zu synthetisieren und herauszugeben. Das erste Programm von 1959, das aus circa 200 Befehlen bestand, brachte aus heutiger Sicht zwar noch kein aufregendes Ergebnis, hatte aber für die Stuttgarter Gruppe / Schule den Wert einer Inkunabel der künstlichen Poesie, die Max Bense kurze Zeit später auch theoretisch von der natürlichen Poesie unterschied.


Nicht jeder Blick ist nah. Kein Dorf ist spät. 
Ein Schloss ist frei und jeder Bauer ist fern. 
Jeder Fremde ist fern: Ein Tag ist spät. 
Jedes Haus ist dunkel: Ein Auge ist tief. 
Nicht jedes Schloss ist alt. Jeder Tag ist alt. 
Nicht jeder Gast ist wütend. Eine Kirche ist schmal. 
Kein Haus ist offen und nicht jede Kirche ist still. 
Jeder Weg ist nah. Nicht jedes Schloss ist leise. 
Kein Tisch ist schmal und jeder Turm ist neu. 
Jeder Bauer ist frei. Jeder Bauer ist nah. 
Kein Weg ist gut oder nicht Jeder Graf ist offen. 
Nicht jeder Tag ist groß. Jedes Haus ist still. 
Ein Weg ist gut. Nicht jeder Graf ist dunkel. 
Jeder Fremde ist frei. Jedes Dorf ist neu. 
Jedes Schloss ist frei. Nicht jeder Bauer ist groß. 
Nicht jeder Turm ist groß oder nicht Jeder Blick ist frei.


Was versteht man unter natürlicher und künstlicher Poesie?

Unter natürlicher Poesie wird hier die Art von Poesie verstanden, die ein Bewusstsein zur Voraussetzung hat, das Erlebnisse, Erfahrungen, Gefühle, Erinnerungen, Gedanken, Vorstellungen einer Einbildungskraft etc., kurz eine präexistente Welt besitzt und ihr sprachlichen Ausdruck zu verleihen vermag.Unter künstlicher Poesie versteht man hingegen die Art von Poesie, in der es, sofern sie zum Beispiel maschinell hervorgebracht werde, kein personales poetisches Bewusstsein, also keine präexistente Welt gibt. Während also für die natürliche Poesie ein intentionaler Anfang des Wortprozesses charakteristisch ist, kann es für die künstliche Poesie nur einen materialen Ursprung geben.




(Beitrag von Jana Gutjahr aus einem Seminar an der Universität Greifswald, 2001)