Aktionsgruppe Banat
Die Aktionsgruppe Banat
eine literarische Moderne zwischen rumänischem Realsozialismus und deutschem Provinzialismus
Der Dank einer Literaturnobelpreisträgerin: Wiedergeburt eines alten Mitteleuropa?
Genau zwanzig Jahre nach dem Beginn der Revolutionen und Systemwechsel in Mittel- und Osteuropa, im Jahr 2009, erhält die rumäniendeutsche bzw. banatschwäbische Schriftstellerin und Exilantin Herta Müller den Literaturnobelpreis. Damit gerät ein Stück Mitteleuropa in den Blick der institutionalisierten Hochkultur, das sich, so die hoffnungsvolle Erwartung des deutschen Feuilletons, erst langsam wieder durch Grenzenlosigkeit, vielleicht sogar Vielsprachigkeit und Multikulturalität, auszuzeichnen beginnt.
Viele von Herta Müllers Texten zeichnen sich jedoch durch einen klaren, stilistisch und thematisch "modernen" Blick auf eine ebenso traditionelle wie provinzielle Gesellschaft aus, der nicht nur jede Idylle, Heimelig- und Heimatseligkeit der Minderheiten- und Vertriebenenverbände Lügen straft, sondern auch nicht unbedingt einem solchen Mitteleuropa-Ideal zu entsprechen scheint.
In ihrer Dankesrede in Stockholm erwähnt sie diejenigen, die ihr geholfen haben, dieser Welt zu entkommen: "Zum Glück traf ich in der Stadt Freunde, eine Handvoll junge Dichter der „Aktionsgruppe Banat“. Ohne sie hätte ich keine Bücher gelesen und keine geschrieben. Noch wichtiger ist: Diese Freunde waren lebensnotwendig. Ohne sie hätte ich die Repressalien nicht ausgehalten. Ich denke heute an diese Freunde. Auch an die, die auf dem Friedhof liegen, die der rumänische Geheimdienst auf dem Gewissen hat" [1].
Wer sind diese jungen Dichter? Was hat sie in diesen abgeschlossenen Welten des realsozialistischen Rumänien und der Banatschwaben zusammengeführt? Was haben sie gedichtet, welches waren ihre ästhetischen und gesellschaftspolitischen Positionen? Warum hat sie der rumänische Geheimdienst auf dem Gewissen? Und scheint in dieser Aktionsgruppe tatsächlich etwas auf vom "alten Mitteleuropa" der grenzenlosen Multikulturalität?
Beginn einer rumäniendeutschen Literaturströmung
In der deutschen [2], rumänischen, ungarischen, jüdischen, serbischen, möglicherweise "mitteleuropäischen" Stadt Temeswar/Timisoara/Temesvár/Темишвар [3], der Hauptstadt des Banat/Bánság/Банат, treten ab 1972 die Gymnasiasten und Germanistikstudenten Albert Bohn, Rolf Bossert, Werner Kremm, Johann Lippet, Gerhard Ortinau, Anton Sterbling, William Totok, Richard Wagner und Ernest Wichner als "Aktionsgruppe Banat" auf. Alle sind in den frühen 1950er Jahren geboren und stammen aus dem weitgehend selben Milieu: Der Dorfwelt der Banater Schwaben, einer deutschsprachigen Minderheit.
Der Ursprung dieser Gruppe liegt im Lyzeum von Groß Sanktnikolaus/Sâ nnicolau Mare/Nágyszentmiklós am westlichsten Zipfel des Banats. Der dortige erste deutschsprachige Jahrgang, dem Kremm, Totok, Lippet, Wagner und Sterbling angehören, wird im 9. Jahrgang von der "begeisterten und eigenwilligen" [4] Deutschlehrerin Dorothea Götz unterrichtet. Sie gründet einen Literaturkreis, dem durch eine zeitweise Annäherung Rumäniens an die Bundesrepublik Deutschland auch moderne deutschsprachige Literatur des Westens [5] - "nicht nur Lyrik, Prosa und Stücke, sondern auch literaturtheoretische und sozialwissenschaftliche Literatur" [6] - zur Verfügung steht. Diese wird ebenso diskutiert wie die immer häufiger entstehenden eigenen Texte, die in der Neuen Banater Zeitung, die sich bereits seit 1969 in ihren Schüler- und Studentenbeilagen Wir über uns "um neue Talente" [7] bemüht und diesen ein Forum für ihre Texte bietet, veröffentlicht werden. Durch diese Veröffentlichungen entstehen weitere Kontakte zu jungen Banater Autoren, die das Lyzeum nicht besuchen: "Es entstand langsam, ohne dass dies gezielt geplant gewesen wäre, ein mehr oder weniger intensiv kommunizierender, auch lebhaft streitender, überaus kritischer Kreis junger Schreibender" [8].
Der Hintergrund der Öffnung der Zeitung wie der Schule ist die Hoffnung, die sich mit den frühen Jahren des Parteivorsitzenden der RKP und des Vorsitzenden des Staatsrates Nicolae Ceausescu verbindet, der sich 1968 öffentlich vom Führungsanspruch der Sowjetunion distanziert und sich nicht nur weigert, mit den Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei einzumarschieren, sondern die Niederschlagung des dortigen Prager Frühlings sogar auf einer Bukarester Massenveranstaltung als aggressiven Akt verurteilt [9], was auch zur erwähnten kurzzeitigen Annäherung an die Bundesrepublik führt. Von Bedeutung für den deutschsprachigen Literaturbetrieb sind dabei insbesondere die im Zuge der Ceausescuschen erweiterten Minderheitenrechte neu etablierten medialen Möglichkeiten hinsichtlich Rundfunk, Fernsehen und Presse sowie die Möglichkeiten der Rezeption des Formenpluralismus moderner europäischer Literatur jenseits der bisherigen stalinistischen Ästhetiknormen [10] - zumindest kurzfristig bis zur sogenannten "Mini-Kulturrevolution" [11]: Die "Juli-Thesen" von 1971, in denen die Partei die Führung und totale Ideologisierung aller erzieherischen und kulturellen Bereiche beansprucht, zeigen im rumänischen Kulturbetrieb bereits Wirkung, während das Inseldasein der Banatschwaben noch nicht recht betroffen scheint. Feste gemeinsame Nenner der Gruppe sind für Sterbling im Rückblick "die Begeisterung für die Moderne und die Neigung zur avantgardistischen Literatur, der Wunsch und Wille zur Veränderung, der sich in einem großen Interesse an den Entwicklungen im Westen und in der Welt, aber auch in der Auseinandersetzung mit der vorgefundenen Realität in der eigenen Gesellschaft Ausdruck verschaffte" [12].
Neben dem realsozialistischen Rumänien gehört zu dieser vorgefundenen Realität auch die "noch stark traditional geprägte" [13] Minderheit der Banater Schwaben, einer Folge der planmäßigen habsburgischen Ansiedlungspolitik des Banats nach den Siegen über die Osmanen ab 1716 [14]. Durch den Charakter der reißbrettartigen absolutistischen Kolonisierung, der sich auch in der Anlage der Dörfer des Banats zeigt (und in mindestens einer Prosaskizze der Gruppe thematisiert wird), aus denen die Gruppenmitglieder stammen, unterscheidet sich die kulturelle Identität der banatschwäbische Bevölkerungsgruppe von den übrigen bedeutenderen rumäniendeutschen Milieus. Eines davon, wesentlich älter und homogener, ist im konfessionell und organisatorisch autonomeren Siebenbürgen zu finden, ein anderes ist als Teil des (damals noch) multikulturellen Bukarest deutlich geprägt von der Metropole.
Das zumindest über die Umwege der Celan- und Ausländerrezeption eine Rolle spielende, von 1919 bis 1940 großrumänische Zentrum der (Nord-)Bukowina Czernowitz bleibt hier ebenso wie Bessarabien als Teil der ukrainischen bzw. moldauischen Sowjetrepublik außen vor, weil deren deutschsprachige Bevölkerungen bereits 1940 in der Konsequenz des geheimen Zusatzprotokolls des deutsch-sowjetischen Nichtangrifspaktes weitgehend "heim ins Reich" geholt [15] bzw. als Mitglieder der jüdischen Gemeinden weitgehend ausgelöscht worden sind.
Im Gegensatz zu den Siebenbürger Sachsen genießen die Banater Schwaben vor 1918 keine wesentlichen Selbstverwaltungsprivilegien und weisen keine entsprechende soziale oder selbst empfundene Homogenität auf. Zunächst bestehen zwischen der ländlichen und städtischen Bevölkerung wenig Gemeinsamkeiten (und auch praktisch kein Austausch), zumal das kulturelle Leben in der Stadt von häufigen Umzügen von und nach Wien und infolge dessen durch personelle und geistige Diskontinuitäten geprägt ist. Erst die Magyarisierungspolitik nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich 1867 führt neben ungarischer Assimilation zur deutschen bzw. deutsch-österreichischen Nationalisierung der Banater Schwaben, die sich schließlich in einer Literatur äußert, die ein nationales Identitätsbewusstsein als Volksgruppe zu erfinden, zu wahren und zu stärken beabsichtigt [16] - was ebenfalls in Texten der Aktionsgruppe reflektiert wird. Der der Aktionsgruppe freundschaftlich verbundene Temesvarer Journalist und Literaturkritiker Gerhardt Csejka beschreibt die Tradition dieser Literatur, mit der die Gruppe konfrontiert ist, folgendermaßen: "Es hängt, versteht sich, aufs engste mit der Geschichte dieser Siedlungen zusammen, daß ihre literarischen Erzeugnisse von Grund auf realistisch sind. Man könnte sie, aufs Ganze genommen, beinahe pragmatisch nennen, auf Selbstbestätigung und Selbsterziehung so sehr bedacht [...]. Es galt vor allem, die sittlichen Eigenschaften zu pflegen, für intellektualistische Spekulationen und unverbindliche Spinnereien hatte man weder Zeit noch Sinn" [17].
"Am Anfang war das Gespräch": Erste Positionen
Anlass des Eintritts in die Öffenlichkeit ist eine Diskussionsrunde der Neuen Banater Zeitung am 2. April 1972 [18], eines erst kurz zuvor gegründeten Temesvarer Blattes mit umfangreichen Kulturbeilagen, die teils ausdrücklich an bestimmte Altersgruppen adressiert sind [19]. Kennzeichen dieser Zeitung, offiziell Organ des Kreiskomitees der örtlichen RKP, ist die Spannung zwischen der orthodoxen Parteilinie, die auf den ersten Seiten vertreten wird, und der Möglichkeit für subversive Experimente in den Beilagen und Sonderseiten. Dazwischen stehen mehr oder weniger traditionelle Minderheitenthemen, die auf den Mundartseiten diskutiert werden [20].
Die Diskussionsrunde unter der Leitung des Redakteurs Eduard Schneider, veröffentlicht unter dem Titel "Am Anfang war das Gespräch" [21] in der Studentenbeilage universitas, konstatiert zunächst, dass in den letzten Jahren eine neue Generation von Autoren rein "quantitativ etwas geschaffen hat", bevor eine doppelte Standortbestimmung vorgenommen wird: Die Spannung zwischen der "Bildungssituation", der sprachlichen und ("hoch"-)kulturellen Prägung durch deutsche Schulbildung und Literatur, und der "hiesigen Wirklichkeit", dem Status als Minderheit im realsozialistischen rumänischen Staat.
Für die "erste Generation Schreibender, die in die sozialistischen Verhältnisse hineingeboren wurde" und damit "die heutige Realität vorurteilsloser und komplexer als Ältere" sehen kann, steht Berthold Brecht dabei in herausragender Stellung als (in der Diskussion umstrittene) "einzige Grundlage, von der man hier und jetzt ausgehen kann", weil er "mit den Möglichkeiten einer sozialistischen Literatur" experimentiert.
Durch räumliche Trennung und politische Zensur weit ab von den Zentren deutscher Literaturproduktion befürchten die Autoren, "Vorstellungen von der Literatur [zu] besitzen, die längst überholt sind" - sehen aber auch die Möglichkeit von "Hybridgewächsen", indem "Experimente spät bekannt werden, überholte Tendenzen sich mit neuen paaren". So fordern sie beispielsweise, Natur durch Landschaft zu ersetzen, "die Landschaft nicht zuletzt als Baustelle, als Fabrikgelände, als Straßenbild" neu zu entdecken. Gleichzeitig geht es nicht darum, die Landschaft darzustellen, sondern "ihre Elemente mit der dazugehörenden Aussagekraft zu verwerten" beziehungsweise "ein Milieu anzugeben, um nicht in Abstraktion zu verfallen". Solche Abstraktion lehnen die Autoren ab, denn Literatur dient dem Ausdruck "des Gefühls und des logischen Gedankens" und "ist geistiges und psychisches Realitätssichten". Trotz ihrer offen marxistischen Verwurzelung in der Realität lehnen die Autoren den Sozialistischen Realismus in seiner Eigenschaft als Propagandaliteratur, die sich "eine Papierrealität" baut, ab, sondern fordern eine kritische Literatur: "Literatur hier und heute ist ein Auf-der-Grenze-gehen [...]. Ausschlaggebend ist der Standort des Kritikübenden, er kann es innerhalb der Gesellschaft und für diese tun".
Im Rückblick zeichnet sich diese Gesellschaft, innerhalb der die Autoren arbeiten, durch "Väter, die in der SS waren, sekundärtugendhafte katholische Mütter, eine deutschsprachige Bevölkerung, die unter Politik Antikommunismus, Auswanderung und nationalen Chauvinismus verstand" [22] aus. Hinzu kommen die "dummen und opportunistischen rumäniendeutschen Funktionäre: Parteifunktionäre, die nebenberuflich in den Medien und in der Kultur arbeiteten; Medien- und Kulturangestellte, die hauptberuflich Parteifunktionäre waren" [23] und den etablierten Ton der rumäniendeutschen bzw. banatschwäbischen Kultur angeben. Wichtige Träger bisheriger rumäniendeutscher Literatur, Journalisten und Redakteure der Minderheitenzeitungen, treten - sofern sie den Experimenten wohlwollend gegenüberstehen - als unterstützende und philologisch geschulte Kritiker der jungen Autoren auf [24].
Ein Siebenbürger Rezensent des zusammengefassten Gesprächsbeitrags nennt die aufgetretene Gruppe Aktionsgruppe Banat, was diese selbst übernimmt [25] - trotz der Warnungen einiger älterer und mit der Diktatur erfahrenerer Autoren, die die jüngeren Kollegen auf die Gefahren allzu ostentativer Gruppenbildung und -selbstbezeichung hinweisen [26].
"Drei Jahre produktive Provokation" [27]: Literarische Praxis
Das "doppelte Verhältnis zur Realität" und die "Kleine Kulturrevolution" sind außergewöhnliche Entstehungsbedingungen für Literatur. Für die zensorische Praxis bedeutet die Umsetzung der Juli-Thesen ein komplexes Geflecht an Kontroll- und Zensurstellen auf jeder Ebene des Literaturbetriebs, die sich als Vor- und Nachzensur aber auch gegenseitig die Verantwortung zuweisen und teils sogar das Entstehen zensurloser Zwischenräume ermöglichen [28].
Zunächst entsteht vor allem Lyrik, die sich wegen des Drucks teils als verdeckt, verschlüsselt oder doppelbödig auszeichnet: "Die rumäniendeutsche Literatur hat einfallsreiche und spezifische Techniken der poetischen Camouflage entwickelt" [29].
Die Rezeption westlicher neomarxistischer gesellschafts- wie literaturkritischer Texte etwa von Adorno, Enzensberger oder Marcuse [30] kollidiert identitätsstiftend mit dem erwähnten Traditionalismus der banatschwäbischen Gesellschaft, eine der Realitäten, die die Autoren vorfinden. Besonders die Erzählliteratur gestaltet diese Opposition zur Provinzialtät beispielsweise als Schweigen über verschwundene Außenseiter, in surrealen Volksfestszenen oder unromantischen Dorfgeschichten voller Alkoholismus und Gewalt.
Die zweite nach Auffassung der Gruppe veränderbare und veränderungswürdige Realität ist die des realsozialistischen Rumänien, die beispielsweise durch Wortspiele (die nichtmuttersprachliche Zensoren nur schwer verstehen können) oder verfremdende Nutzung der Zeichen (Buchstaben und Satzzeichen, aber auch Seme oder Phoneme) gestaltet wird. Dieses Verfahren der Semantisierung der formalen Elemente eines Textes bis hin zur Gedichtgestalt selbst ist typisch für eine literarische Moderne, die nicht mehr "nur" ein möglichst "kunstvolles" bzw. ästhetisches Darstellen eines Signifikats für darstellungswürdig hält, sondern den Blick auf die Signifikanten selbst und deren Körperlichkeit lenkt.
Ein weiteres der künstlerischen Moderne zugeschriebenes Merkmal ist die Organisationsstruktur als Gruppe, der eine ausgeprägte Gruppenidentität zu Grunde liegt, die sich in Treffen im Rahmen der Germanistik der Temesvarer Universität, aber auch im - politisch verdächtigen bzw. verbotenen - spontanen Zusammentreffen in Wohnungen und Lokalen abspielt. Diese Gruppenidentität ist selbst wiederum Ausdruck der doppelten Opposition zur Realität, indem sie einerseits der traditionellen bürgerlichen bzw. banatschwäbischen Künstler- bzw. Genieauffassung widerspricht, nach der der inspirierte Schriftsteller allein tätig ist, andererseits aber auch die Organisations- und Versammlungsverbote außerhalb der offiziellen staatlichen rumänischen Organisationen unterläuft. Darüber hinaus fühlen sich die Gruppenmitglieder in einer "Außenseiter- und Enklavensituation in der tiefsten Provinz [31]", die das Gruppenerlebnis nötig macht.
Die Gruppendiskussionen behandeln über das eigene Schaffen hinaus moderne politische und literarische Themen; genannt seien als Stichworte neben der Wiener Gruppe die Namen Handke, Böll und wieder Brecht, aber auch Solschenizyn, Dubcek, Rudi Dutschke und Ulrike Meinhof [32].
Der Veränderungswille der Aktionsgruppe wird auch in ihrem starken Bemühen nach Öffentlichkeit deutlich, die sie aufrütteln und modernisieren will. Im Rahmen des Bukarester deutschen Literaturkreises, des (eher traditionellen) Temesvarer Adam-Müller-Guttenbrunn-Kreises und des lokalen Rundfunks und Fernsehens finden Lesungen statt, die teils zu inhaltlich wie formal provokativen Happenings werden: Gruppenlesungen nach dem Vorbild der Wiener Gruppe [33], die Textmontagen performativ entstehen lassen, indem beispielsweise der Vortrag eigener und fremder Texte mit Tonbandaufnahmen und Musik kombiniert und collagiert wird [34], entsprechen in ihrer Eigenart als "anarchisches Gaukelspiel und politisches Cabaret" [35] weder der Literaturauffassung der Banatschwaben noch der der kommunistischen Kulturfunktionäre.
Hinzu kommen viele Veröffentlichungen, allein oder als Gruppe, die in regionalen wie überregionalen Literaturzeitschriften und -beilagen die ästhetischen und politischen Modernisierungsbemühungen dokumentieren, wie etwa in der Bukarester Zeitschrift "Neue Literatur", die seit Ende der 1960er Jahre von den beiden älteren deutschen Autoren Paul Schuster und Dieter Schlesak redigiert wird. Die beiden sehen es als "ihre vorrangige Aufgabe an, die junge rumäniendeutsche Literatur zu fördern" [36], darunter ausdrücklich sogar mit Sonderheften auch Lyrik. Zwischen 1972 und 1974 veröffentlicht die "Neue Literatur" drei gemeinsame "Anthologien" [37] der Aktionsgruppe Banat.
Textbeispiele
"ein pronomen ist verhaftet worden": Lyrisch gestalteter totalitärer Mord an der Sprache
Gerhard Ortinaus Gedicht "Die Moritat von den 10 Wortarten der traditionellen Grammatik" [38], 1974 erschienen in der Anthologie "Wir Wegbereiter", ist ein Beispiel für die spielerische, humorvolle und auf mehreren Ebenen hintergründige Lyrik der Gruppe, das viele Elemente moderner Dichtung enthält. In drei Strophen mit den Titeln "1. Schaltung", "2. Umschaltung", "3. Gleichschaltung" wird in Analogie an die titelgebende Sonderform des Bänkelgesang eine Art Mordtat mit moralisierender Tendenz beschrieben, die mit den Wortarten der klassischen Grammatik und ihren Eigenschaften spielt. So verlegt eine Präposition ihren Standort und das nicht dazu geeignete Numerale wird beauftragt, ein verhaftetes Pronomen zu ersetzen. Dass dieses Pronomen bereits im ersten Vers verhaftet worden ist - im Passiv und mit unterdrücktem Agens - erzeugt eine Unsicherheit, die durch die in den folgenden Versen wiederholte Satzstruktur verstärkt wird. Der erste Satz im Aktiv kann folgerichtig nur im Modus der Ironie erscheinen und spielt mit der Doppeldeutigkeit des Wortes Artikel, den die Auslandspresse verwechselt. Die formale und künstliche grammatische Kategorie der Wortart wird also selbst zu Inhalt wie Gestaltungsmittel des literarischen Kunstwerks. Darüber hinaus referiert spätestens das Stichwort der Auslandspresse auf den Kalten Krieg und den real existierenden Sozialismus. Dem Adjektiv bleibt am Ende dieser ersten Strophe ("Schaltung") also nichts anderes mehr übrig, als zögernden "bei- / fall" zu klatschen. Gewaltsam bekämpfen und verdrängen sich die Wortarten im Zuge der zweiten Strophe "Umschaltung" nun gegenseitig. Nichts steht mehr an der Stelle, in der es funktioniert, denn eher attributive Wortarten ersetzen die, die als Sinnträger oder Tätigkeiten fungieren können. Eines der Mittel innerhalb dieses Kampfes ist die Anzeige - bei wem ist unerheblich -, durch die dieser Prozess in Gang gebracht wird. Der Artikel (eben noch korreliert mit der Auslandspresse) prostituiert sich, muss auf den Strich gehen, und schließlich besteigt die Interjektion, ein bloßer und mutmaßlich nicht bedeutsamer Einwurf - in der traditionellen Grammatik etwa markiert durch den einen Gedankenstrich - den Thron: Eine bloße Episode, in keinem Zusammenhang mit dem "richtigen" Lauf der Geschichte: Für die real auf dem Thron sitzende RKP und ihren Führer sicherlich keine charmante Beschreibung.
Der Umschaltung folgt nun die dritte Strophe "Gleichschaltung", die die nominelle Bezeichnung der einzelnen Wortarten als Substantive sachlich richtig in fast gleich lautenden Versen wiederholt. Die wenig überraschende abschließende Erkenntnis, selbst das Wort Substantiv sei ein Substantiv, gewinnt dadurch an Brisanz, dass Substantive prototypisch besonders zeitstabile Begriffe bezeichnen - im Gegensatz zur Interjektion der vorigen Strophe. Außerdem hat das Substantiv in dieser Strophe alle übrigen genannten Wortarten überflüssig gemacht und durch sich selbst ersetzt, also einen totalen Anspruch innerhalb der Sprache durchgesetzt. Dieser Anspruch wird in den letzten Versen mit Hilfe des bekannten Sonnenkönig-Zitates als Idealtyp einer auf eine Person zentrierte Herrschaft realisiert: "die sprache / c'est / moi / !". Die in der Moritat beschriebene(n) Mordtat(en) betreffen also alle gefährlich dynamischen Elemente der Sprache, die selbst auf die bloße Stabilisierung eines totalitären status quo reduziert wird. Durch Gestaltung und Neukombination dessen, was traditionell dazu dient, Sprache und ihre Bestandteile kategorial zu fassen und zu beschreiben, wird hier zunächst spielerisch und ironisch ein Zustand erzeugt, der zur totalen Verarmung und letztlichen Zerstörung aller ihrer künstlerischen und überhaupt lebenswichtigen Voraussetzungen führt. Am Ende einer so dynamischen Entwicklung wie der der Sprache bleibt nur noch das aussagefreie und statische, aber obrigkeitlich eingebläute Ausrufezeichen.
Während der später erfolgen Verhaftung einiger der Gruppenmitglieder ist gerade dieses Gedicht eines der wichtigsten Beweisstücke für deren staatsfeindliche Einstellung - obwohl es die Zensur vor Erscheinen in der Beilage der Neuen Banater Zeitung nicht beanstandet hat. Gerhard Csejka vermutet nachträglich: "Offenbar hatte der Zensor, der es genehmigte, in seiner Allgemeinbildung gerade dort eine Lücke, wo ihm [...] das berühmte Diktum Ludwigs XIV. [...] hätte einfallen müssen; während die Fachgelehrten von der Universität natürlich sofort den Nachweis parat hatten, dass Ortinau mit dem obersten Sprachregler praktisch nur den Einen meinen konnte, dessen Ikone unbefleckt zu erhalten heiligste Pflicht der Staatsschützer war" [39].
"was mit Herrn Buchwald geschah": Eine Parabel über Dorf, Nation und imagined community
Die ebenfalls 1974 erschiene Prosaskizze "Was mit Herrn Buchwald geschah" von Albert Bohn [40] erforscht in kurzen, zumeist parataktischen Sätzen einen Fall, von dem die sich angegriffen fühlenden Zeugen konstatieren: "Hier ist nichts geschehen." Der Ich-Erzähler fragt sich zunächst, ob und warum das Wissen über ein solches Geschehen von Bedeutung sein könnte, bevor er seine Umgebung und die Quellen für dieses Geschehen (sowie dessen Beteiligte) beschreibt: "Zufrieden und wohlgeordnet", mit feststehendem wöchentlichem Speise-, Aktivitäten- und Saufplan, denn "das musste so sein, wenn sie sich nicht kleinkriegen lassen wollten". Sie, das sind die durch Ungarn und Rumänen bedrohten Deutschen im Banat, die sich ihrer Existenz durch eben diese Rituale vergewissern. Geschehen - oder nicht geschehen - ist etwas mit einem, der nicht recht in dieses Muster der völkischen Parallelexistenzen hineinpasst: Herr Buchwald, Deutscher, aber "Lehrer an einer nichtdeutschen Schule".
1940, so der Erzähler, kehrt der Mühlenbesitzer Reindl von einem Aufenthalt in der Stadt mit Stiefeln und Uniform zurück und empfiehlt einigen seiner durch die Nachnamen als Deutsche "ausgewiesene", aber seit Generationen magyarisierten Mitbürgern, in die "Volksgruppe" einzutreten. Reindl selbst erwartet dadurch Geschäftsvorteile und benötigt diese zu bildenden Volksgenossen, um überhaupt erst eine Volksgruppe gründen zu können.
In dieser Atmosphäre wird nun Herrn Buchwald dringend empfohlen, von den staatlichen rumänischen zu einer der konfessionellen deutschen Schulen zu wechseln, was dieser ablehnt. Kurz darauf wird Herr Buchwald "trotz seiner 46 Jahre" zur rumänischen Armee einberufen, von der er aber bereits "nach acht Monaten, höherem Befehl folgend" entlassen wird. Seine Stelle an der nichtdeutschen Schule ist inzwischen anderweitig besetzt und Herr Buchwald muss nun das "Deutschtum" der "Kinder der ungarischen Familien Aufmuth, Keller und Tittinger" pflegen. 1944 wird Herr Buchwald schließlich verhaftet und "in ein Lager für aktive Nazis überführt". Zwar wird er ein dreiviertel Jahr später wieder entlassen, doch seine Frau und Tochter trifft er im Dorf nicht mehr an. "Er klopft an jedes Haus. Keiner öffnet ihm. Herr Buchwald verlässt das Dorf."
Im Gestus des Fragens und Gegenfragens, der beispielsweise an die bundesdeutschen 68er und ihre Auseinandersetzung mit der NS-verwickelten Elterngeneration erinnert, rückt der Erzähler - "Ich könnte Albert Bohn heißen oder auch nicht" - den Text ins Parabelhafte. Die Parabel wirft selbst prototypisch Fragen auf, deren Bildebene zunächst - wie dem oder den Befragten im Text ("Sie sollten das Fragen sein lassen") - nicht unbedingt von größerer Bedeutung erscheint, deren Sachebene aber allgemeingültige moralische Grundsätze behandelt. So wird aus dem scheinbar unbedeutenden Wegzug eines Mitbürgers eine Erzählung über uneindeutige ethnische Identitäten, die sich einer Nationalisierung entziehen, eine über Verstrickungen von sich ungerecht behandelt fühlenden Bürgern in ein Verbrecherregime, sowie eine über sich durch sinnlose und oberflächliche Rituale sowie Nationalismus definierende dörfliche Gesellschaft, deren Substanz eben fragwürdig ist.
Ohne ein idealisiertes multikulturelles Mitteleuropa als Gegenfolie hineinzuprojizieren, berichtet der Text nicht nur von den brüchigen und oberflächlichen Ersatzidentitäten nach dessen Untergang, sondern konstituiert seine Welt als vorgestellte, sogar erfundene Gemeinschaften auf mehreren Ebenen. Nicht nur nationalistisches "Deutschtum" wird so als inhaltsleere und substanzlose imagined community entlarvt, sondern auch die traditionelle Dorfwelt der Banater Schwaben mit ihren sinnlosen, "existenzsichernden" Ritualen.
"konnte praktisch überhaupt nichts mehr machen" [41]: Verfolgung und Ende
So wenig die banatschwäbischen Adressaten der Gruppe eine Veränderung ihrer Gesellschaft in Angriff nehmen, so groß wird das Interesse der Staatsmacht an den organisatorisch (als autonome und sich zunehmend festigende Eigeninitiative), performativ (durch die Happenings und den Aktionscharakter) und inhaltlich-thematisch als wenig ideologie- und regimestabilisierend wahrgenommenen Autoren, zu deren Selbstbeschreibung ja die Provokation gehört [42] und deren Sozialismus eher aus der Rezeption westlicher Neomarxisten denn aus einer "Identifikation mit der Arbeiterschaft" stammt. Und schließlich ist ja eine der zu verändernden Realitäten das gerade nicht affirmativ besungene realsozialistische Rumänien.
Zunächst werden die offiziellen und regelmäßigen Treffen der Gruppe im Temesvarer Studentenkulturhaus abgehört, was den Gruppenmitgliedern bewusst ist [43]. Schon bald treten jedoch Bespitzelung, Bedrohung und Drangsalierung von Seiten der Securitate hinzu [44]. Die zunehmende Zensur, die sich sowohl vor der Veröffentlichung als auch als nachträgliche Zensur immer offener zumindest als Damoklesschwert in die Textproduktion der Autoren einmischt, tut sich jedoch schwer, konkrete Verstöße nachzuweisen [45]. Dafür werden sogar Dichter verpflichtet, die dem Geheimdienst nicht nur als Informanten dienen, sondern auch durch philologische Arbeit helfen sollen, die Texte zu entschlüsseln und hinsichtlich möglicher verbotener Abweichungen zu interpretieren. Das tatsächliche Ausmaß dieser geheimdienstlichen Bemühungen und die möglichen Verwicklungen konkreter Personen tritt erst langsam zu Tage und ist noch nicht abzusehen[46]. Bis heute scheint sich zumindest bei dem Lyriker Werner Söllner - selbst als damaliger Redakteur des deutschsprachigen Teils der dreisprachigen Studentenzeitung Echinox in Klausenburg/Cluj/Kolozsvár nicht Mitglied, aber "durchaus vergleichbar mit den Texten" [47] der Aktionsgruppe - bestätigt zu haben, dass er unter Druck für die Securitate tätig war oder sein musste [48] und Texte für den Geheimdienst interpretiert hat.
Eine der Begründungen des rumänischen Regimes zur Verfolgung der Gruppe erinnert an deutsche CSU-Politiker, die ebenfalls eine geistige Mittäterschaft der von den Autoren rezipierten linken Schriftstellern am Terror der RAF unterstellen, indem von staatlicher Seite ein Vergleich mit der Baader-Meinhof-Gruppe vollzogen [49] und somit die Verfolgung der Gruppe auch durch den Terrorismusvorwurf begründet wird: Eine Methode, die Devianz zu kriminalisieren.
Das einzig überraschende an den folgenden Verhaftungen ist also ihr später Zeitpunkt: Erst im Oktober 1975 werden Ortinau, Wagner, Totok und der zufällig anwesende, als Förderer und Kritiker fungierende Redakteur der "Neuen Literatur" Gerhard Csejka während einer Reise mit dem Vorwurf der (im Grenzgebiet zu Jugoslawien häufigen) illegalen Ausreise verhaftet. Die Konsequenzen sind zunächst Verhöre, Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmung von Manuskripten und Büchern, bevor William Totok unter dem Verdacht staatsfeindlicher Aktivitäten stellvertretend für die Gruppe acht Monate lang in Untersuchungshaft bleibt. Auch den entlassenen Mitgliedern wird neben einem halbjährlichen Publikationsverbot zu verstehen gegeben, besser nicht mehr als Gruppe aufzutreten. Totok selbst wird von der Universität Temesvar exmatrikuliert und erst auf Druck von Amnesty International freigelassen [50].
Im Verlauf der Verhöre wird den Verhafteten mehrfach Ortinaus "Moritat von den 10 Wortarten der traditionellen Grammatik" als "eines der wichtigsten Beweisstücke für die staatsfeindliche/majestätsbeleidigende Einstellung" [51] vorgelegt.
Dieses Vorgehen bedeutet das Ende der Gruppe. Einerseits wird klar, dass die nun alarmierten Behörden die bisherige kollektive Tätigkeit nicht mehr zulassen würde, andererseits ist auch die Gruppenatmosphäre zerstört. Der Verdacht nach einem oder mehreren Spitzeln innerhalb der Gruppe lässt das Vertrauen zwischen den Autoren erlöschen.
Schließlich zerfasert die Gruppe auch physisch, indem bereits 1975 Bohn, Sterbling und Wichner ausreisen, denen im Jahr darauf Ortinau folgt, nachdem ein Kurzprosaband von ihm völlig entstellt erscheint [52]. Werner Kremm beendet unter dem Druck der Ereignisse seine literarische Tätigkeit und wird in einem abgelegenen Dorf Deutschlehrer, später Lokaljournalist.
Nach der Verfolgung: "engagierte Subjektivität" [53]
Es bleiben Richard Wagner, Johann Lippet, Rolf Bossert und nach seiner Haftentlassung William Totok zurück, die als ausgeprägte, dezidiert kritische Einzelstimmen hörbar bleiben. Das Phänomen und der Kollektivautor "Aktionsgruppe Banat" ist jedoch zu Ende, die Sorglosigkeit (und vermutlich auch Naivität) und die damit einhergehende Souveränität und Experimentierfreude kreativer Gemeinsamkeit sind dahin. Thematisch treten Bitterkeit, Unbehagen und Desillusionierung in den Vordergrund; das gesellschaftliche Engagement, die als doch nicht so einfach veränderbar wahrgenommene Realität wird bitter-ironisch gebrochen und verschiebt politische Verhältnisse ins Existenzielle, oftmals in Alltagsskizzen. Abgesehen von diesen erneut wenig opportunen Werken sind auch die bisherigen Publikationsorgane der Gruppe verschreckt, sodass die bisherigen und nun im Entstehen begriffenen Texte zunächst für unbedeutend erklärt oder gänzlich verschwiegen werden [54].
Ausgerechnet mit der Beteiligung am Adam Müller Guttenbrunn-Kreis, benannt nach dem deutsch-nationalen Heimatdichter, entsteht für die im Banat gebliebenen erstmals wieder ein literarischer Gruppenzusammenhang. Der Beitritt zu diesem offiziellen, traditionsverbundenen und zu Aktionsgruppenzeiten stark kritisierten Literaturzirkel wird durch das Bedürfnis nach Diskussion und literarischem Erlebnis in der Gemeinschaft begründet. Der ursprünglich so radikale Richard Wagner leitet diesen Kreis sogar von 1981-1983, stärkt aber damit sowohl den Einfluss der jungen Autoren in der offiziellen Literaturszene als auch deren Publikationsmöglichkeiten. Allerdings bleibt ein Grundkonflikt bestehen zwischen den Anhängern der traditionellen ethnozentristischen Heimatliteratur der Minderheit und dem Anspruch einer kritischen Literatur, "die den traditionellen Selbstbetätigungstrieb der Minderheitenliteratur überwindet und dem gesellschaftlichen Diskussionsstand gewachsen ist" [55]. In einer Laudatio Wagners anlässlich eines Preises für die inzwischen selbst literarisch hervortretende Herta Müller begründet Wagner seine noch immer bestehenden Vorbehalte gegen den banatschwäbischen Mainstream mit deren Revisionismus als "die ersten Nazis unseres Lebens. Sie sassen abends [...] und sprachen von Verrat und verlorenen Schlachten, und der Konjunktiv half ihnen über das Nachdenken hinweg. [...] mitten in diesem Volk sagten wir: Schaut euch doch selbst an!" [56]
Kleine Erfolge der banatschwäbischen Schriftsteller, besonders Herta Müllers, in der Bundesrepublik führen zu einer paradoxen staatlichen Reaktion: Einerseits ist das Regime bemüht, den liberalen Schein aufrecht zu erhalten und sich mit den Federn der einheimischen Autoren zu schmücken, andererseits nehmen Repressionen wegen der wenig schmeichelhaften Texte zu. Für Rolf Bossert eine "schizophrene Situation. Einerseits dürfen sie nicht arbeiten, man wirft ihnen vor, sie seien politisch unzuverlässig, andererseits dürfen sie auch nicht ausreisen, obwohl sie es wollen" [57]. Bossert selbst wird kurz nach seiner Ausreise Anfang 1986 tot unter dem Fenster seines Aussiedlerheimes in Frankfurt a. M. aufgefunden [58].
Die in Rumänien verbliebenen Autoren resignieren schließlich angesichts des Erlebens ihrer totalen Wirkungslosigkeit und des Entzugs nicht nur der literarischen Publikations-, sondern auch der bloßen Erwerbsmöglichkeiten. Johann Lippet, William Totok, Richard Wagner und dessen Frau Herta Müller dürfen schließlich 1987 in die Bundesrepublik ausreisen; lediglich Werner Kremm verbleibt zunächst als Deutschlehrer [59], später als literarisch zurückgezogener Redakteur der Neuen Banater Zeitung in Rumänien.
Die öffentliche Wahrnemung der Gruppenmitglieder (nicht Herta Müllers) in der Bundesrepublik bleibt zunächst eher auf die als Rumänienexperten und politische Kommentatoren des Ostblocks statt als Autoren moderner Literatur beschränkt [60].
Ein mitteleuropäischer Nekrolog
Die Geschichte der Aktionsgruppe Banat könnte ein würdigender Epilog zu dem sein, was idealisierend als das "alte Mitteleuropa" bezeichnet wird. Man könnte sagen, dass sie die letzten Kommentatoren einer Welt sind, deren grenzenlose Multikulturalität durch nationalistischen Totalitarismus waidwund geschossen worden ist und durch stalinistischen Totalitarismus den endgültigen Fangschuss erhalten hat.
Autoren wie Joseph Roth, Stefan Zweig oder Robert Musil haben einem alten Mitteleuropa - durchaus doppelbödig - Denkmäler gesetzt (und es möglicherweise erst erfunden), indem sie in der Auseinandersetzung mit dem nationalistischen Totalitarismus eine (wenn auch nicht naive oder gar widerspruchslose) traditionelle Welt der kulturellen Diversität der nationalen Einfalt entgegen gesetzt haben.
Der Aktionsgruppe Banat fehlt jedoch jede idealisierende "mitteleuropäische" Projektionsfläche, denn ihre Mitglieder erleben jenseits der eigenen Totalitarismus-Erfahrungen nur dumpfen Provinzialismus. Ideell beeinflusst durch die Kritische Theorie westlicher Neomarxisten, ästhetisch geübt an einer (nicht realistisch-) sozialistischen Moderne um Bertold Brecht hat für sie diese Welt, als deren letzte Gestalter und Kommentatoren sie hätten auftreten können, nie existiert. Die Kritik, die sie an der stalinistischen Unfreiheit üben, führt in Opposition zu ihrem Herkunftsmilieu eben nicht zu einer hochkulturellen Wiederverzauberung bzw. -erfindung einer "guten alten Welt", sondern entlarvt diese selbst als eine Art kultureller Unfreiheit.
Statt eines würdigend-zurückblickenden Epiloges ist die Aktionsgruppe Banat ein formal wie inhaltlich bloßstellender Nekrolog auf ein Mitteleuropa, das nur aus Errata besteht. Ästhetisch besteht diese Bloßstellung aus verschlüsselter und komplexer Lyrik sowie stechend scharfer Kurzprosa, die beide in ihrer im weitesten Sinne "modernen" Radikalität sowohl beim Großteil der deutschen Minderheiten-Repräsentanten als auch bei der realsozialistischen Exekutive auf Ablehnung, Ausschluss und Verfolgung stoßen.
9. Bibliographie der Aktionsgruppe Banat
Primärliteratur
Anthologien
- Das Land am Nebentisch. Texte und Zeichen aus Siebenbürgen, dem Banat und den Orten versuchter Ankunft. Herausgegeben von Ernest Wichner. Leipzig: Reclam 1993.
- Ein Pronomen ist verhaftet worden. Texte der Aktionsgruppe Banat. Herausgegeben von Ernest Wichner. Frankfurt a. M.: edition suhrkamp 1992.
- Veröffentlichungen der Aktionsgruppe zwischen 1971 und 1975 in:
- Echinox. Studentische Monatsschrift. Klausenburg.
- Forum Studentesc. Studentische Monatsschrift. Temesvar.
- Karpaten Rundschau. Wochenzeitung. Kronstadt.
- Neue Banater Zeitung. Tageszeitung. Temesvar.
- Neue Literatur. Zeitschrift des Schriftstellerverbandes. Monatsschrift. Bukarest.
- Neuer Weg. Tageszeitung. Bukarest.
Einzelveröffentlichungen der Gruppenmitglieder
Rolf Bossert
- Bossert, Rolf: siebensachen. Gedichte. Bukarest: Kriterion 1979.
- Bossert, Rolf: Mi und Mo und Balthasar. Kinderbuch. Bukarest: Ion Creanga-Verlag 1980.
- Bossert, Rolf: Neuntöter. Gedichte. Klausenburg: Dacia 1984.
- Bossert, Rolf: Auf der Milchstraße wieder kein Licht. Gedichte. Berlin: Rotbuch-Verlag 1986.
- Bossert, Rolf: Befristete Landschaft. Herausgegeben von Neue Gesellschaft für Literatur. Berlin: Edition Mariannenpresse 1993.
- Bossert, Rolf: Ich steh auf den Treppen des Winds. Gesammelte Gedichte 1972-1985. Herausgegeben von Gerhard Csejka. Frankfurt a. M.: Schöffling 2006.
Johann Lippet
- Lippet, Johann: biographie. ein muster. Gedicht. Bukarest: Kriterion 1980.
- Lippet, Johann: so wars im mai so ist es. Gedichte. Bukarest: Kriterion 1984.
- Lippet, Johann: Protokoll eines Abschieds und einer Einreise oder Die Angst vor dem Schwinden der Einzelheiten. Heidelberg: Verlag das Wunderhorn 1990.
- Lippet, Johann: Die Falten im Gesicht. Erzählungen. Heidelberg: Verlag das Wunderhorn 1991.
- Lippet, Johann: Der Totengräber. Erzählung. Heidelberg: Verlag das Wunderhorn 1997.
- Lippet, Johann: Die Tür zur hinteren Küche. Roman. Heidelberg: Verlag das Wunderhorn 2000.
- Lippet, Johann: Banater Alphabet. Gedichte. Heidelberg: Verlag das Wunderhorn 2001.
- Lippet, Johann: Kapana, im Labyrinth. Heidelberg: Verlag das Wunderhorn 2004.
- Lippet, Johann: Die Tür zur hinteren Küche. Roman. Band 2. Das Feld räumen. Heidelberg: Verlag das Wunderhorn 2005.
- Lippet, Johann: Migrant auf Lebenszeit. Roman. Ludwigsburg: Pop-Verlag 2008.
- Lippet, Johann: Das Leben einer Akte. Chronologie einer Bespitzelung durch die Securitate. Heidelberg: Verlag das Wunderhorn 2009.
- Lippet, Johann: Dorfchronik, ein Roman. Ludwigsburg: Pop-Verlag 2010.
- Lippet, Johann: Tuchfühlung im Papierkorb. Ein Gedichtbuch. Ludwigsburg: Pop-Verlag 2012.
Gerhard Ortinau
- Ortinau, Gerhard: verteidigung des kugelblitzes. Kurze Prosa. Klausenburg: Dacia 1976.
- Ortinau, Gerhard: Am Rande von Irgendetwas. Berlin: Hochroth-Verlag 2010.
William Totok
- Totok, William: die vergesellschaftung der gefühle. Gedichte. Bukarest: Kriterion 1980.
- Totok, William: Freundliche Fremdheit. Temesvar: Facla 1984.
- Totok, William: Das promte Eingreifen des Fallmeisters beim Versuch eines Hundes sich eigenmächtig auf die Hinterbeine zu stellen. Mainz: Edition Treibholz 1987.
- Totok, William: Eiszeit. 13 Gedichte. Berlin: Ursus Press 1987.
- Totok, William: Die Zwänge der Erinnerung. Aufzeichnungen aus Rumänien. Hamburg: Junius 1988.
Anton Sterbling
- Sterbling, Anton: "Am Anfang war das Gespräch". Reflexionen und Beiträge zur Aktionsgruppe Banat und andere literatur- und kunstbezogene Arbeiten. Hamburg: Krämer 2008.
Richard Wagner
- Wagner, Richard: Klartext. Gedichte. Bukarest: Kriterion 1973.
- Wagner, Richard: Die Invasion der Uhren. Gedichte. Bukarest: Kriterion 1977.
- Wagner, Richard: Der Anfang einer Geschichte. Prosa. Klausenburg: Dacia 1980.
- Wagner, Richard: Hotel Californa I. Gedichte. Bukarest: Kriterion 1980.
- Wagner, Richard: Anna und die Uhren. Kinderbuch. Bukarest: Kriterion 1981.
- Wagner, Richard: Hotel California II. Gedichte. Bukarest: Kriterion 1981.
- Wagner, Richard: Gegenlicht. Gedichte. Temesvar: Facla 1983.
- Wagner, Richard: Das Auge des Feuilletons. Geschichten und Notizen. Klausenburg: Dacia 1984.
- Wagner, Richard: Rostregen: Gedichte. Darmstadt: Luchterhand 1986.
- Wagner, Richard: Ausreiseantrag. Eine Erzählung: Darmstadt: Luchterhand 1988.
- Wagner, Richard: Begrüßungsgeld. Erzählung. Darmstadt: Luchterhand 1989.
- Wagner, Richard: Die Muren von Wien. Roman. Frankfurt a. M.: Luchterhand 1990.
- Wagner, Richard: Sonderweg Rumänien. Bericht aus einem Entwicklungsland. Berlin: Rotbuch-Verlag 1991.
- Wagner, Richard: Schwarze Kreide. Gedichte. Frankfurt a. M.: Luchterhand 1991.
- Wagner, Richard: Ausreiseantrag. Erzählungen. Berlin: Aufbau-Taschenbuch-Verlag 2002.
Ernest Wichner
- Wichner, Ernest: Steinsuppe. Gedichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988.
- Wichner, Ernest: Elegien Weiss. Grafik Ullrich Panndorf. Berlin: Atelier Ullrich Panndorf. 1988.
- Wichner, Ernest: Alte Bilder, Geschichten. Heidelberg: Verlag das Wunderhorn 2001.
- Wichner, Ernest: Rückseite der Gesten. Gedichte. Springe: Zu Klampen 2003.
- Wichner, Ernest: Balkanische Alphabete. Rumänien. Gedichte. Heidelberg: Verlag das Wunderhorn 2009.
Literaturverzeichnis
Primärliteratur
- Das Land am Nebentisch. Texte und Zeichen aus Siebenbürgen, dem Banat und den Orten versuchter Ankunft. Herausgegeben von Ernest Wichner. Leipzig: Reclam 1993.
- Ein Pronomen ist verhaftet worden. Texte der Aktionsgruppe Banat. Herausgegeben von Ernest Wichner. Frankfurt a. M.: edition suhrkamp 1992.
- Müller, Herta: Bankett-Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur 2009. URL: <http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/2009/muller-speech_ty.html>. Zugriff: 07.01.2015
Sekundärliteratur
- Csejka, Gerhardt: Die Aktionsgruppen-Story. In: Ein Pronomen ist verhaftet worden. Texte der Aktionsgruppe Banat. Herausgegeben von Ernest Wichner. Frankfurt a. M.: edition suhrkamp 1992, S. 228-244.
- Fata, Márta: Einwanderung und Ansiedlung der Deutschen 1686-1790). In: Deutsche Geschichte im Osten Europas. Land an der Donau. Herausgegeben von Günter Schödl. Berlin: Siedler Verlag 1995, S. 89-197.
- Kegelmann, René: "An den Grenzen des Nichts, dieser Sprache...". Zur Situation rumäniendeutscher Literatur der achtziger Jahre in der Bundesrepublik Deutschland. Bielefeld: Aisthesis Verlag 1995.
- Krause, Thomas: Die Fremde rast durchs Gehirn, das Nichts... Deutschlandbilder in den Texten der Banater Autorengruppe. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 1998.
- Langer, Sarah: Zwischen Bohème und Dissidenz. Die Aktionsgruppe Banat und ihre Autoren in der rumänischen Diktatur. Chemnitz: Abschlussarbeiten am Institut für Europäische Studien (AIES-online) 2010. URL: <https://www.tu-chemnitz.de/phil/europastudien/Publikationen/Download_aies/LangerBA-Arbeit8.pdf>. Zugriff: 07.01.2015.
- Motzan, Peter: Die rumäniendeutsche Lyrik nach 1944. Problemaufriss und historischer Überblick. Cluj: Dacia 1980.
- NZZ-online: Das üble Geschäft der Securitate. Zürich 2009. URL: <http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/das-ueble-geschaeft-der-securitate-1.4152497>. Zugriff: 07.01.2015.
- Predoiu, Grazziella: Faszination und Provokation bei Herta Müller. Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 2001.
- Schuster, Diana: Die Banater Autorengruppe. Selbstdarstellung und Rezeption in Rumänien und Deutschland. Konstanz: Hartung-Gorre 2004.
- Schödl, Günter: Lange Abschiede. Die Südostdeutschen und ihre Vaterländer (1918-1945). In: Deutsche Geschichte im Osten Europas. Land an der Donau. Herausgegeben von Günter Schödl. Berlin: Siedler Verlag 1995, S. 455-649.
- Der Spiegel 9/1986: Gestorben. Rolf Bossert. Hamburg: Spiegel Verlag 1986, S. 276. URL: <http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/13519010>. Zugriff 07.01.2015.
- Spiridon, Olivia: Untersuchungen zur rumäniendeutschen Erzählliteratur der Nachkriegszeit. Oldenburg: Igel 2002.
- Sterbling, Anton: "Am Anfang war das Gespräch". Reflexionen und Beiträge zur Aktionsgruppe Banat und andere literatur- und kunstbezogene Arbeiten. Hamburg: Krämer 2008.
- Tudorica, Cristina: Rumäniendeutsche Literatur (1970-1990). Die letzte Epoche einer Minderheitenliteratur. Tübingen, Basel: Francke 1997.
- Wichner, Ernest: Blick zurück auf die Aktionsgruppe Banat. In: Ein Pronomen ist verhaftet worden. Texte der Aktionsgruppe Banat. Herausgegeben von Ernest Wichner. Frankfurt a. M.: edition suhrkamp 1992, S. 7-11.
Erarbeitet von Martin Müller im Rahmen eines Seminars am Institut für Deutsche Philologie, Universität Greifswald, Wintersemester 2014/15