Morgenstern 1914: Unterschied zwischen den Versionen
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Damals, vor 100 und mehr Jahren, gab es vieles, was es heute nicht mehr gibt. Einiges darf man auch bedauern. Es gab "Jahresberichte", in denen der aktuelle literarische Jahrgang kritisch beleuchtet wird. Bekannte und viel mehr noch Unbekannte werden dort gewürdigt oder kritisiert. Der Standpunkt der Kritiker ist vielleicht nicht immer gerecht – aber es ist ein Standpunkt und kein bloßes Referieren. Es ist keine "überzeitliche" Objektivität ledergebundener Lexika, sondern eine zeitliche Objektivität, hier des Jahrgangs 1914. Wert, in unserem unsystematisch-labyrinthischen Lexikon verzeichnet zu werden. (Lyrikwiki) |
''Damals, vor 100 und mehr Jahren, gab es vieles, was es heute nicht mehr gibt. Einiges darf man auch bedauern. Es gab "Jahresberichte", in denen der aktuelle literarische Jahrgang kritisch beleuchtet wird. Bekannte und viel mehr noch Unbekannte werden dort gewürdigt oder kritisiert. Der Standpunkt der Kritiker ist vielleicht nicht immer gerecht – aber es ist ein Standpunkt und kein bloßes Referieren. Es ist keine "überzeitliche" Objektivität ledergebundener Lexika, sondern eine zeitliche Objektivität, hier des Jahrgangs 1914. Wert, in unserem unsystematisch-labyrinthischen Lexikon verzeichnet zu werden. (Lyrikwiki) |
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⚫ | Von Christian Morgenstern war aus Anlass seines Todes mehrfach die Rede. U. Rauscher (3810) sieht Morgensterns ureigenste Linie darin, die Dinge zu entmaterialisieren, zu vergeistigen. R. Walter (3809) findet bei Morgenstern viel Lobenswertes, bedauert aber, dass er sich vom reinen lyrischen Gedicht immer bewusster abwandte und dem gedanklich-gefühlsmässigen Inhalte ganz die Herrschaft einräumte. (Ganz verständlich ist aber dieser Vorwurf nicht.) Als Voraussetzung der lyrischen Produktion Morgensterns bezeichnet H. M h e [sic] einen dem Monismus und Dualismus entgegengesetzten Trialismus (Leib, Seele und Geist!) wodurch sich angeblich eine besondere Reinheit des Geistigen und (dessen?) Entmaterialisation erklären lasse. Dagegen ist nach W. Kuhns (Kritische Rundschau [München] 1. Jahr, S. 122) Ansicht das Grundelement von Morgensterns Persönlichkeit und Dichtung das „Problem der Einsamkeit, der Isoliertheit und Beziehungslosigkeit des Individuums zur Welt". (Man sieht, dass man eigentlich über einen so schwer zu katalogisierenden Lyriker, wie es Morgenstern war, alles mögliche sagen kann und jeweils glaubt, das Richtige zu treffen.) Der Aufsatz von M. Behr (3809) wird dem Verstorbenen in jeder Weise und fast überschwenglich gerecht (der Ort des Erscheinens macht dies besonders erfreulich!); aber darüber wird sich streiten lassen, ob der Gegensatz Klassik und Romantik künftig Klassik und Moderne heissen werde. Briefe Morgensterns an S. Jacobsohn (Schaubühne 10, S. 417/9) wurden von dem Adressaten mitgeteilt. Interessant darin das Bekenntnis, dass alles, was jetzt von dem Dichter hinausgehe, nur Überlebtes, Überwundenes, ihm belanglos Gewordenes sei, und er gerne versuchte, etwas zu formen, aus dem die Jugend etwas für sich ersähe. H. Benzmanns Charakteristik (Tag 5. April 1914) konnte mir nur wenig zusagen ; sie bleibt allzusehr an der Oberfläche haften und wirft mit ziemlich nichtssagenden Worten um sich. Unrichtig ist die Behauptung, dass Morgenstern ein Stück Ibsens „Wenn die (!) Toten erwachen" übersetzt habe, während seine vortrefflichen Übersetzungen des „Brand", des „Peer Gynt", der „Komödie der Liebe" nicht einmal genannt werden. |
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⚫ | Von Christian Morgenstern war aus Anlass seines Todes mehrfach die Rede. U. Rauscher (3810) sieht Morgensterns ureigenste Linie darin, die Dinge zu entmaterialisieren, zu vergeistigen. R. Walter (3809) findet bei Morgenstern viel Lobenswertes, bedauert aber, dass er sich vom reinen lyrischen Gedicht immer bewusster abwandte und dem gedanklich-gefühlsmässigen Inhalte ganz die Herrschaft einräumte. (Ganz verständlich ist aber dieser Vorwurf nicht.) Als Voraussetzung der lyrischen Produktion Morgensterns bezeichnet H. M h e [sic] einen dem Monismus und Dualismus entgegengesetzten Trialismus (Leib, Seele und Geist!) wodurch sich angeblich eine besondere Reinheit des Geistigen und (dessen?) Entmaterialisation erklären lasse. Dagegen ist nach W. Kuhns (Kritische Rundschau [München] 1. Jahr, S. 122) Ansicht das Grundelement von Morgensterns Persönlichkeit und Dichtung das „Problem der Einsamkeit, der Isoliertheit und Beziehungslosigkeit des Individuums zur Welt". (Man sieht, dass man eigentlich über einen so schwer zu katalogisierenden Lyriker, wie es Morgenstern war, alles mögliche sagen kann und jeweils glaubt, das Richtige zu treffen.) Der Aufsatz von M. Behr (3809) wird dem Verstorbenen in jeder Weise und fast überschwenglich gerecht (der Ort des Erscheinens macht dies besonders erfreulich!); aber darüber wird sich streiten lassen, ob der Gegensatz Klassik und Romantik künftig Klassik und Moderne heissen werde. Briefe Morgensterns an S. Jacobsohn (Schaubühne 10, S. 417/9) wurden von dem Adressaten mitgeteilt. Interessant darin das Bekenntnis, dass alles, was jetzt von dem Dichter hinausgehe, nur Überlebtes, Überwundenes, ihm belanglos Gewordenes sei, und er gerne versuchte, etwas zu formen, aus dem die Jugend etwas für sich ersähe. H. |
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In: JAHRESBERICHTE FÜR NEUERE DEUTSCHE LITERATURGESCHICHTE. MITBEGRÜNDET VON ERICH SCHMIDT. HERAUSGEGEBEN VON JUL. ELIAS, M. OSBORN, WILH. FABIAN, F. DEIBEL, C. ENDERS, F. LEPPMANN, B. SCHACHT. FÜNFÜNDZWANZIGSTER BAND (1914). BERLIN-STEGLITZ B. BEHRS VERLAG (F. FEDDERSEN) 1916, S. 578f |
In: JAHRESBERICHTE FÜR NEUERE DEUTSCHE LITERATURGESCHICHTE. MITBEGRÜNDET VON ERICH SCHMIDT. HERAUSGEGEBEN VON JUL. ELIAS, M. OSBORN, WILH. FABIAN, F. DEIBEL, C. ENDERS, F. LEPPMANN, B. SCHACHT. FÜNFÜNDZWANZIGSTER BAND (1914). BERLIN-STEGLITZ B. BEHRS VERLAG (F. FEDDERSEN) 1916, S. 578f |
Aktuelle Version vom 26. Juli 2023, 14:39 Uhr
Damals, vor 100 und mehr Jahren, gab es vieles, was es heute nicht mehr gibt. Einiges darf man auch bedauern. Es gab "Jahresberichte", in denen der aktuelle literarische Jahrgang kritisch beleuchtet wird. Bekannte und viel mehr noch Unbekannte werden dort gewürdigt oder kritisiert. Der Standpunkt der Kritiker ist vielleicht nicht immer gerecht – aber es ist ein Standpunkt und kein bloßes Referieren. Es ist keine "überzeitliche" Objektivität ledergebundener Lexika, sondern eine zeitliche Objektivität, hier des Jahrgangs 1914. Wert, in unserem unsystematisch-labyrinthischen Lexikon verzeichnet zu werden. (Lyrikwiki)
F. Hirth, Lyrik des 18./19. Jh.: Von Goethes Tod bis zur Gegenwart.
Von Christian Morgenstern war aus Anlass seines Todes mehrfach die Rede. U. Rauscher (3810) sieht Morgensterns ureigenste Linie darin, die Dinge zu entmaterialisieren, zu vergeistigen. R. Walter (3809) findet bei Morgenstern viel Lobenswertes, bedauert aber, dass er sich vom reinen lyrischen Gedicht immer bewusster abwandte und dem gedanklich-gefühlsmässigen Inhalte ganz die Herrschaft einräumte. (Ganz verständlich ist aber dieser Vorwurf nicht.) Als Voraussetzung der lyrischen Produktion Morgensterns bezeichnet H. M h e [sic] einen dem Monismus und Dualismus entgegengesetzten Trialismus (Leib, Seele und Geist!) wodurch sich angeblich eine besondere Reinheit des Geistigen und (dessen?) Entmaterialisation erklären lasse. Dagegen ist nach W. Kuhns (Kritische Rundschau [München] 1. Jahr, S. 122) Ansicht das Grundelement von Morgensterns Persönlichkeit und Dichtung das „Problem der Einsamkeit, der Isoliertheit und Beziehungslosigkeit des Individuums zur Welt". (Man sieht, dass man eigentlich über einen so schwer zu katalogisierenden Lyriker, wie es Morgenstern war, alles mögliche sagen kann und jeweils glaubt, das Richtige zu treffen.) Der Aufsatz von M. Behr (3809) wird dem Verstorbenen in jeder Weise und fast überschwenglich gerecht (der Ort des Erscheinens macht dies besonders erfreulich!); aber darüber wird sich streiten lassen, ob der Gegensatz Klassik und Romantik künftig Klassik und Moderne heissen werde. Briefe Morgensterns an S. Jacobsohn (Schaubühne 10, S. 417/9) wurden von dem Adressaten mitgeteilt. Interessant darin das Bekenntnis, dass alles, was jetzt von dem Dichter hinausgehe, nur Überlebtes, Überwundenes, ihm belanglos Gewordenes sei, und er gerne versuchte, etwas zu formen, aus dem die Jugend etwas für sich ersähe. H. Benzmanns Charakteristik (Tag 5. April 1914) konnte mir nur wenig zusagen ; sie bleibt allzusehr an der Oberfläche haften und wirft mit ziemlich nichtssagenden Worten um sich. Unrichtig ist die Behauptung, dass Morgenstern ein Stück Ibsens „Wenn die (!) Toten erwachen" übersetzt habe, während seine vortrefflichen Übersetzungen des „Brand", des „Peer Gynt", der „Komödie der Liebe" nicht einmal genannt werden.
In: JAHRESBERICHTE FÜR NEUERE DEUTSCHE LITERATURGESCHICHTE. MITBEGRÜNDET VON ERICH SCHMIDT. HERAUSGEGEBEN VON JUL. ELIAS, M. OSBORN, WILH. FABIAN, F. DEIBEL, C. ENDERS, F. LEPPMANN, B. SCHACHT. FÜNFÜNDZWANZIGSTER BAND (1914). BERLIN-STEGLITZ B. BEHRS VERLAG (F. FEDDERSEN) 1916, S. 578f
3809) Ch. Morgenstern (1871—1914). |J. Bab: Hilfe 20, S. 291/3; M. Behr: Hochland 11, S. 498-500; H. Benzmann: Tag 5. April; W. Bolze: Geg. 85, S. 230/2; E. Frisch: NMerkur 1, S. 397-400; G. Hecht: WBll. 1, S. 1012/4; F. M. Huebner: ZB. 12, S. 800; M. Jacobs: VossZg. N. 167; W. Kuhn: KritRs. 1, N. 14; F. Maas: SchL. 15,S. 177/9; H. Mhe.: März 8', S. 534/5; id.,NRs. 25, S.694/6; J.Schlaf: Tag 5. April; R. Walter: HambNachr.» N. 33; Schaubühne 10, S. 417/9; Vorwärts N. 91 (s. LE. 16, 98.1054/5).
3810) U. Rauscher, Spiel und Gefahr. Dem Andenken Ch. Morgensterns: FZg. N. 98