Volkslied

Aus Lyrikwiki


Götzinger 1885

[1055] Volkslied. Der Name Volkslied stammt erst aus dem 18. Jahrhundert und kam auf, seitdem Herder den Unterschied von Kunst- und Volksdichtung als den für das Wesen der Poesie eingreifendsten zu betonen begann. Den Romantikern, namentlich Achim von Arnim und Klemens Brentano, den Verfassern von »Des[1055] Knaben Wunderhorn« und den bald darnach auftretenden Begründern der deutschen Literaturgeschichte verdankt man die Untersuchung über die Entstehung und Entwickelung des Volksliedes; so reich nunmehr die Sammlungen von Volksliedern geworden sind, so fehlt immer noch eine eingehendere Monographie über dieses Litteraturgebiet; die herrlichen Abhandlungen Uhlands über das Volkslied, die den dritten Band seiner Schriften bilden, sind leider Fragment geblieben.

In seiner Entstehung knüpft das Volkslied an die älteste Dichtung überhaupt an, wonach alle Dichtung Volksdichtung und alle Volksdichtung Gesang ist. Lieder mythischen Inhalts wurden vom begleitenden Volke bei religiösen Fest- und Umzügen gesungen. Vor dem Beginn der Schlacht sangen nach Tacitus Germania 4 die Germanen von Herkules, d.h. von Donar. Neben Liedern mythischen hatte man Lieder geschichtlichen Inhalts, wobei man ohne Zweifel sehr früh wieder sagenhafte Lieder und solche unterscheiden konnte, welche eine That der Gegenwart feierten. Lieder, welche die Thaten und Kriege der alten Könige besangen, liess Karl d. Gr. aufzeichnen und lernen und Ludwig der Fromme verbannte sie wieder aus Vortrag und Unterricht. Leider ist von allen Liedern mythischen Inhalts nichts, von Liedern der Sage bloss das Hildebrandslied erhalten; eine schöne Probe des geschichtlichen Volksliedes aus dem 9. Jahrhundert bietet der Leich auf König Ludwig III. und die Normannenschlacht von 881. Die christliche Bildung änderte wenig an diesen ältesten Verhältnissen des Volksliedes, abgesehen davon, dass an Stelle heidnisch-mythischer Lieder christliche und an Stelle des Stabreimes der Endreim trat; im übrigen sind die Dichtungen der christlich-kirchlichen Periode wieder Volksdichtungen oder künstliche Nachahmungen derselben. Dieser Art sind der Heliand und die Evangelienharmonie Otfrieds, der Leich auf den heiligen Petrus, das Lied von der Samariterin, die ebenfalls in Leichform gedichteten Legenden vom heiligen Georg und vom heiligen Gallus. Was zwar dem Volksgesang jetzt wesentlichen Abbruch that, war der Umstand, dass sich jetzt das ganze Gebiet der wissenschaftlichen und damit der feineren Geisteskultur überhaupt von ihm absonderte und in die, vorläufig lateinische Prosa überging. Doch hörte der Volksgesang nicht auf, nur wurde er selten durch die Schrift überliefert. Historische Volkslieder geschichtlicher Natur, die gesungen worden sind, werden u.a. erwähnt auf Erzbischof Hatto 914, auf die Schlacht bei Heresburg 915; auf Bischof Ulrich von Augsburg, auf Herzog Boleslav den Polen 1109. Reicher noch waren die Lieder, welche der Heldensage angehörten; ihr Dasein ist durch die im 12. Jahrhundert aus ihnen entstandenen Epopöien der deutschen Heldensage bezeugt, denen verloren gegangene gesungene Volkslieder in reicher Anzahl vorausgegangen sein müssen. Zu ihnen gesellten sich die Legende und kirchliche Sage, und überhaupt der vielfache Erzählungsstoff, der seit dem Beginne der Kreuzzüge durch den vermehrten Verkehr mit dem Auslande in die mittelalterliche Welt eingeströmt war.

Die Sänger dieser Volkslieder sind im ganzen die Fahrenden, Sänger von Fach und Gewerbe; sie sind von alters her die eigentlichen Pfleger der Kunst des Volksgesanges, sie bewahren in ihrem Gedächtnis und in ihrem Vortrag den stofflichen Inhalt des Volksliedes, sie bilden die Technik des Dichtens, des Singens und Sagens weiter. Ohne zunftmässige Abgeschlossenheit, besitzen und erben sie fort die[1056] Lehre und Übung des Gesanges, des Vortrags, der dichterischen Technik.

Im 12. Jahrhundert trat nun die höfische Kunstdichtung neben die Dichtung des Volkes und drängt diese letztere dadurch um so weiter von ihr weg in Roheit und Geringschätzung, als jetzt die besseren und aufstrebenderen Talente der Volksdichtung für kurze Zeit ins Lager der höfischen Dichtung übertraten, wo allein Ehre und Verdienst zu erholen war. Das dauert aber bloss bis gegen das Ende des 13. Jahrhunderts., wo mit dem Untergang der höfischen Bildung der volksmässige Gesang, speziell das, was man jetzt Volkslied heisst, in reichster Fülle zu tage tritt. Die Limburger Chronik erzählt zum Jahre 1370 »dass am Rhein ein aussätziger Mönch die besten Lieder und Reigen in der Welt machte, von Gedicht und Melodien, dass ihm Niemand uf Rheinstrom oder sonstwo gleichen mochte. Und was er sang, das sangen die Leute alle gern, und alle Meister pfiffen, und andere Spielleute führten den Gesang und das Gedicht«. Über das Alter der einzelnen Volkslieder ist selten etwas Gewisses zu sagen; ihre Aufzeichnung beginnt mit dem 14. und wird erst häufiger im 15. Jahrhundert, wo dann der Buchdruck zuerst in fliegenden Blättern, später in Liedersammlungen sich mit Vorliebe dieses Stoffes bemächtiget. Gewiss ist, dass die ungebundene, dem individuellen Gemütsleben so viel Freiheit gönnende Denkart dieser Zeiten dem Volksliede stets neue Nahrung und neuen Stoff zuführt; ältere Lieder lassen sich zum Teil an ihrer episch-dramatischen Darstellung als solche erkennen, erst später, namentlich im 16. Jahrhundert, tritt die reinere lyrische Behandlung an Stelle der epischen.

Alte Namen für den Begriff des Volksliedes als eines gangbaren Liedes der Menge in der Landessprache sind, dem gelehrten lateinischen versus und carmen gegenüber, carmen barbarum, carmen vulgare, seculare, triviale, rusticum, publicum, gentile; bûrengesang, ein liet, ein neuw liet, ein hübsch new lied, ein Reiterliedlein, ein Bergreihen, Grasliedlin, Strassenlied, Gassengedicht, Gassenhauer, gute Gesellenliedlein, Reuterliedlein. Die hier folgende Gliederung des Volksliedes nach seinem Inhalte folgt der Einleitung zum altdeutschen Liederbuch von Franz M. Böhme, Leipzig 1877.

1. Balladen und Romanzen,

die lyrische Fortsetzung des alten Epos; ihr Stoff ist dem Mythus und der alten Sage entnommen, oft auch dann, wenn Namen von Personen und Orten scheinbar der Handlung eine spätere Zeit zuweisen; was diese zum Teil uralten Zeugen der Volkspoesie erhalten hat, ist meist der allgemein menschliche, die Zeitereignisse überdauernde Gehalt. Leider ist die Zahl dieser Lieder gegenüber der skandinavischen und schottischen Litteratur bei uns nur eine kleine. Von eigentlichen Heldenliedern sind bloss das Hildebrandslied (das jüngere), das Ermenrichlied und der Jäger aus Griechenland, der Wolf-Dietrichsage angehörend, erhalten. Mythischen Ursprungs sind Lieder vom Wassermann, von Nixen, Geistern und Gespenstern, vom Tannhäuser; auch einzelne Liebesballaden, wie die Schwimmersage, gehen auf mythischen Ursprung zurück.

2. Tag- oder Wächterlieder;

ursprünglich der höfischen Lyrik angehörend (siehe den Art. Tagelied), hat sich diese Gattung im Volksliede später in reicher Fülle erhalten.

3. Liebeslieder

im engern Sinne. Sie werden schon im 8. Jahrhundert erwähnt, da Bonifacius Reigen der Laien und Gesänge der Mädchen[1057] in den Kirchen verbietet und ein Kapitular Karls d. Gr. von 789 bestimmt, dass die Nonnen keine winileodes, d.h. Freundes-, Gesellenlieder, von wine = Freund, schreiben oder ausschicken sollen. Leider ist von solchen Liebesliedern des althochdeutschen Zeitraumes nichts erhalten; Lieder ähnlicher Art müssen es aber gewesen sein, an welche anknüpfend das höfische Minnelied sich entfaltete; dasselbe trägt als Zeugnis seines volksmässigen Ursprungs namentlich den Umstand, dass es regelmässig an die Wandlung der Jahreszeit anknüpft, so zwar, dass die glückliche Zeit des Frühlings den Anbruch der Liebe, die Zeit des Herbstes und Winters die Trennung von der Geliebten, der Liebe Leid in sich trägt. Diesen Zug trägt auch das spätere Volkslied noch an sich.

4. Abschieds- und Wanderlieder

gehören zu den rührendsten und ergreifendsten Volksliedern, die man hat; sie stehen im Zusammenhang mit der allgemeinen Wanderlust des 15. und 16. Jahrhunderts, und mit der damit verknüpften Beschwerlichkeit des Reisens, der Unsicherheit des Besitzes, der Unstätigkeit des Lebens. Solche Lieder sind »Innsbruck ich muss dich lassen«, »Ach Gott, wie weh thut scheiden«, »Ich stund an einem Morgen heimlich an einem Ort«.

5. Rätsel-, Wett- Wunsch- und Lügenlieder

gehören ihrem Inhalte nach zu den ältesten Dichtungen, die in engem Zusammenhang sowohl mit dem Mythus und der religiösen Denkweise als mit den ältesten Zuständen des gesellschaftlichen Lebens stehen (vgl. den Art. Rätsel und Rätsellieder). Das älteste Rätsellied, zugleich eines der ältesten erhaltenen Volkslieder, ist das aus dem 13. Jahrhundert erhaltene Tragemundeslied. Zu den Wettgesprächen, in welchen sich in urgermanischer Zeit zwei Männer zur Prüfung ihres Wissens herausforderten und wobei sie auf ihre Antwort Sagen von der Welt und den Göttern mitteilen, gehören auch die Wettstreitlieder zwischen Sommer und Winter (siehe den bes. Art.) und das diesen nachgemachte zwischen Buchsbaum und Felbinger. Siehe Uhland, Abhandlung III: Wett- und Wunschlieder.

6. Tanz- und Kranzlieder

wurden beim Reigen von den Tanzenden selbst gesungen, wobei alle Tanzenden sich bei den Händen gefasst hielten und langsam umhertraten; erst auf diesen ersten Teil folgte als zweiter und aus derselben Melodie geformt der Nachtanz oder Springtanz. Die Kranzlieder gehören inhaltlich zu den Rätselliedern; vgl. die Art. Tanz und Kranz.

7. Trink- und Zechlieder

gibt es erst seit dem 16. Jahrhundert; die höfische Zeit und die unmittelbar folgenden Jahrhunderte brachten an Trinkliedern bloss lateinische Vaganten- und Mönchslieder hervor. Desto üppiger treiben sie im 16. Jahrhundert, wo zahllose Festlichkeiten, Schmäuse und Zechgelage zur Ausübung solcher Poesie Anlass boten. Ihr wesentlichster Inhalt ist Ermunterung zum heitern Lebensgenusse, Lob des Weines und Zuspruch zum Trinken; eine besondere Art der Trinklieder sind die Martinslieder.

8. Historische Lieder.

In ihrer Entstehung wiederholt sich die Entstehungsart des geschichtlichen Liedes von ältester Zeit her, nur dass die besondern historischen Bedingungen, welche das Volkslied des 13. bis 16. Jahrhunderts zeitigten, ihren besondern Charakter erhalten durch den im 13. Jahrh. beginnenden Kampf der untern Stände gegen den Adel. Kaum beginnt dieser Kampf der Städte, Eidgenossenschaften, Thal- und Landschaften gegen ihre bisherigen Herrn, ein Kampf, der recht eigentlich dem Geiste der Zeit Richtung gibt, und[1058] ein neues Heldenalter herbeiführt, so erscheinen auch die Lieder Schlag auf Schlag. Wo überall auf deutschem Boden das Volk seine Fesseln bricht, zuerst in der Eidgenossenschaft, dann im Niederland, bei den Ditmarschen, später allerorts in Deutschland, da folgen den Schlachten, Eroberungen der Städte und Burgen ihre Lieder; den wirklichen Ereignissen ihr bleibendes Bild. Dieses ist keine Schlachtbeschreibung, sondern ein von gesteigerter Einbildungskraft erschautes Einzelbild, dem meist, wie beim alten Epos, die direkte Rede, das Zwiegespräch charakteristisch ist. Die Sammlung v. Lilienkrons, welche die historischen Lieder vom 13. bis 16. Jahrhundert umfasst, enthält 623 Nummern, worunter freilich manche bloss gesprochene Dichtungen, sog. Sprüche, inbegriffen sind. Die im strengern Sinne historischen Lieder wollen immer zugleich politisch wirken, der Partei dienen, wobei freilich das Lied in der Regel bloss den Sieg zu begleiten pflegt. Mehr unmittelbar dichterischen Eindruck als die historisch-politischen Lieder machen diejenigen Volkslieder, in denen eine zwar historische, aber ins Gebiet der Romantik streifende That sich zum Liede gestaltet hat, wie das vom Lindenschmied, vom Eppele von Gailingen. Wiederum scheint sich in andern Liedern ein aus früher, vielleicht aus sehr früher Zeit hergekommener historischer oder mythischer Zug bloss einem historischen oder für historisch geglaubten Namen angepasst zu haben, wie z.B. jetzt das alte Hildebrandslied als eine romantische Ritterballade zum Vorschein kommt.

9. Landsknechts- und Reiterlieder

des 15. und 16. Jahrhunderts sind die Soldatenlieder der Vorzeit; sie berühren sich teils mit dem historischen Lied, teils mit dem Liebeslied.

10. Jägerlieder und Jägerromanzen

erscheinen seit dem Ende des 16. Jahrhunderts und waren seit der Zeit bis ins 18. Jahrhundert beliebt; sie sind zum Teil nach französischem Vorbilde gesungen worden.

11. Lieder auf verschiedene Stände

sind weder alt, noch waren sie je allgemeiner verbreitet, abgesehen von den schon genannten Typen, worin sich u.a. der Geist der Städter, Bauern, Landsknechte u. dgl. andern Ständen gegenüber ausspricht. Dagegen sind Handwerks- und Zunftlieder, worin die Thätigkeit des Handwerks beschrieben ist, kaum vor dem 16. Jahrhundert und nur sporadisch dagewesen. Die gereimten Zunftlieder waren nach ihrem Inhalte sog. Ruhm-, Ehr- und Loblieder der Handwerker, meist auf eine und dieselbe Schablone zugeschnitten, an Poesie arm und nüchtern. Erst im 17. und noch mehr im 18. Jahrhundert sind von Volkspädagogen und Aufklärern eine grössere Anzahl Berufsgesänge gedichtet worden, an denen namentlich das Mildheimer Liederbuch, 1799, reich war.

12. Scherz-, Spott- und Schandlieder

bilden eine besondere Gattung von Volksliedern; unter denen besonders die auf Bauern und Pfaffen zahlreich sind, auch auf einzelne Handwerker, wie die Schneider und Leineweber. Dahin gehören Stossseufzer geplagter Eheleute, Spottlieder auf menschliche Gebrechen, Missheiraten, z.B. des kleinen Mannes mit dem grossen Weibe.

13. Kinderreime,

siehe den Art. Kinderspiele.

14. Geistliche Volkslieder,

siehe den Art. Kirchenlied. Über den Übergang des Volksliedes ins Gesellschaftslied, siehe den besondern Artikel. Sammlungen von Volksliedern sind viele vorhanden; es seien hier erwähnt ausser dem Wunderhorn (neue Ausgabe von Birlinger und Crecelius, Wiesbaden 1874), Uhland, alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder, Stuttgart[1059] 1844–46, kürzlich unverändert neu aufgelegt; dazu gehören in Band 3 von Uhlands Schriften die Abhandlungen, von denen bloss folgende vier bearbeitet und erschienen sind: Sommer und Winter; Fabellieder; Wett- und Wunschlieder; Liebeslieder; und die Anmerkungen in Band 4 der Schriften; Simrock, die deutschen Volksbücher, Frankfurt 1851 und 1872; Erk, deutsche Liederhort, Berlin 1856; von Lilien cron, die historischen Volksliede der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert, Leipzig 1865–69. 4 Bde Goedeke und Tittmann, Liederbuch aus dem 16. Jahrhundert, Leipzig 1867; Böhme, altdeutsches Liederbuch, Leipzig 1877, besonders für die Melodien bearbeitet.

Quelle: Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885, S. 1055-1060. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20002778203


Herders 1857

[641] Volkslied, das im Munde des Volkes lebende Lied, epischen oder lyrischen Inhalts, einfach und schlicht nach Ausdruck und Melodie, und dabei so, daß jeder den Ausdruck und die Melodie seiner eigenen Empfindungsweise anzupassen vermag, ohne daß der wesentliche Gehalt des Liedes dadurch verloren geht. Das V. kann ein Hirten-, Jäger-, Kinder-, Liebes-, Soldaten-, Tanzlied u.s.w. sein, neben den Deutschen haben wohl alle Völker V.er, eine Menge alter und herrlicher die Spanier, Griechen, Serben, Finnen, Engländer, Norweger und Schweden. Von weitaus den meisten V.ern ist der Ursprung unbekannt, die Zahl der Kunstdichter, von welchen Lieder in den Mund des Volkes übergingen, sehr gering, desto größer aber seit Herders Zeit die Zahl der Sammler von deutschen u. fremden V.ern; Ziska u. Schottky gaben österreichische (Pesth 1819), W. Müller neugriechische (Lpz. 1825), Wolf altfranzös. (Leipz. 1831), Geijer und Afzelius schwed., Talvj (deutsch in neuer Aufl. Leipz. 1853) u. Wuk Stephanowitsch serbische, I. Wenzig slav., Nesselmann litthauische (Berl. 1853) heraus. Unter den Sammlern deutscher und historischer V.er nennen wir außer dem Meister Uhland (s. d.) F. von Erlach (Mannh. 1834), Körner (Stuttg. 1840) und Soltau (2. Aufl., Leipz. 1856). Unter den volksthümlich gewordenen politischen Liedern, den [641] Volks- oder Nationalhymnen sind der Yankee Dodle, Rule Britannia und die Marseillaise wohl die bekanntesten, bei uns hat man österr., preuß., bad. u. dgl. m. – Vgl. Lied.

Quelle: Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1857, Band 5, S. 641-642. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20003560953


Meyers 1909

[235] Volkslied, ein jedes Lied, das vom Volke ohne Noten gesungen wird. Der Ausdruck deutet ausschließlich auf die Aufnahme, die ein Lied in sangesfrohen Volkskreisen gefunden, auf das Schicksal hin, das es erfahren hat; es besagt nichts über den Ursprung, den Verfasser des Liedes. Auch Gedichte von Kunstdichtern können echte Volkslieder werden (wie z. B. Goethes »Heidenröslein«, Heines »Loreley«, Eichendorffs »In einem kühlen Grunde«); solche Lieder bleiben im Volksmund oft unverändert; häufiger aber werden sie mehr oder minder stark umgeprägt oder auch ganz und gar »zurechtgesungen« (wie z. B. in Tirol Goethes »Kleine Blumen, kleine Blätter«). Weitaus die meisten Volkslieder rühren aber von unbekannten Verfassern her, von Naturdichtern ohne literarische Bildung. Ihre Gesänge sind dann ebenfalls oft durch die mündliche Verbreitung und unzählige Wiederholungen verändert, verkürzt, erweitert und dem Geschmack des Volkes immer mehr angepaßt worden. Lieder, die das Schicksal erfahren, Volkslieder zu werden, weisen durchweg ausgeprägte Eigentümlichkeiten des Inhalts wie der Form auf. Sie dürfen inhaltlich keine bloß individuellen oder gar subjektivistischen Vorstellungen, Gefühle und Anschauungen wiedergeben, sondern vielmehr solche des typischen Gesamtbewußtseins weiterer Kreise; es herrscht im V. also eine ganz bestimmte Auffassungsweise, sein Inhalt ist im übrigen unbeschränkt. In primitiven Zuständen herrscht diese gleichmäßige Durchschnittsanschauung, dieses typische Gesamtbewußtsein im ganzen Volk; die Standesunterschiede sind noch nicht durch irgendwie eingreifende Unterschiede der intellektuellen und sittlichen Bildung vertieft und verschärft: Hohe und Niedere denken und fühlen bei den gleichen Anlässen im wesentlichen übereinstimmend. Die höhere Kultur bringt aber stets auch eine schärfere Scheidung der Bildungssphären mit sich, und während sich in den obern Ständen teils konventionelle, teils individuelle Anschauungen verbreiten und entwickeln, zieht sich die typische Anschauungsweise auf das »niedere Volk« zurück, das nach Goethes Ausdruck vor Gott gewiß oft als das höhere erscheint. In der Form verschmäht das V. jede Künstelei im Versbau und Wortausdruck, liebt dagegen die Wiederholung stereotyper Wendungen. Viele Volkslieder, namentlich solche, die gründlich durch- und zurechtgesungen worden sind, haben eine knappe, ja aphoristische Fassung; Mittelglieder sind ausgefallen, und mancher Gedanke muß erraten werden. Hierdurch wird die ästhetische Wirkung jedoch nicht vermindert, sondern im Gegenteil verstärkt, da die Phantasie des Hörers genötigt wird, das nur Angedeutete nachschaffend zu ergänzen. Weiterhin ist für das V. charakteristisch die in Zuständen primitiven Denkens stets anzutreffende Vorliebe, unbeseelte Dinge und untermenschliche Lebewesen mit menschlichem Seelenleben ausgestattet oder Naturvorgänge als Wirkungen menschlich handelnder Wesen zu denken, ferner die Vorliebe für metaphorische Analogievorstellungen (namentlich zwischen Natur- und Menschenleben) sowie endlich für die tiefsinnig-symbolische Ausdeutung aller von außen gewonnenen Eindrücke. Das abstrakt Begriffliche, insbes. die Reflexion über die eignen geistigen Vorgänge, tritt im V. ganz zurück; die Vorstellungen und Gefühle werden vielmehr in naiver Unmittelbarkeit und in knapper Form geäußert. Sehr beliebt ist die Einfügung epischer Züge, namentlich zu Anfang der Lieder; der Fortgang der Handlung in erzählenden Volksliedern wird mit Vorliebe durch die Wechselrede ausgedrückt, weniger durch rein epischen Bericht; dabei ist es oft üblich, in den Antworten auf die Fragen einen großen Teil der in der Frage gebrauchten Ausdrücke genau zu wiederholen. So hat das V. eine sehr ausgeprägte, aber formelhafte Technik. Da das V. durch den oft tausendfach wiederholten Gesang in gefühlvollen Stunden gleichsam von allen Schlacken gereinigt worden ist, da es alle trocken verstandesmäßigen Elemente ausscheidet und sich immer inniger dem Herzensbedürfnis einfacher und geistig gesunder Menschen anpaßt, so besitzt es in seinen schönsten Kundgebungen einen unnachahmlichen poetischen Zauber. Daneben gibt es aber auch viele Volkslieder von geringem Wert. – Lieder, die sich dem Charakter des Volksliedes annähern, ohne aber im Volke gesungen zu werden, heißen volkstümliche Lieder. Von andern wird freilich der Ausdruck »volkstümliche Lieder« für solche Volkslieder angewendet, deren Verfasser bekannt ist; doch nach verbreitetem und eingebürgertem Sprachgebrauch sind Lieder wie die »Lorelei« und »In einem kühlen Grunde« echte Volkslieder; wo und wie und durch welchen Verfasser das Lied entsteht, ist dem Volk ganz gleichgültig. Eine Abart des Volksliedes bildet das Gesellschaftslied: es wurzelt nicht in dem typischen Gesamtbewußtsein der ganzen Volksgemeinschaft, sondern in dem meist konventionellen Bewußtsein bestimmter Gesellschaftskreise; es ist in der Regel zu gemeinschaftlichem, geselligem Vortrag verfaßt; an Wert steht es dem V. nicht gleich. Endlich bezeichnet man als Gassenhauer die entarteten Volksgesänge der großen Städte; vielfach der Operette und dem Tingeltangel entwachsen, offenbaren sie die Gemütsverrohung des großstädtischen »Volkes«. Bei allen Völkern hat naturgemäß die Poesie in ihren Anfängen meist einen volksliedmäßigen Charakter. Als Volkslieder müssen wir die Lieder bezeichnen, die nach Tacitus' Bericht die alten Deutschen zu Beginn eines Kampfes anstimmten, ebenso die Lieder, in denen sie (gleichfalls nach Tacitus' Bericht) die Stammväter ihres Volkes, den Helden Arminius und ohne Zweifel auch andre Helden besangen. Nach Einführung des Christentums suchte die Geistlichkeit die offenbar zum größten Teil in den Anschauungen der heidnischen Zeit wurzelnden Volkslieder zu unterdrücken; so ist es zu erklären, daß ein Denkmal wie das Hildebrandslied (s. d.) in Deutschland völlig vereinzelt dasteht. Namentlich wendete sich die Geistlichkeit schon zu Ende des 8. Jahrh. gegen eine Art des fröhlichen, leichtfertigen, weltlichen Volksgesangs, die mit dem Namen Winiliod (Freundeslied) bezeichnet wird, und Otfried (s. d.) hat seine geistliche Dichtung mit der ausdrücklichen Absicht verfaßt, dem unzüchtigen Gesang der Laien entgegenzutreten. Doch muß auch in den folgenden Jahrhunderten das V. in Deutschland geblüht haben. Seine Einwirkung ist in den schriftlich ausgezeichneten Literaturwerken vielfach zu erkennen, vor allem in den Liedern der ältern österreichischen Minnesinger und der Vaganten. Mit dem Verfall des künstlichen Minnegesanges beginnt dann auch in den gebildeten Kreisen das Interesse an dem einfachern Volksgesang wieder aufzuleben; in dem 14. Jahrh. verzeichnet die Limburger Chronik, welche Lieder in den einzelnen Jahren neu aufkamen. Aus dem 15. Jahrh. sind mehrere Sammlungen von Volksliedern erhalten, so namentlich eine von Fichard im »Frankfurter Archiv für ältere deutsche Literatur und Geschichte«, Teil 3 (1815) herausgegebene, auch das Liederbuch der Augsburger Nonne Klara Hätzlerin[235] (hrsg. von Haltaus, Quedlinb. 1840) sowie das »Locheimer Liederbuch« (bearbeitet von Arnold und Bellermann im »Jahrbuch für musikalische Wissenschaft«, Bd. 2, 1867) enthalten Volkslieder. Eine für das ausgehende Mittelalter und die Reformationszeit charakteristische Gattung ist das historische V.; besondere Erwähnung verdienen die Lieder dieser Art, die den Freiheitskämpfen der Schweizer und der Dithmarschen ihre Entstehung verdanken. Der Aufschwung der deutschen lyrischen Dichtung, der, vom V. wesentlich beeinflußt, im letzten Drittel des 18. Jahrh. eintrat, hat auch wieder auf das V. zurückgewirkt, indem das Volk sich Lieder deutscher Dichter aneignete und umbildete. Daneben hat die Abfassung neuer Volkslieder von unbekannten Dichtern, denen alle künstlerischen Absichten fernlagen, bis in die Gegenwart nicht aufgehört, namentlich in den Alpenländern.

Das Wiedererwachen des Interesses an dem V. steht mit der großen europäischen Literaturströmung des 18. Jahrh. in Zusammenhang, die in Deutschland in der Sturm- und Drangperiode ihren Ausdruck fand. Damals entstanden auch zuerst Sammlungen von Volksliedern, die nicht wie die frühern für den Gebrauch des singenden Volkes bestimmt waren, sondern zunächst das Interesse der Gebildeten am V. anregen und befördern sollten. Den Anfang machte Thomas Percy (s. d. 1) mit seiner Sammlung englischer und schottischer Volkslieder (1765). In Deutschland fand Herder in den Volksliedern eine Bestätigung seiner Ansicht von der Poesie als einer »Welt- und Völkergabe«; er pries das V. in den »Blättern von deutscher Art und Kunst« (1773) und regte andre, vor allen Goethe, zum Sammeln von Volksliedern an. Bürger in seinen Herzensergießungen über Volkspoesie (»Aus Daniel Wunderlichs Buch«, 1776) und andre stimmten in diesen Ton ein und erregten dadurch den Widerspruch der Gegner des Sturmes und Dranges, vor allem Nicolais (s. Nicolai 2), der in seinem »Kleynen feynen Almanach« (Berl. 1777 u. 1778; Neudruck, das. 1888) Volkslieder sammelte, die ihm geeignet schienen, die Begeisterung für das V. lächerlich zu machen, doch hat er, nach Lessings treffendem Ausdruck, »Volk und Pöbel« verwechselt. Seine Sammlung muß indes als die erste neuere Sammlung deutscher Volkslieder bezeichnet werden; die von Herder gesammelten »Volkslieder« (Leipz. 1778–79, 2 Bde.; 1807 neu hrsg. u. d. T.: »Stimmen der Völker«) umfassen auch Lieder andrer Nationen. Die erste umfassendere Sammlung deutscher Volkslieder gaben die Romantiker Brentano und Arnim heraus u. d. T.: »Des Knaben Wunderhorn« (Heidelb. 1806 bis 1808, 3 Bde.; Weiteres s. Wunderhorn), freilich mit manchen eigenmächtigen Veränderungen. Vgl. Lohre, Von Percy zum;Wunderhorn' (Berl. 1902). Verdienstlich war auch Büschings und v. d. Hagens »Sammlung deutscher Volkslieder« (Berl. 1807, mit Melodien). Die reichhaltigste Sammlung ist die von Erk (»Deutscher Liederhort«, Berl. 1855; neubearbeitet von Böhme, Leipz. 1893–94, 3 Bde., mit Melodien). Die besten Sammlungen älterer Volkslieder sind die von Uhland (»Alte hoch- und niederdeutsche Volkslieder«, Stuttg. 1844–45, 2 Bde.; 3. Aufl. zugleich mit Uhlands schöner Abhandlung über das V. und einer allgemeinen Einleitung hrsg. von H. Fischer in Cottas »Bibliothek der Weltliteratur«, das. 1893, 4 Bde.) und F. Böhmes »Altdeutsches Liederbuch« (Leipz. 1877, mit Melodien). Sammlungen historischer Volkslieder besitzen wir von Rochholz (»Eidgenössische Liederchronik«, Bern 1835), Soltau (Leipz. 1836 u. 1856) und Körner (Stuttg. 1840); die beste ist die von R. v. Liliencron (»Die historischen Volkslieder der Deutschen«, Leipz. 1865–69, 4 Bde.); F. W. v. Ditfurth (s. d.) sammelte die historischen Volkslieder der letzten Jahrhunderte, ferner A. Hartmann »Gesammelte Volkslieder und Zeitgedichte vom 16.–19. Jahrhundert« (mit Melodien; Bd. 1, Münch. 1907). Eine Auswahl gibt die Sammlung von Simrock: »Deutsche Volkslieder« (2. Aufl., Basel 1887) und v. Liliencrons »Deutsches Leben im V. um 1530« (in Kürschners »Deutscher Nationalliteratur«, Bd. 13, Stuttg. 1885). »Deutsche Gesellschaftslieder des 16. und 17. Jahrhunderts« sammelte Hoffmann von Fallersleben (Leipz. 1844, 2. Aufl. 1860); A. Kopp gab heraus »Volks- und Gesellschaftslieder des 15. und 16. Jahrhunderts« (Berl. 1905); vgl. außerdem die Sammlung »Venusgärtlein« (1656), herausgegeben von v. Waldberg (Halle 1889); Böhme gab noch heraus »Volkstümliche Lieder der Deutschen im 18. und 19. Jahrhundert« (Leipz. 1895). Als gute Sammlungen von Volksliedern einzelner Landesteile sind zu nennen: Meinerts »Alte deutsche Volkslieder in der Mundart des Kuhländchens« (Hamb. 1817); Hoffmanns von Fallersleben und E. Richters »Schlesische Volkslieder mit Melodien« (Leipz. 1842); Reifferscheids »Westfälische Volkslieder« (mit Melodien, Heilbronn 1879); »Deutsche Volkslieder aus Oberhessen« von Böckel (Marb. 1885); »Deutsche Volkslieder aus Niederhessen« von Lewalter (mit Melodien, Hamb. 1894); »Volkslieder von der Mosel und Saar« von Köhler (mit Melodien, hrsg. von J. Meier, Halle 1896, Bd. 1); »Volkslieder aus der badischen Pfalz« (hrsg. von Marriage, das. 1903); »Volkslieder aus dem Erzgebirge« von A. Müller (Annab. 1883); »Deutsche Volkslieder aus Kärnten«, gesammelt von Pogatschnigg (Graz 1879, 2 Bde.); »Volkslieder aus Steiermark« von Rosegger (mit Melodien, Preßb. 1872) und Schlossar (Innsbr. 1881); Hartmanns »Volkslieder in Bayern, Salzburg und Tirol gesammelt« (mit Melodien, Leipz. 1883, Bd. 1); »Tiroler Volkslieder« von Greinz und Kapferer (das. 1893, 2 Tle.); »Deutsche Volkslieder aus Böhmen« (hrsg. von Hruschka, Prag 1888–91); »Elsässische Volkslieder« von Mündel (Straßb. 1884); »Schweizerische Volkslieder« von L. Tobler (Frauens. 1882–84, 2 Bde.). Vgl. außerdem Vilmar, Handbüchlein für Freunde des deutschen Volkslieds (3. Aufl., Marb. 1886); Böckel, Psychologie der Volksdichtung (Leipz. 1906); John Meier, Kunstlied und Volkslied in Deutschland (Halle 1906) und Kunstlieder im Volksmunde (das. 1906), und die ausführliche Bibliographie von J. Meier in Pauls »Grundriß der germanischen Philologie«, Bd. 2 (2. Aufl., Straßb. 1903); Bruinier, Das deutsche V. (3. Aufl, Leipz. 1908); Uhl, Das deutsche Lied (das. 1900); Kopp, Deutsches Volks- u. Studentenlied in vorklassischer Zeit (Berl. 1899); Sahr, Das deutsche V. (2. Aufl., Leipz. 1905, Sammlung Göschen). Eine Zeitschrift »Das deutsche V.« wird von Pommer (Wien 1899 ff.) herausgegeben. Die Lieder bekannter deutscher Dichter, die zu Volksliedern geworden sind, verzeichnet Hoffmann von Fallersleben, Unsre volkstümlichen Lieder (4. Aufl., Leipz. 1900).

Auch die Literatur andrer Nationen, namentlich die der Skandinavier, Engländer, Schotten und Slawen, weist wertvolle Volksliederschätze auf; vgl. die Angaben in den Artikeln über die Literatur der einzelnen Völker.

Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, S. 235-236. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20007659547


Georges Dt.-Lat.

[2575] Volkslied, versus populi; auch bl. carmen.

Quelle: Karl Ernst Georges: Kleines deutsch-lateinisches Handwörterbuch. Hannover und Leipzig 71910 (Nachdruck Darmstadt 1999), Sp. 2575. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20002144255