Sprechgedicht

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Ein 1957 von Ernst Jandl geprägtes Wort für eine neue Art Gedichte, die "erst durch lautes lesen wirksam" werden. Jandl, der 1956 in dem Gedichtband "Andere Augen" relativ konventionelle Gedichte veröffentlicht hatte, begann im gleichen Jahr unter dem Einfluß der amerikanischen Dichterin Gertrude Stein und expressionistischer Gedichte von August Stramm, Johannes R. Becher und Wilhelm Klemm experimentelle Verfahren zu erproben. Zunächst entstanden mit der Grammatik experimentierende (Buch-)Gedichte. Um die Jahreswende 1956/57, spätestens im Frühjahr 1957 entstanden erstmals Gedichte eines neuen Typus – keine Lautgedichte, wie sie im russischen Futurismus und im Dadaismus entstanden, sondern Gedichte, die Wörter, Wortgruppen oder Sätze durch verschiedene Arten der (lautlichen / orthographischen und morphologischen) Umformung so formieren, daß eine Vorlage für ausdrucksvollen (oft humoristisch gefärbten) Vortrag entsteht. Im Mai 1957 veröffentlichte er sechs davon in der österreichischen Zeitschrift "neue wege. kulturzeitschrift junger menschen" zusammen mit einem poetologischen Text und zwei Beispielen "konkreter Dichtung" von Gerhard Rühm. Die Wirkung war enorm – manche junge Leser dürften ebenso angeregt und gegen ihre Lehrer gestärkt worden sein wie es Jandl im zu Hitlerdeutschland gehörenden Österreich durch die Begegnung mit je drei Gedichten der genannten expressionistischen Autoren geschah, die Jahre später diese Fernwirkung hatten. Auf Grund massiver Proteste von Studienräten aber wurde der Lyrikredakteur der Zeitschrift entlassen und für Jandl verschwand auf Jahre die Gelegenheit zu weiteren Veröffentlichungen. 1965 triumphierte Jandls Konzept nicht in Österreich oder Deutschland, sondern in London, wo er bei einer Lesung in der Royal Albert Hall zusammen mit Allen Ginsberg, Lawrence Ferlinghetti, Gregory Corso und anderen vor 5000 Zuschauern und -hörern eine Art Sprechkonzert aufführte (technisch verstärkt durch mehrere Tonbandgeräte, die sämtlich ausschließlich mit der Stimme des Dichters bespielt waren). Erst ein Jahr später konnte der erste eigentliche Band mit Jandls ernsten Spielen veröffentlicht werden, "laut und luise". Eins der Sprechgedichte mußte aus dem Manuskript entfernt werden: fortschreitende räude. Und trotzdem hatte es Folgen für die Verlagsleitung – "experimentelle" Poesie wurde damals für gefährlich gehalten, nicht nur im Osten.


Die Veröffentlichung von 1957 enthielt einen poetologischen Text als Vorbemerkung (siehe unten) und folgende Texte: boooooooooooooooooooooooo / rrrrrannn; schtzngrmm; ode auf N; philosophie; wasser / kalt; wo bleibbb da / hummoaa.

schtzngrmm arbeitet mit dem klangmaterial der Konsonanten des (österreichisch ausgesprochenen) Wortes "Schützengraben" und formiert so ein klingend erfahrbares Antikriegsgedicht, ebenso wie die ode auf N ausschließlich durch variierende Wiederholung des Lautmaterials des Namens Napoleon eine Art Anti-Heldenverehrungsgedicht bildet oder philosophie ebenfalls aus nichts als diesem Wort, zerlegt in aus seinen lauten gebildete Worte, eine Kritik des Denkens erwachsen läßt, so der Anfang: "viel / vieh / o / so / viel / vieh". Jandls Sprechgedichte sind Varianten der konkreten Poesie, indem sie nur mit dem konkreten Laut- und Buchstabenmaterial der Wörter arbeiten, aber im Unterschied zu den Buchstaben- oder Lautkonstellationen der Wiener Gruppe haben sie eine "Botschaft" – freilich eine, die nicht "hinter dem Text" steht und durch hermeneutische Operationen herauspräpariert werden kann, sondern Botschaften, die durch lautes Sprechen "konkret" erfahrbar werden. Insofern scheint die heutige Praxis (aufgeschlossener) Lehrer eher als Verrat an den Prämissen dieser Kunstübung. Diese Gedichte brauchen weder Vermittlung noch Erklärung noch Interpretation, Hans Mayer schrieb: "Für Kinder waren die konkreten Gedichte Ernst Jandls stets unmittelbar evident. Man liebte Ottos Mops, der trotzte und kotzte. Wenn Jandl selbst vorträgt, so machen es die Kinder hinterher nach, etwa das Gedicht mit der Oberlippe und der Unterlippe." [1]


Jandls Vorbemerkung von 1957

„das sprechgedicht wird erst durch lautes lesen wirksam, länge und intensität der laute sind durch die schreibung fixiert. spannung entsteht durch das aufeinanderfolgen kurzer und langer laute (boooooooooooooooooooooooo rrrrannn), verhärtung des wortes durch entzug der vokale (schtzngrmm), zerlegung des wortes und zusammenfügung seiner elemente zu neuen, ausdrucksstarken lautgruppen (schtzngrmm, ode auf N), variierte wortwiederholungen mit thematisch begründeter zufuhr neuer worte bis zur explosiven schlußpointe (kneipp sebastian). bestandteile eines einzelnen wortes sind die worte eines ironischen spiels um diese worte, das aus diesem prozeß erschöpft auftaucht (philosophie), aus dem grundwort gewonnene laute des überdrusses, der gleichgültigkeit, heftiger ablehnung und stärksten lebenswillens schlagen um in marktgeschrei als heldenkult (ode auf N), und aller ingrimm rollender rrr gilt der humorlosigkeit, dieser deutschen krankheit, die auch österreicher mitunter befällt.“


Quellen

[1] zitiert nach: Jandl als Erzieher, in: Ernst Jandl: Autor in Gesellschaft, S. 103


Literatur

ernst jandl. neue wege 16/17, hrsg. Heimrad Bäcker, ausgabe 1985
Ernst Jandl: Autor in Gesellschaft. Aufsätze und Reden (Poetische Werke 11). München: Luchterhand 1999


Textausgaben

Ernst Jandl: Laut und Luise. Olten (Walter) 1966
Ernst Jandl: Laut und Luise. Wagenbachs Quartplatte 2. Berlin 1968
Ernst Jandl: sprechblasen. gedichte. neuwied berlin: luchterhand 1968, Neuausgabe 1993.
Ernst Jandl: Laut und Luise. Mit einem Nachwort von Helmut Heißenbüttel. (Neuausgabe) Stuttgart: Reclam 1990
Ernst Jandl: poetische werke in 10 bänden. München: Luchterhand 1997


schtzngrmm (hier bei lyrikline zum Nachlesen und -hören)