Ruthenen
Meyers 1909
[338] Ruthēnen (Russinen, Rußniaken), slaw. Volksstamm zu beiden Seiten der Karpathen (vgl. die »Ethnographische Karte von Österreich-Ungarn«, Bd. 15, S. 178), der nach der letzten Volkszählung in Österreich-Ungarn (1900) über 33/4 Mill. Seelen zählte (3,375,576 in Österreich [in Galizien 3,074,449, in der Bukowina 297,798] und 429,447 in Ungarn), einen Teil der Kleinrussen (s. Russen) bildet und sich zum größten Teil zur griechisch-unierten Kirche (s. Unierte Griechen) bekennt. Sich selbst nennen die R. Rußy (Russen). Körperlich zeichnen sich die Gebirgsbewohner, zumal die Bojken und Huzulen, durch ovale Gesichtsbildung und schlanken Wuchs vor den untersetzten und weit weniger kultivierten Podolaken mit entschieden tatarischem Typus, den Bewohnern des Flachlandes, vorteilhaft aus. Der Ruthene ist kräftig, mittelgroß und wenn auch nicht muskulös, doch ausdauernd, seiner Kirche aufrichtig zugetan, pietätvoll gegen die Verstorbenen. Gegen Fremde ist er artig, aber verschlossen, im häuslichen Leben zeremoniell. Durch die Lieder geht ein schwermütiger Zug. Hauptbeschäftigung der R. ist Ackerbau, im Gebirge sind sie auch Viehzüchter, Hirten, Holzfäller, Köhler. Doch wächst bei fortwährender Bodenzerstückelung das Landproletariat. Die Hausindustrie ist bei nicht unbedeutender technischer Begabung ansehnlich, doch verarmt das Volk mehr und mehr infolge der Ausbeutung der Juden und zunehmender Trunksucht. Einen eigentlichen Bürgerstand besitzen die R. nicht, wohl aber einen zahlreichen intelligenten Beamtenstand und eine sehr geachtete Geistlichkeit, welche die politische Führung des Volkes in Händen hat. Für Volksbildung wirken die Vereine »Proswita« und »Schewtschenko«. Seit 1848 fing die jahrhundertelang von der polnischen Aristokratie unterdrückte ruthenische Sprache und Literatur an, sich einigermaßen zu entwickeln (s. Kleinrussische Sprache und Literatur). Gegenwärtig verfügen die R. über mehrere [338] Zeitschriften, ein Theater, mehrere Mittelschulen und Lehrkanzeln an den Universitäten Lemberg und Czernowitz. Den galizischen R. gegenüber sind die ungarischen in jeder Beziehung zurückgeblieben. Vgl. Bidermann, Die ungarischen R. (Innsbr. 1862–68, 2 Bde.); Szujski, Die Polen und R. in Galizien (Teschen 1882); Kupczanko, Die Schicksale der R. (Leipz. 1887); Kopernicki, Über die russischen Goralen in Galizien (poln., Krakau 1889); Kaindl und Manastyrski, Die R. in der Bukowina (Czernowitz 1890); Kaindl, Die Huzulen (Wien 1893).
Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 17. Leipzig 1909, S. 338-339. Permalink: http://www.zeno.org/nid/2000737741X