Moderne Lyrik (Bobrowski)
Moderne Lyrik (Bobrowski)
Das moderne Gedicht heimelt nicht an, es erlaubt nicht, sich´s in einem Vers gemütlich zu machen, es nimmt den Leser nicht in ein Bewußtsein der Kommunikation, der Gemeinschaft mit dem Dichter auf. Es ist beunruhigend, manchmal beängstigend, bedrohlich. Man kann an ihm das persönliche Ich des Dichters nur schwer, oft überhaupt nicht ablesen. Selbst wenn der Dichter sich selber im Gedicht einführt, wird er nicht faßbar. (...) [434] Diese Dichtung ist beunruhigend, dissonant, sie idealisiert nicht, sie verschönt nicht. (...) Und Cocteau hält, darüber hinausgehend, für das Kennzeichen moderner Dichtung, daß ihre Wirkung einem Schock gleichkomme. Es ist also ein Überfall zu konstatieren, den das moderne Gedicht auf den Leser verübt. [435] ... Wir können annehmen, daß sich eine so hartnäckige Erscheinung wie die moderne Lyrik nicht gut als Fehlentwicklung wird bezeichnen lassen. [436]
In: Lyrik der DDR, (1960). In: Johannes Bobrowski, Gesammelte Werke Bd. IV. Die Erzählungen. Vermischte Prosa und Selbstzeugnisse. Berlin: Union Verlag 1987, S. 434ff