Melancholie
Meyers 1908
[567] Melancholīe (griech. melancholia, »schwarze Galle«, soviel wie Schwermut, Tiefsinn) bedeutete in der Heilkunde früher mancherlei Krankheiten, Ernährungsstörungen, bösartige, schwarzpigmentierte Geschwülste etc., deren Entstehung man dem vierten der damals angenommenen Kardinalsäfte des Körpers, der schwarzen Galle, zuschrieb. Heute bezeichnet M. eine ganz bestimmte, der Manie (s. d.) direkt entgegengesetzte, funktionelle (d. h. ohne nachweisbare anatomische Veränderungen im Gehirn einhergehende) Geisteskrankheit, deren wesentliches Symptom in einer traurigen, niedergedrückten Gemütsstimmung und Denkhemmung, in andern Fällen in Angst besteht und in stärkern Graden begleitet ist von Sinnestäuschungen und Wahnideen. Als Ursachen gelten vor allem erbliche Anlage, anhaltende niederdrückende Seelenstimmungen, überhaupt Gemütsbewegungen nicht freudiger Art, erschöpfende schwere Krankheiten und ebenso auch Erschöpfung durch andauernde übermäsige Anstrengung mit geistiger Arbeit etc. Die Erscheinungsweise der M. ist äußerst auffällig. Blick und Mienen des Melancholischen sind traurig, leidend, ängstlich, kläglich, scheu oder verdrießlich, mürrisch und finster. Alle körperlichen Bewegungen geschehen langsam, stockend und haben den Charakter der Zaghaftigkeit, Niedergeschlagenheit und Unentschlossenheit.[567] Das Wesentliche dieser krankhaften Gemütszustände besteht in krankhafter Herabstimmung des Selbstgefühls u. Mangel an Selbstvertrauen (Kleinheitswahn). Die Kranken häufen gegen sich die schwersten Anklagen, sie glauben verhungern zu müssen, suchen aus ihrer Vergangenheit unbedeutende Ereignisse hervor, denen sie den Wert schwerer Missetaten beilegen, sie halten sich für unwürdig ihrer Familien, glauben diesen zur Last zu sein und quälen sich unablässig mit Selbstvorwürfen (Versündigungswahn). Dabei fehlt der Schlaf; die Kranken werden blaß, ihr Blick ist matt, die Gesichtszüge schlaff und verfallen. Am auffallendsten offenbart sich die allgemeine Passivität des Melancholischen durch seine Untätigkeit, Arbeitsunfähigkeit und Abneigung gegen jede ernste Beschäftigung. Bei allem, was er tun will oder soll, erblickt er unüberwindliche Schwierigkeiten, und die kleinsten Hindernisse erscheinen ihm als unübersteigliche Schranken. Dies kann so weit gehen, daß der Kranke sich nicht zu den unbedeutendsten Dingen entschließen kann, zum Aufstehen, Ankleiden, Ausgehen, Essen etc. Höhere Grade der M. sind zuweilen mit völliger Untätigkeit, die sich bis zu gänzlicher Starrheit und Unbeweglichkeit steigern kann, und mit der hartnäckigsten Nahrungsverweigerung verbunden. In vielen Fällen wird das regungslose Hinbrüten der Kranken durch mehr oder weniger stürmische Anfälle unterbrochen, bei denen die Kranken von einem unbeschreiblichen quälenden Angstgefühl gepeinigt werden, dessen Sitz sie bald in die Herzgrube (Präkordialangst), bald in den Unterleib verlegen, das auch als Zusammenschnüren des Halses geschildert wird; sie gehen unruhig auf und ab, zupfen an ihren Kleidern, reißen sich die Haut von den Fingern, beißen sich wund, ziehen sich Haare aus und geraten zuweilen in wirkliche Raserei (furor oder raptus melancholicus). Die große Gefahr der M. beruht in allen Stadien der Krankheit darin, daß die Irren sich ihren Leiden durch Selbstmord zu entziehen suchen. Die M. ist in etwa 60 Proz. der Fälle heilbar. Alsdann lassen nach einiger Zeit die traurigen Gemütsstimmungen nach, die Kranken verlangen nach Arbeit, der Schlaf bessert sich, und langsam weichen die düstern Vorstellungen zurück. Bleibt die Besserung aus, so dauern die Symptome fort, oder sie gehen in Geistesschwäche und völligen Zerfall der psychischen Tätigkeit über. Auch kommt es vor, daß die Kranken bei fortdauernder Nahrungsverweigerung infolge von Erschöpfung, oder bei gewaltsam durchgeführter künstlicher Ernährung, wie beobachtet, an Schluckpneumonie zugrunde gehen. Die Behandlung bietet keine Aussicht auf Erfolg, solange man den Kranken bloß zu zerstreuen sucht. Ruhe und Abgeschlossenheit, aufmerksame Bewachung und Behandlung mit Bädern etc., wie sie eine gute Irrenanstalt bietet, ist das allein Richtige und allein Mögliche, da die Neigung zum Selbstmord den Angehörigen ein hohes Maß von Verantwortlichkeit auferlegt.
Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 13. Leipzig 1908, S. 567-568. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20007071868
Adelung 1798
[170] Die Melancholīe, (viersylbig,) plur. die -n, (fünfsylbig,) aus dem Griech. und Latein. Melancholia. 1) Ein hoher Grad der Traurigkeit oder Schwermüthigkeit, besonders so fern sie ihren Sitz in einer fehlerhaften Beschaffenheit des Körpers hat; wo der Plural nur von mehrern Arten üblich ist. 2) Bey einigen neuern Schriftstellern wird es oft von einer jeden traurigen Empfindung des Gemüthes, und demjenigen Zustande desselben, da es zu solchen Empfindungen geneigt ist, gebraucht.
Quelle: Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 3. Leipzig 1798, S. 170. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20000315494
Eisler 1904
[652] Melancholie (melas, cholê: Schwarzgalligkeit) ist ein Depressionszustand[652] (s. d.), mit Vorwiegen trauriger Vorstellungen, Schwäche des Willens, düsterer Stimmung. Vgl. Temperament.
Quelle: Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 652-653. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20001794671
Kirchner / Michaëlis 1907
[353] Melancholie (gr. melancholia v. melas = schwarz u. cholê = Galle) heißt die Seelenkrankheit (Psychose), welche in dem Hange, sich traurigen Vorstellungen hinzugeben, besteht. Sie entsteht meist allmählich. Der Schlaf wird unruhig, die Träume werden unangenehm, der Appetit wird schlecht, die Arbeitslust erlahmt. Der Mensch fühlt eine allgemeine Depression seines Ichs, ohne daß er die Kraft hätte, sie abzuschütteln. Befürchtungen, Versündigungs- und Verfolgungsideen tauchen auf. Schwäche und Schweigsamkeit, Hoffnungslosigkeit sind die Kennzeichen des Melancholikers. Zuweilen treten auch Angst- und Tobsuchtsanfälle auf. Die Erkennung der Umgebung pflegt aber meist nicht wesentlich getrübt zu sein. – Ursachen der Melancholie sind entweder wirkliches oder eingebildetes Unglück, fixe Ideen (über Gott, Ehrgeiz, Liebe) oder körperliche Störungen in der Verdauung und Blutbereitung. Namentlich ist die Melancholie die Psychose der ersten Rückbildungsstufe. Sie tritt daher oft bei Frauen in den Wechseljahren ein. Nachdem das Leiden seinen Höhepunkt erreicht hat, tritt entweder allmähliche Genesung oder dauernde Verblödung ein. Vgl. Hellpach, Die Grenzwiss. d. Psychologie. Leipzig 1902, S. 384 f. v. Krafft-Ebing, Die Melancholie.[353] 1874. J. L. A. Koch, Psychiatrische Winke für Laien. 1880. J. Weiß, Kompendium d. Psychiatrie. 1881.
Quelle: Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 1907, S. 353-354. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20003585875