Herwegh als Übersetzer

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Damals, vor 100 und mehr Jahren, gab es vieles, was es heute nicht mehr gibt. Einiges darf man auch bedauern. Es gab "Jahresberichte", in denen der aktuelle literarische Jahrgang kritisch beleuchtet wird. Bekannte und viel mehr noch Unbekannte werden dort gewürdigt oder kritisiert. Der Standpunkt der Kritiker ist vielleicht nicht immer gerecht – aber es ist ein Standpunkt und kein bloßes Referieren. Es ist keine "überzeitliche" Objektivität ledergebundener Lexika, sondern eine zeitliche Objektivität, hier des Jahrgangs 1914. Wert, in unserem unsystematisch-labyrinthischen Lexikon verzeichnet zu werden. (Lyrikwiki)



F. Hirth, Lyrik des 18./19. Jh.: Von Goethes Tod bis zur Gegenwart.

Herwegh. Einer Arbeit, wie der von W. Kilian „Herwegh als Übersetzer" (3629), darf man sich in vieler Hinsicht redlich freuen. Sie zeigt einen jungen Literarhistoriker am Werke, der anscheinend viel gelernt hat, jede Unreife bereits abgestreift hat, der gründliche methodische Schulung, die seinem Lehrer, M. Koch, alle Ehre macht, offenbart und schon in seiner Erstlingsschrift keine Spur jenes schülerhaften Dilettantismus erkennen lässt, der viele Dissertationen und die über lyrische Themen insbesondere so ungeniessbar macht. Aus K.s Buch, das auch eine gefällige Darstellung auszeichnet, lässt sich mancher Gewinn ziehen. Am erfreulichsten hat es mich angemutet, dass er H. Tardels Ausgabe zur Grundlage seiner Arbeit macht, nicht die unkritische von Marcell Herwegh und V. Fleury (vgl. darüber JBL. 1913, S. 59), und dass er Fleury genau durchschaut hat und ihm immer wieder nachweisen kann, wie wenig ihn objektive Beurteilung bei der Betrachtung von Herweghs Leben und Schaffen leitete, sondern ledigich das Bedürfnis, den billigen Ruhmbedürfnissen der Familie des Dichters gefällig zu sein. Es wird dereinst ein wahrer Augiasstall auszumisten sein, bis Emma und Marcell Herwegh nicht mehr den Nachlass Herweghs verwalten werden, sondern das Erbe unbefangener Prüfung zugänglich gemacht sein wird. K. geht an verschiedenen Orten mit Fleury scharf ins Gericht. Er weist nach, wie vorsichtig der kritische Teil des Buches von Fleury aufzunehmen sei (S. 598), nennt es einseitig, wenn Herweghs Beziehungen zu Frankreich ins hellste Licht gerückt werden, auf dem dunklen Hintergrunde seines Gegensatzes zu Deutschland. Aus der Freundschaft Fleurys für Marcell Herwegh erklärt denn auch K. dessen unkritische Lobrednerei. In zwei Hauptabschnitte zerfällt K.s Buch, die Betrachtung der Lamartine- und der Shakespeare-Übersetzungen. Dazwischen fällt ein etwas knapp geratenes Kapitel, in dem die Béranger-Übertragungen abgehandelt werden. So sehr ich im allgemeinen der Untersuchung K.s zustimme, hier wäre Anlass gewesen, etwas genauer zuzusehen, wie sehr Herweghs eigene Dichtung von dem Pariser Chansonnier abhängt. Denn die „Gedichte eines Lebendigen", soweit sie politische Themen berühren, als allein aus dem "Feuer von Herweghs Leidenschaft" angeregt hinzustellen, geht kaum an. Will man schon Einwirkungen Gaudys, Ortlepps, Heines nicht gelten lassen, so musste doch die Beeinflussung durch Béranger sichergestellt werden. Viel eindringlicher befasst sich K. mit den Zusammenhängen zwischen Lamartines und Herweghs Dichtungen, und er gelangt hier zu einigen sehr hübschen Beobachtungen, die freilich zum grössten Teile schon F. Muncker in der ADB ohne Ausbreitung des Beweismaterials angestellt hatte. Bei K. ist nun dieses in reichster Weise bereitgestellt, und es überzeugt immer von der Richtigkeit seiner Anschauungen. Herweghs Lamartine-Übertragung kann nicht als mustergültig angesehen worden; Vers, Rhythmus und Reim sind mangelhaft, woran die Flüchtigkeit des Übersetzers die Schuld trug. Der Vergleich der Übersetzung Herweghs mit denen von Schwab, Leuthold und Götz ist anregend. K. untersucht sehr eindringlich Inhalt und Form aller Übertragungen, wobei er Vers für Vers betrachtet. Manchmal scheint es, dass er über Herwegh doch etwas zu scharf aburteilt, so z. B. wenn er „die Bahn Gottes mit Rosen scheuern" (ein fast Liliencronsches, sehr anmutiges Bild) einen groben Verstoss nennt. Zu weitgehend ist es auch, wenn er Gedichtetitel wie "Ça ira", „Sans souci" dem Einflüsse Lamartines zuschreiben oder den Gebrauch von „Emeute" auf französischen Ursprung zurückführen will. Das Wort hatte gerade damals durch Heine fast Bürgerrecht im Deutschen erlangt. Gründlich und aufschlussreich, wenn vielleicht auch nicht abschliessend, sind dann K.s Betrachtungen über Herweghs Shakespeare-Übersetzung, deren Entstehung im einzelnen gut dargestellt wird, wie auch die Vergleiche mit den Übertragungen A. W. Schlegels und Tiecks sehr anregend sind, überraschen muss, dass K., dessen Belesenheit sonst so wohlfundiert ist, von F. Gundolfs Revision und Neubearbeitung des Schlegel-Tieckschen Shakespeare nichts zu wissen scheint. Deren Kenntnis hätte die Untersuchung nachdrücklich zu beeinflussen vermocht. Seite 83 ist ein sehr störender Druckfehler: Dingelstedts Brief an Herwegh kann wohl nur am 23. Mai 1858 (nicht 1838) abgefasst worden sein. Eine jugendliche (unreife) Übersetzung des 22. Gedichtes der „Feuilles d'Automne" von Hugo teilt V. Fleury aus der Handschrift mit (3628). Sonst wird auch die Übersetzung eines Gedichts von Lermontoff und der Garibaldi-Hymne für die schweizerischen und deutschen Freiwilligen, die 1860 am italienischen Feldzuge teilnahmen, abgedruckt. Zur Entstehungsgeschichte der Shakespeare-Übersetzung Herweghs gewähren ein paar Briefe Bodenstedts Einblicke, die indes nicht sehr bedeutend sind.


In: JAHRESBERICHTE FÜR NEUERE DEUTSCHE LITERATURGESCHICHTE. MITBEGRÜNDET VON ERICH SCHMIDT. HERAUSGEGEBEN VON JUL. ELIAS, M. OSBORN, WILH. FABIAN, F. DEIBEL, C. ENDERS, F. LEPPMANN, B. SCHACHT. FÜNFÜNDZWANZIGSTER BAND (1914). BERLIN-STEGLITZ B. BEHRS VERLAG (F. FEDDERSEN) 1916, S. 565f