Germanische Sprachen

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Meyers 1907

[655] Germanische Sprachen, eine der großen Sprachfamilien des indogermanischen Sprachstammes. Sie zerfallen in drei Hauptteile: gotische, skandinavische oder nordgermanische und westgermanische Sprachen. Man hat auch die gotischen und skandinavischen Sprachen zu einer Einheit zusammengefaßt und als Ostgermanisch dem Westgermanischen gegenübergestellt, aber ohne ausreichende Begründung. Der gotische Zweig (s. Gotische Sprache) ist gänzlich ausgestorben; das Skandinavische oder Nordische zerfällt in die ostnordische, d. h. die dänisch-schwedische, und in die westnordische, d. h. die norwegisch-isländische Gruppe; die ältere Sprache der letztern, die uns in zahlreichen Literaturdenkmälern erhalten ist, nennt man Altnordisch. In Norwegen hat man infolge der langen Vereinigung mit Dänemark das Dänische als Schriftsprache angenommen; es macht sich jedoch in der Gegenwart eine sehr starke nationale Bewegung gegen das Dänische geltend. Das echte Norwegische lebt noch in Volksmundarten; das Isländische hat sich bis heute auf Island in der Schrift erhalten. Die weiteste Verbreitung haben die westgermanischen Sprachen. Zu diesen gehört das Englische, das Friesische und das Deutsche. Man vermutet, daß das Englische und das Friesische einmal in einer anglofriesischen Spracheinheit vereinigt waren. Das Englische hat sich gebildet aus der Sprache von Stämmen, die im 5. Jahrh. Britannien vom Festland aus besetzt haben: Angeln, Sachsen und Jüten. Die Friesen saßen an den Küsten und auf den Inseln der Nordsee von den Niederlanden bis Schleswig; ihre Sprache hat sich jetzt nur noch auf den schleswigschen Inseln (Nordfriesisch), im oldenburgischen Saterland (Ostfriesisch) und im holländischen Westfriesland erhalten. Das Deutsche im engern Sinne zerfällt wieder in das Niederdeutsche einerseits, dem hauptsächlich die Niedersachsen und der nördliche Teil der Franken angehören. Aus der Sprache der letztern, der »niederfränkischen« Sprache, hat sich im Westen das Mittelniederländische entwickelt, das auch eine selbständige Schriftsprache erzeugt hat. Dem Niederdeutschen steht gegenüber das Hochdeutsche, das hauptsächlich durch Franken, Thüringer, Alemannen (nebst Schwaben) und Bayern gebildet wurde. Fragt man nach dem Grunde, weshalb man die aufgezählten Sprachen unter einem Gesamtnamen zusammenfassen und den übrigen indogermanischen Sprachen gegenüberstellen kann, so ist hauptsächlich eine Eigentümlichkeit anzuführen, durch die sich die germanischen Sprachen scharf herausheben: das von Grimm entdeckte sogen. Gesetz der Lautverschiebung (s.d.). Außerdem ist den germanischen Sprachen unter vielem andern gemeinsam die Bildung einer schwachen und starken Adjektivform. Wenn wir nun danach annehmen müssen, das in sehr früher Zeit die germanischen Sprachen ein einheitliches Ganze darstellten, so treten sie in der ältesten uns überlieferten Gestalt doch schon in die oben angegebenen Mundarten gespalten auf, deren Verschiedenheiten im Laufe der Zeit immer größer wurden. Grammatisch behandelt wurden die germanischen Sprachen zuerst vollständig und im Zusammenhang von J. Grimm (»Deutsche Grammatik«, Götting. 1819–37, 4 Bde. u. ö.), neuerdings im »Grundriß der germanischen Philologie«, herausgegeben von Paul, Bd. 1 (2. Aufl., Straßb. 1901). Schätzbare Materialien für vergleichende Lexikographie gibt Ficks »Vergleichendes Wörterbuch der indogermanischen Sprachen« (4. Aufl., Götting. 1890ff., 4 Bde.) und O. Schades »Altdeutsches Wörterbuch« (2. Aufl., Halle 1874–80, 2 Bde.) sowie Uhlenbecks »Wörterbuch der gotischen Sprache« (2. Aufl., Amsterdam 1900). Sämtliche germanische Sprachen berücksichtigen in etymologischer Hinsicht, obwohl vom Neuhochdeutschen ausgehend, das von den Brüdern Grimm begründete »Deutsche Wörterbuch« und das »Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache« von Friedrich Kluge (6. Aufl., Straßb. 1899). Vgl. die »Völker- und Sprachenkarte von Europa«.

Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 655. Permalink: http://www.zeno.org/nid/2000667349X