Gelegenheitsdichter und Labordichter (Grass)
Gelegenheitsdichter und Labordichter (Grass)
Jedes gute Gedicht ist ein Gelegenheitsgedicht; jedes schlechte Gedicht ist ein Gelegenheitsgedicht; nur den sogenannten Labordichtern ist die gesunde Mittellage vorbehalten: nie sind sie ganz gut, nie ganz und gar schlecht, aber immer begabt und interessant.
Der das hier sagt und behauptet, zählt sich zu den Gelegenheitsdichtern, und sein Ärgernis sind Dichter, die ihre Gelegenheit nicht abwarten können, die Herren im Labor der Träume, die Herren mit den reichhaltigen Auszügen aus Wörterbüchern, die Herren – es können auch Damen sein – die von früh bis spät mit der Sprache, dem Sprachmaterial arbeiten, die geschwätzig und als Dauermieter nahe dem Schweigen wohnen, immer dem Unsäglichen auf der Spur sind, die ihre Gedichte Texte nennen, die nicht Dichter genannt werden wollen, sondern ich weiß nicht was, die – sagen wir es – ohne Gelegenheit sind, ohne Muse. (S. 8f)
Bei allem Neid bin ich dem Labordichter – es sei zugegeben – dankbar. Nimmt er mir doch Arbeit ab, indem er recht hübsche Versuche auf Gebieten anstellt, die auch ich, in den Pausen zwischen Gelegenheit und Gelegenheit, beackern müßte, doch, da es ihn, den Labordichter gibt, nicht beackern muß; frech und epigonal packe ich ihn bei seinen Ergebnissen und verwende, immer hübsch bei Gelegenheit, die Frucht seiner Experimente, indem ich sie mißverstehe. (S. 11)
Aus: Günter Grass, Das Gelegenheitsgedicht. In: Akzente. Zeitschrift für Dichtung. H. 1/ 1961, S. 8-11
Kritisch dazu Reinhard Döhl, Experiment und Sprache/Literatur und Experiment