Die neue Lyrik
Die neue Lyrik
[4] Einleitung von Karl Henckell.
Freudigen Herzens spreche ich der folgenden Sammlung jüngster Lyrik ein Wort des Geleites. Freilich – sie muß und wird für sich selbst sprechen, doch ist es in diesem Falle nicht nur nicht überflüssig, sondern sogar geboten, Wesen und Absicht des Dargebrachten etwas eingehender zu beleuchten. Denn nicht eine neue Anthologie nach tausend anderen schleudern wir in die Welt, die ebenso, wie jene, der buchhändlerischen Speculation dienen und sich vielleicht nur durch Titel und Auswahl von ihren Vorgängerinnen unterscheiden würde, nein, unser Zweck ist ein anderer, höherer, rein ideeller. Die »Dichtercharaktere« sind – sagen wir es kurz heraus – bestimmt, direkt in die Entwickelung der modernen deutschen Lyrik einzugreifen. Was das heißt, sei für weitere Kreise kurz erörtert.
Moderne deutsche Lyrik – wer nennt mir drei andere Worte unserer Sprache, bei denen eine gleich tiefe Kluft gähnt zwischen dem wahren Sinne derselben und dem Dinge, zu dessen Bezeichnung sie herabgesunken sind? In Wahrheit, es ist ein trauriges Bekenntniß, aber wir haben in den letzten Dezennien weder eine moderne, noch eine deutsche, noch überhaupt eine Lyrik besessen, die dieses heiligen Namens der ursprünglichsten, elementarsten und reinsten aller Dichtungsarten nur entfernt würdig wäre. Wie auf allen übrigen Gebieten der Poesie ohne Ausnahme hat auch auf dem der Lyrik der Dilettantismus jeder Form das unrühmliche Scepter erobert. Und zwar hat der feine, geschickte und gebildete Dilettantismus wirklich oligarchisch geherrscht und thut es noch, während sich sein gröberer, ungeschickter und ungeschliffener Mitsproß mehr denn je raupenartig fortgepflanzt hat und unheimlich wimmelnd das ganze liebe deutsche Land von Morgen bis gen Abend unsicher macht. Der Dilettantismus erster Sorte ist der wirklich gefährliche, denn weil er herrscht und sich für wahre Kunst ausgiebt, verbildet er den Geschmack des Publikums, das ihm blind dient, und untergräbt das Verständniß echter[5] Poesie, ohne welches die Cultur eines Volkes nichts als Narrethei und Lumperei ist. Der feine Dilettantismus besticht und betrügt, denn er ist eitel Phrase und Schein. Er gebraucht bunte und leuchtende Tünche, denn sein Material ist wurmstichig, urväteralt und überall löcherig wie faules Holz. Er stinkt auch nicht wie der gemeine Dilettantismus, sondern er hat Parfüm. Er ist ein getreues Abbild der Toilette seiner Zeit. Ja, liebes Publikum, die anerkanntesten und berühmtesten Dichter unserer Zeit, die vortrefflichsten und bedeutendsten Autoren, wie die kritischen Preßwürmer sie zu bespeicheln pflegen, sind nichts weiter als lyrische Dilettanten!
Von einem Phrasendrescher und Reimpolterer, wie Albert Träger, ließest du dich übertölpeln und machtest seinem Verleger – Gott sei's geklagt! – bald an die zwanzig Auflagen möglich, und dem gewandten Versifex Julius Wolff, der sein glattes Persönchen malerisch in das bunte Costüm des fahrenden Sängers gehüllt hat und seine Leier ohn' Erbarmen malträtirt wie ein kleiner Bengel sein Glasklavier, küssest du achtungsvoll und entzückt die schreibseligen Fingerlein. Der liebenswürdige Mann amüsirt dich ja auch so gut und schmeichelt deiner geistigen Faulheit, wie solltest du ihm nicht von Herzen dankbar sein? Das ein Dichter begeistern, hinreißen, mit ein paar herrlichen aus den unergründlichen Tiefen einer geistes- und ideentrunkenen Seele hervorströmenden Worten dich machtvoll zu erhabener Andacht zwingen und dir süßmahnend gebieten soll, dich zu beugen vor der Urkraft, die in ihm wirkt und schafft, wer in aller Welt hat dich jemals darauf aufmerksam gemacht? Der Berliner Journalist Paul Lindau jedenfalls nicht, und auf diesen Mann der Gegenwart schwörst du doch in Nord und Süd unseres theuren deutschen Vaterlandes? Oder darf ich mich verbessern und sagen: hast du geschworen? Ist es wahr, daß die Reue in dein allzu ausgetrocknetes Herz eingekehrt ist und daß du endlich, endlich einsiehst, wie der Witz – nach Schillers Wort – auf ewig mit dem Schönen Krieg führt, und wie ein Mann, der fähig ist, die glühender Lava gleichenden, und ganz naturgemäß auch Schlacke mit sich führenden Jugenderuptionen des erhabensten und heiligsten Dichters seines Volkes behufs Verwerthung seines Witzes zu verhöhnen, wie ein solcher Mann – Schmach über ihn! – nie und nimmer die Führer auf den Pfaden der Dichtkunst und Litteratur sein und bleiben darf? Nun so wollen wir denn darauf vertrauen, daß die Herrschaft der blasirten Schwätzer, der Witzbolde, Macher und litterarischen Spekulanten, die der materialistische Sudelkessel der siebziger Jahre als Schaumblasen in die Höhe getrieben hat, ein für alle mal vernichtet und gebrochen sei, wir wollen vertrauen auf die[6] unzerstörbare Empfänglichkeit unseres Volkes für alles wahrhaft Große, Schöne und Gute, und in diesem Sinne mit dem Pfunde, das uns verliehen, zu wirken und zu wuchern streben. Wir, das heißt die junge Generation des erneuten, geeinten und großen Vaterlandes, wollen, daß die Poesie wiederum ein Heiligthum werde, zu dessen geweihter Stätte das Volk wallfahrtet, um mit tiefster Seele aus dem Born des Ewigen zu schlürfen und erquickt, geleitet und erhoben zu der Erfüllung seines menschheitlichen Berufes zurückzukehren, wir wollen uns von ganzem Herzen und von ganzer Seele der Kunst ergeben, deren Triebkraft in uns gelegt, und wollen unsere nach bestem Können gebildete und veredelte Persönlichkeit rücksichtslos, wahr und uneingeschränkt zum Ausdruck bringen. Wir wollen, mit einem Worte, dahin streben, Charaktere zu sein. Dann werden wir auch des Lohnes nicht ermangeln, den wir ersehnen: eine Poesie, also auch eine Lyrik zu gebären, die, durchtränkt von dem Lebensstrome der Zeit und der Nation, ein charakteristisch verkörpertes Abbild alles Leidens, Sehnens, Strebens und Kämpfens unserer Epoche darstellt, und soll sein ein prophetischer Gesang und ein jauchzender Morgenweckruf der siegenden und befreienden Zukunft. ... Unsere Anthologie soll sich, wenn irgend möglich, zu einem dauernden Jahrbuch gestalten, das sich aus schwachen Anfängen zu immer größerer Bedeutung entwickeln möge. Die Idee dieses jüngsten Eröffnungsbandes ist schnell entstanden und ebenso schnell durch die thatkräftige und opferwillige Liberalität unseres Freundes und Dichtgenossen Wilhelm Arent in's Leben gerufen worden; die große Eile, mit der wir vorgehen mußten, um das Werk noch vor Weihnachten herauszubringen, möge es entschuldigen, wenn die Vollständigkeit, Vielseitigkeit und Auswahl noch nicht ganz nach Wunsch ausgefallen. Der Weg zur Vollendung ist eben schwer, und der Herausgeber würde vollkommen befriedigt sein, wenn von Seiten der guten und verständnißvoll Urtheilenden anerkannt würde, daß die ersten Schritte, die auf dem Wege geschehen, keine »verlorene Liebesmühe« gewesen sind. Noch manchen der Jüngeren hätten wir gern geladen, aber die Frist war zu kurz; immerhin hoffen wir, daß es ersichtlich wird: auf den Dichtern des Kreises, den dieses Buch vereint, beruht die Litteratur, die Poesie der Zukunft, und wir meinen, eine bedeutsame Litteratur, eine große Poesie ...
Hannover, Mitte November 1884.
Karl Henckell. Quelle: Wilhelm Arent (Hg.), Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig 1885, S. 4-7. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20004454472