Didaktische Poesie
Ernst Kleinpaul, Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst, 1843
§. 115. Tritt in poetischen Erzeugnissen die Belehrung als bestimmter oder als Hauptzweck heraus, so nennt man dieselben didaktisch. Die didaktischen Poesieen können nicht als eine besondere Hauptgattung aufgeführt, die einzelnen Produkte derselben müssen vielmehr immer derjenigen der genannten drei Hauptgattungen untergeordnet werden, mit der sie die meiste Verwandtschaft haben. Läßt der Dichter statt der Gefühle und Empfindungen -- oder neben denselben -- Gedanken und Betrachtungen vorwalten, so wird das Gedicht ein lyrisch-didaktisches; stellt er über Ereignisse, oder vielmehr beim Erzählen derselben, über Gegenstände des äußern Lebens, der Natur und der Kunst &c., belehrende Reflexionen an, so wird es ein episch-diktaktisches sein, legt er seine Lehren handelnd auftretenden Personen in den Mund, so wird es dramatisch-didaktischen Charakter haben.
§. 116. Es ist viel darüber gestritten worden, ob
die Gedichte didaktischer Tendenz überhaupt in das
Gebiet der Poesie gehören oder nicht. Wir unsern
Theils können eine unbedingte Ausscheidung derselben
nicht billigen. Allerdings soll die Poesie nach unsrer
eigenen Erklärung zunächst keinen andern Zweck
haben, als den, Genuß zu bereiten; allerdings scheint
es sonach bedenklich zu sein, noch andere Zwecke neben
jenen Hauptzweck zu stellen; -- aber betrachten wir
die große Zahl guter didaktischer Gedichte, so finden
wir, daß man recht wohl Belehrung erzielen kann,
ohne dem Hauptzweck der Poesie etwas zu vergeben.
Freilich solchen Produkten, in welchen der nüchterne
Verstand die Phantasie, überhaupt das Didaktische
die Poesie erdrückt, die nur trockene Lehre
(diese allenfalls in guter poetischer Form) bieten, aber
alles poetischen Gehalts ermangeln, werden auch
wir nicht das Wort reden.
Aus: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht bearbeitet und mit Hinweisungen auf die Gedichtsammlungen von Echtermeyer, Kurz, Schwab, Wackernagel und Wolff versehen von Ernst Kleinpaul, Lehrer an der höheren Stadtschule in Barmen. Barmen: W. Langewiesche, 1843. S. 80f
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