Dichter in oralen Kulturen
Raoul Schrott: Die Erfindung der Poesie
Die Skalden und Skops, der keltische fili, der arabische sha’ir oder der griechische aoidos sind nur verschiedene archaische Namen für die zentrale Rolle, die der Dichter in einem Kulturkreis hatte, der auf oralen Traditionen aufbaute. Als Poet und Sänger verstand man ihn nur insofern, als er Prophet und Seher, zugleich aber auch Richter, Geschichtsschreiber oder Heilkundiger war. Seine Funktion war sozial an den Stamm und den Fürsten und sakral an den Glauben gebunden; was er übermittelte, waren Arbeitslieder, Sprichwörter und Zaubersprüche; Genealogien, Annalen, Legenden, Gesetze und Lob- und Spottgesänge, und in einem religiösen Kontext Mythen, Invokationen, Inkantationen und Divinationen. Der aoidos tradierte diese Formen nicht nur, er personifizierte und deutete sie auch, weil ihm Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mit ihren zyklischen Mustern über die Götter zugänglich erschienen. Zum Ausdruck fanden sie in der musike — dem Ereignis der Musen, einem Ritus, in dem Musik, Worte und Tanz verschmolzen. Die Namen, die man ursprünglich den Musen gab, stehen dabei ganz im Einklang mit den Techniken mündlicher Überlieferung: Mneme, Aoide und Melete — das Gedächtnis, der Gesang, der die Erinnerungen mitteilte, und die Übung, um das auswendig Gelernte nicht zu vergessen. Sie waren die >gleich und zugleich Seienden<, die >Musen<, die, der Wortbedeutung nach, mit Wissen und Sinnen ebenso verwandt sind wie mit dem Aufbegehren, dem Wahnsinn, der Raserei und dem Orakel.
Raoul Schrott: Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten viertausend Jahren. Frankfurt/Main: Eichborn, 1998, S. 11