Chor

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Meyers 1906

[92] Chor (griech., der), eigentlich ein umgrenzter Tanzplatz, dann der Rund- und Reigentanz selbst, insbes. der mit Gesang verbundene, bei festlichen Gelegenheiten zu Ehren einer Gottheit ausgeführte Reigen und das ihn ausführende Personal. Solche Aufführungen, bald ernst und feierlich, bald lustig und ausgelassen, bildeten bei den Dionysischen Festen den ursprünglichen und hauptsächlichen Bestandteil der Festfeier, und als sich aus den Dithyrambenchören (s. Dithyrambos) in Athen das Drama entwickelte, wurde der C. als Hauptelement der dionysischen Feier beibehalten, wenn auch im Laufe der Zeit mit zunehmender Beschränkung, gewissermaßen als ein ideales Publikum von Greisen, Männern oder Frauen (in der Tragödie anfangs 12, seit Sophokles 15, ebensoviel wahrscheinlich im Satyrdrama, in der Komödie 24), das zu den handelnden Personen in irgend einer Beziehung steht, an den dargestellten Vorgängen selbst ein gewisses Interesse hat, von der Orchestra aus die Handlung mit ruhiger Teilnahme begleitet, bisweilen auch in dieselbe, wenn auch nicht tätig, durch Vermittelung des Chorführers (Koryphaios) eingreift und in den Hauptabschnitten des Stückes lyrische Stücke, von Flötenspiel begleitet, unter angemessenen mimischen und Tanzbewegungen vorträgt. Gewöhnlich erfolgt nach der ersten Szene der feierliche Einzug des Chores (Parodos) in die Orchestra, auf der er in der Regel bis zum Schluß des Stückes verblieb. Zum Unterschied von der kreisförmigen Ordnung des Dithyrambos war seine Ausstellung viereckig; während des Spieles trat er, um den Blick auf die Bühne nicht zu hindern, in zwei sich gegenüberstehende Abteilungen auseinander, änderte aber nach Beschaffenheit des Stückes und der Gesänge die Stellung. Die Gesänge des tragischen Chores waren dreifacher Art: der erste gemeinsame Gesang beim Einzug in die Orchestra, die Parodos; das die Dialogpartien unterbrechende und in der Regel bei leerer Bühne bald vom ganzen C., bald von Halbchören, kleinern Abteilungen oder einzelnen Mitgliedern (Choreuten) vorgetragene Stasimon und der Kommos, ein von einzelnen Choreuten oder Abteilungen abwechselnd mit einer Person auf der Bühne gesungenes Klagelied. Die Stasima waren antistrophisch, d. h. jeder Strophe entsprach eine zweite von genau demselben Umfang und Bau, die Antistrophe; beiden folgte bisweilen noch ein selbständig gebauter Abgesang, die Epodos. Außer der lyrischen Form, welche die ganze Mannigfaltigkeit der ausgebildeten dorischen Metrik zeigt, unterscheiden sich diese Lieder auch sprachlich vom Dialog, indem der attische Dialekt leicht mit dorischen Formen gemischt ist. Dem Inhalt nach schließen sich die Chorgesänge in der guten Zeit stets eng an die Handlung an (schon bei Euripides lockert sich die Verbindung, noch mehr bei den spätern Tragikern seit Agathon) und äußern, was sich aus derselben aufdrängt: Klage, Jubel, Warnung, Trost, Belehrung über die Leidenschaften und die stets waltende Gerechtigkeit der Götter, Hymnen, Gebete etc. Die tragischen Chöre sind neben Pindars Epinikien die erhabensten Reste griechischer Lyrik. Der C. der ältern Komödie, welcher der Handlung wie dem Zuschauer erheblich näher trat als der tragische, hatte nicht nur seine Parodos und seine Stasima, sondern griff auch beständig mit kleinen Gesängen in die Handlung ein. Speziell an das Publikum gerichtet war der Hauptchorgesang, die Parabase (so genannt von dem Umschwenken des bisher der Bühne zugewandten Chores zum Zuschauerraum), in halb launiger, halb würdevoller Sprache, aber mit ernster Tendenz; hierbei trat auch die Person des Dichters gelegentlich stark hervor. Die vollständige Parabase (nicht immer war sie vollständig) zählte sieben Teile: das Kommation, ein einleitendes, Wünsche für den Schauspieler enthaltendes Liedchen; die eigentliche Parabase, eine Ansprache an das Publikum über den Dichter oder eine sonstige Angelegenheit, meist in anapästischen Tetrametern; das sie beschließende, in ununterbrochenen Anapästen abgefaßte Makron oder Pnigos. die Ode, ein aus Ernst und Scherz gemischtes Loblied an die Götter; das bloß der ausgelassenen Laune dienende Epirrhema, meist in trochäischen Tetrametern; schließlich beiden letztern in Form und Inhalt entsprechend die Antode und das Antepirrhema. Die ältern Stücke des Aristophanes haben zwei Parabasen, von denen die zweite nur aus den vier letzten Teilen besteht. Über die musikalische Komposition sind wir ebenso unzureichend unterrichtet wie über die orchestische Ausführung; wir wissen nur, daß die tragische Tanzweise, Emmeleia genannt, sich durch Würde und Ruhe von der lebhaftern des Satyrspiels, der Sikinnis, und der ausgelassenen der Komödie, dem Kordax, unterschied. Die Beschaffung und Ausbildung der Chöre fiel zu Choregen bestellten vermögenden Bürgern zu (s. Choregie). Als nach dem Peloponnesischen Krieg Athens Wohlstand gesunken war, gingen manche Chöre ganz ein, wieder komische schon in den letzten Jahren des Aristophanes, daher auch der sogen. mittlern und neuern Komödie und der aus letzterer hervorgegangenen römischen der C. fehlte. Dagegen besaß ihn die der griechischen nachgebildete römische Tragödie, in der er jedoch wegen der fehlenden Orchestra[92] gleich den Schauspielern seinen Platz auf der Bühne hatte. – Bei dem Charakter dieses antiken Chores, der ganz im öffentlichen Leben des griechischen Volkes wurzelte, ist nicht zu verwundern, daß Nachbildungen, wie sie z. B. Schiller in der »Braut von Messina« versuchte, keinen allgemeinen Anklang fanden. Mehr Glück machten in Platens (freilich nur gelesenen) aristophanischen Stücken die Parabasen, obwohl auch sie als vorwiegend literarischen Inhalts nur in engern Kreisen.

Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1906, S. 92-93. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20006423388


Pierer

[80] Chor (v. gr. Choros),

1) Reigen, mit Gesang verbundener Tanz;

2) (gr. Ant. u. Lit.), die Schaar von Sängern u. Tänzern, welche einen Chortanz zufführten. Chöre wurden in Griechenland seit den ältesten Zeiten bei Götterfesten aufgeführt, u. zwar tanzten die Choreuten im Kreis (daher Kyklische Chöre) um den Altar des Gottes, welchem das Fest gefeiert wurde. Bes. wurden sie an den Bacchusfesten getanzt, u. weil die Gesänge in kühnem u. hohem Styl (Dithyramben) den Weingott verherrlichten, so hießen jene Chöre auch Dithyrambische Chöre. Die Bacchusfeste, eng verbunden mit den Mysterien, stellten eine ernste u. eine frohe Seite dar; die Gesänge für jenen ersten Theil waren bes. die Dithyrambischen Chöre, im Gegensatz zu denselben hießen die lasciven, scherzhaften, Phallische Chöre. Diese Chöre wurden in Attika Grundlage der dramatischen Poesie, indem zwischen den Choractioneneinzelne Schauspieler auftraten, welche einen Mythus aus dem Leben u. den Thaten des Bacchus erzählten (Epeisodion). Mit der Zeit schied sich das ernste u. heitere Element, u. Tragödie u. Komödie wurde nach verschiedenen Seiten hin ausgebildet, u. nun nicht allein mehr die Sagen von Bacchus Gegenstand des Stücks, sondern auch andere Götter- u. Heroenmythen. Aber Chöre blieben auch in den, aus denselben gebildeten Dramen, u. zwar der Tragische Ch. in der Tragödie u. der Komische Ch. in der Komödie. Doch wurde das scherzhafte Element nicht ganz aus der Tragödie verbannt, aber an das Ende dreier zusammengehöriger Stücke (Trilogie) gewiesen u. dort als Satyrisches Drama (s.d.) dargestellt von dem Satyrischen Ch. Zum Tragischen Ch. gehörten Anfangs 50 Personen, seit Äschylos nur 15; eben so viel zum Satyrischen, zum Komischen 24. Der Ch. bestand aus Männern od. Frauen u. stellte Leute vor, welche nur Zeugen der Handlung sind, an der Handlung selbst aber nicht theilnehmen außer durch Rath, Ermahnung, Warnung, Trost; auch in den Zwischenacten, od. wenn die Handlung stillstand, sprach er in lyrischen Ergüssen. Seine phonetischen Darstellungen waren mehr ein Sprechen als Singen, wohl recitativartig (vgl. Choral 1). Die Ausrüstung des Ch-es (Choregia) war in Athen eine der bedeutendsten Staatsleistungen (Liturgien), da ein Bürger (Chorēgos od. Choragos) Alles zu besorgen hatte, was der Ch. zur Aufführung brauchte. An den Lenäen lag die Choregie den Schutzbürgern (Metöken) ob. Der Choreg mußte zuerst einen Ch. zusammenbringen, denn die Choristen (Choreutá) waren nicht Schauspieler, sondern freie Leute; dann erhielten diese einen besonderen Chorlehrer (Chorodidaskălos), der sie an einem, von den Choregen bes. dazu eingerichteten Orte (Choregĭon) in seinem od. in einem fremden Hause in Gesang u. Tanz übte. Während der Lehrzeit mußte der Choreg für die Beköstigung des Ch-es sorgen; für die Aufführung selbst gaber die schmucken Kleidungen, goldene Kränze, Masken etc. Die Ausstattung des tragischen Ch-es war kostspieliger, als die des komischen; z.B. die eines tragischen Ch. kostete an 700, eines komischen blos an 400 Thaler. Die dramatischen Chöre agirten in dem Theile des Theaters, welcher zwischen der Scene u. den Schauplätzen inne lag (Orchestra, s. u. Theater), u. zwar trat er entweder in marschähnlichem Aufzug auf Χόρος τετράγωνος, od. er bewegte sich im Reigen um die Thymele in der Orchestra Χόρος κύκλιος). Er war auch zuweilen tn 2 Hälften getheilt; dann gehörte im tragischen Ch. zu je 6 Choreuten ein Führer (Koryphäos), der wohl im Namen seines Chortheiles zuweilen sprach; der 15. war der Chorführer (Hegemon). Der Gesang wurde von einem Flötenspieler (Choraules) od. von einem Zitherspieler (Chorokitharistes) begleitet. Je nachdem der Ch. wegen Ausstattung u. Aufführung[80] gefiel, wurde der Sieg der Tragödie bestimmt; der Sieger erhielt als Preis einen, gewöhnlich mit einer Inschrift versehenen Dreifuß, welcher einem Gott geweiht u. öffentlich in der Tripodenstraße aufgestellt wurde, wozu man entweder Säulen od. kleine Gebäude (Choragische Monumente) wählte. Die vorzüglichsten bis auf neuere Zeiten erhaltenen Choragischen Monumente sind das Monument des Lysikrates (Laterne des Demosthenes) u. das des Thrasyllos u. Thrasykles (letzteres an der Südseite der Akropolis, jetzt als Kirche benutzt). Nach dem Peloponnesischen Kriege, wo Athens Wohlstand herabkam, waren die Chöre nicht mehr so prächtig, doch erhielten sie sich in der Tragödie, aber in der Komödie hörten sie, auch aus politischen Gründen, beim Übergang der alten in die mittlere Komödie ganz auf. In neuerer Zeit hat man mehrfach den Ch. der Alten nachzuahmen gesucht; so haben die älteren italienischen, spanischen u. französischen Trauerspiele, bis um 1630, Chöre, nur daß hier der Ch., aus einem Mißverstehen der Alten, gesungen wurde. Noch Racine versuchte in seiner Athalia u. Voltaire im Ödip den Ch. einzuführen. Auch die Brüder Stolberg u. Schiller (Braut von Messina) führten den Ch. wieder in die moderne Tragödie ein; ferner Raupach (in der Themisto), Letzterer aber in so fern in veränderter Weise, als er den Ch. in den Zwischenacten singend auftreten ließ. Vgl. Heeren, De chori graeci trag. natura et indole, Gött. 1784; Ilgen, Chorus Graecorum tragicus, Lpz. 1783.

3) Das von dem Ch. Gesprochene, meist lyrische Poesien;

4) eine zum gemeinschaftlichen Vortrage eines Musikstückes vereinigte Anzahl von Sängern od. Instrumentisten, daher Sänger-, Instrumentisten-Chöre. Erster ist entweder vollständiger, wenn alle 4 Stimmengattungen (Discant, Alt, Tenor u. Baß) vereinigt sind, od. blos männerstimmiger Männerchor; letzter heißtüberhaupt Musikchor, u. wird nach den Arten der Instrumente benannt: Hornisten-, Trompeterchor, Ch. der Streich- u. Holzinstrumente;

5) das Musikstück selbst, welches bestimmt ist, von sämmtlichen Mitgliedern eines Sängerchores vorgetragen zu werden, zwar nicht an eine gewisse Anzahl Stimmengattungen gebunden, aber vorzugsweise ein vierstimmiges, mit u. ohne Instrumentbegleitung, im Gegensatz von Arie, Recitativ, Duett, Terzet etc. od. Solo jeder Art. Ein für zwei alternirende Chöre berechnetes Musikstück heißt Doppelchor. In Kirchenmusikstücken ist die Bearbeitung des Ch-es am vielstimmigsten u. vielseitigsten u. im sogenannten strengen Style, in der Oper aber im sogenannten freien Style;

6) bei Clavier- u. einigen anderen Saiteninstrumenten die Anzahl der neben einander liegenden Saiten von gleicher Tonhöhe, welche mittelst Anschlag einer einzigen Taste zugleich erklingen, daher z.B. zwei-, dreichöriges Fortepiano;

7) bei Orgeln die zu einer Clavis gehörenden Pfeifen einer Mixtur, gewöhnlich durch – fach bezeichnet, z.B. Cornett dreifach;

8) Abtheilung der Personen bei der Brüdergemeinde (s.d.), nach Alter u. Geschlecht, deren jeder ein Chorhelfer für das männliche od. eine Chorhelferin für das weibliche Personal vorstehen u. für deren religiöse Bedürfnisse sorgen.

9) (bibl. Ant.), nach Luthers Übersetzung von Debir (s.d.) das Allerheiligste im Tempel der Juden;

10) (Hohes Ch.), in katholischen Kirchen eine durch Stufen erhöhte Abtheilung der Kirche, in welcher der Hauptaltar sieht, im Gegensatz zu dem Schiff der Kirche. In Dom- u. Stiftskirchen sind an den Seiten des Ch-es mit Gitterwerk versehene Sitze für die vornehme Geistlichkeit angebracht, s. Chorgestühl. Im Mittelalter bildete das Ch. einen besonderen, gewöhnlich halbrunden, fünf- od. siebeneckigen, gegen Osten gelegenen Anbau;

11) (Orgel- od. Sängerchor), der für die Sänger u. Musiker bestimmte Raum in Kirchen am Ende des Mittelschiffes vor der Orgel. Er liegt gewöhnlich dem Altar gegenüber in gleicher Höhe mit der ersten Empore;

12) Lieder im Ch. zu singen, s. Stufenpsalmen;

13) so v. w. Emporkirche;

14) die an der Wand eines Tanz- od. Concertsaales für die Musiker angebrachte Gallerie.

Quelle: Pierer's Universal-Lexikon, Band 4. Altenburg 1858, S. 80-81. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20009679405


Brockhaus 1809

[211] Der Chor (Schauspielkunst und Musik). Ursprünglich bezeichnete man mit diesem Worte einen Trupp Sänger und Tänzer, welche bei öffentlichen festlichen Gelegenheiten den Pomp und das Feierliche derselben durch gewisse Handlungen erhöhen mußten. So war es denn auch unstreitig bei der Tragödie und Comödie, welche einen Haupttheil öffentlicher Feierlichkeit in den ältesten Zeiten ausmachten, wo denn eigentlich der Gesang des Chors die Hauptsache war; in der Folge wurden die Chöre freilich nur zur Nebensache gemacht. Nach dem, was wir nun von den Tragödien der Alten noch wissen, war der Chor eine Gesellschaft von Personen männlichen oder weiblichen Geschlechts, die während der ganzen Vorstellung [211] Zuschauer, oder vielmehr Zeugen der Handlung waren, und auf dem Schauplatz immerfort zugegen blieben. Stand die Handlung hie und da stille, so sang der Chor Lieder, die mit dieser in Beziehung standen, und welche entweder den Affect stärken, oder die Empfindungen über den Vorgang der Handlung ausdrücken sollten, ab; nahm wohl auch bisweilen durch Bemerkungen gegen die handelnden Personen, durch Rath, durch Trost, auch wohl durch Vermahnung oder Abrathung, an der Handlung selbst Theil; aber selten erschien er als Hauptperson der Handlung, wie es etwa der Fall beim Aeschylus ist. Er stellte gemeiniglich entweder einen Theil des Volks, oder die Aeltesten aus dem Volke, bei welchem die Handlung vorging, wohl auch die Räthe des Königs u. s. w. vor; und nie konnte der Chor aus der Tragödie wegbleiben, ja, dem ersten oben angeführten Ursprunge nach, nicht einmal die Bühne verlassen. Anfangs waren es auch sehr viel, bisweilen auf 50 Personen, welche den Chor ausmachten; doch wurde diese Zahl in der Folge bis auf 15 beschränkt. Der Anführer oder Vorsteher eines solchen Chors nun hieß Coriphäus, der denn auch da, wo jener Antheil an der Handlung nahm, im Namen der übrigen sprach; bisweilen theilte sich auch der Chor in zwei Theile, wo sie denn abwechselnd sangen. Diese Abtheilungen von dem Chor, welche man, vielleicht nicht ganz richtig, Chöre zu nennen pflegt, waren dann in Bewegung, und gingen von einer Seite des Theaters nach der andern, von welchen verschiedenen Bewegungen denn auch die verschiedenen Benennungen der einzelnen Lieder oder Absätze herrührten, nemlich: Strophe, Antistrophe und Epodos (s. den Art. Strophe, Th. V. S. 427). Wie aber eigentlich die Musik, nach welcher dieser Chor gesungen wurde, beschaffen gewesen sei, darüber läßt sich, da alle Nachrichten darüber verloren gegangen, gar nichts bestimmtes sagen; jedoch läßt sich schließen, daß es vielmehr eine Art Declamation nach einem bestimmten Maaße gewesen, und daß überhaupt die Melodien derselben, wenn man sie so nennen darf, blos in Einklängen und Octaven bestanden habe, und sehr einfach gewesen sei. [212] Sie wurden auch von den Instrumenten, welches etwa einige Flöten waren, Ton für Ton im Einklang begleitet. – Mit dem Verfall der alten Tragödie ist nachher der Chor in den Trauerspielen ebenfalls abgekommen, und nur erst die Trauerspieldichter unserer Zeit – und Schiller als der Erste (m. s. dessen Vorrede zur Braut von Messina) – haben wieder den Versuch gemacht, den Chor nach Art der Alten auf unsere Bühne zu bringen. (Vergl. auch den Art. Schauspiel, Th. V. S. 84 u. 85.)

Daß übrigens in unserer heutigen Musik der Chor einen vier- oder auch mehrstimmigen Gesang ausmacht, wobei jede Stimme mit einer Menge Sänger oder Sängerinnen besetzt ist, und das Gehör mit aller Pracht der Harmonie und Schönheit der Melodie zu rühren weiß, ist bekannt. Diese Chöre, welche nun freilich wohl in hohem Grade von jenen der alten Griechen sehr unterschieden sein mögen, kommen in Oratorien sowohl, als in Opern, in jenen noch mehr, vor, und drücken entweder freudigen Zuruf, oder Verwunderung, Schmerz, Anbetung etc. einer ganzen Menge von Menschen aus, und sind, wie bekannt, von sehr großer Wirkung, aber auch für den Compositeur eine schwere Aufgabe. Welcher nur etwas Gebildete ist nicht von den in ihrer Art einzigen Chören eines Händels schon im Innersten tief erschüttert worden?

Quelle: Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 7. Amsterdam 1809, S. 211-213. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20000787779


Sulzer

[200] Chor. (Schöne Künste)

Es scheinet, daß dieses griechische Wort ursprünglich einen Trup Menschen, zu einem festlichen Aufzug versammelt, bedeute, einen Trup festlicher Sänger, oder Tänzer. Die Alten, welche bey allen öffentlichen Handlungen den Pomp und das feyerliche liebten, suchten es unter anderm auch dadurch zu erhalten, daß sie gewisse Handlungen einem solchen Trup Menschen auftrugen. An ihren Festtagen hatten sie Chöre von Sängern und Tänzern, wodurch sie dem Fest ein feyerliches Ansehen gaben. Dergleichen Chöre hatten sie auch in ihren Tragedien und Comödien. Von den singenden Chören der Alten haben wir noch itzt die Benennungen, da wir durch das Wort Chor einen Trup Sänger, oder den von ihm abgesungenen Gesang, oder auch den Ort in den Kirchen, wo er stehet, bezeichnen. Es ist deswegen nöthig, daß wir von jeder Bedeutung besonders sprechen.

Chor in der Tragedie der Alten. Es erhellet aus den Nachrichten, die uns die Alten von dem Ursprung der Tragedie und der Comödie geben, daß beyde aus den Chören von Sängern, die bey den Festen des Bachus gebräuchlich waren, entstanden sind. Man hat keine ausführliche Nachricht davon, was es ursprünglich mit diesen Chorgesängen für eine Beschaffenheit gehabt habe. Doch weiß man, daß sie von zweyerley Gattung gewesen, dithyrambische und phallische Gesänge; jene von einem hochtrabenden Ton und Inhalt, diese ausgelassen und muthwillig. Aristoteles sagt, daß durch jene die Tragedie, durch diese aber die Comödie veranlaset worden. Wie es damit eigentlich zu gegangen sey, läßt sich nicht genau bestimmen; wahrscheinlich aber ist es, daß es einer, dem die Einrichtung des Festes aufgetragen gewesen, versucht habe den Gesang des Chors durch die Vorstellung einer Handlung, oder auch wol blos durch Erzählung derselben, zu unterbrechen, und daß der dithyrambische Gesang durch eine grosse, ausserordentliche, der phallische aber durch eine poßirliche und muthwillige Handlung unterbrochen worden. Da der erste Einfall, den Gesang des Chors durch Erzählung oder Vorstellung einer Handlung zu unterbrechen, und dadurch das Fest ergözender zu machen, Beyfall gefunden hat, mögen hernach andre der Sache weiter nachgedacht, und solche Handlungen dazu gewählt haben, die nach und nach zu den regelmäßigen Vorstellungen auf der Schaubühne Gelegenheit gegeben haben.

Es läßt sich hieraus mit Gewißheit schliessen, daß in den ersten Zeiten, da die Tragedie und Comedie aufgekommen, der Gesang des Chores die Hauptsache gewesen, die hernach, wie in andern Dingen ofte zu geschehen pflegt, von dem, was anfänglich eine Nebensache war, verdrängt worden. Denn in den alten Tragedien und Comedien, die wir noch haben, sind die Chöre allerdings die Nebensache, und man weiß auch, daß sie endlich aus der Comedie ganz verdrängt worden.

So wie wir die Chöre in den noch übrigen Tragedien der Alten finden, bestehen sie aus einer Gesellschaft solcher Personen, männlichen oder weiblichen Geschlechts, die bey der ganzen Handlung meistentheils als Zuschauer gegenwärtig sind, ohne jemal die Schaubühne zu verlassen. Von Zeit zu Zeit, wenn die Handlung stille steht, singen sie Lieder ab, deren Inhalt sich auf die Handlung bezieht. Bisweilen nehmen sie auch an der Handlung selbst [200] einen Antheil, äussern gegen die handelnden Personen ihre Gesinnungen durch Rath, Vermahnung oder Trost. Die Personen des Chors sind bisweilen ein Trup von dem Volke, bey dem die Handlung vorgeht, wie in dem Oedipus in Theben, da das ganze Volk, das die Priester an seiner Spitze hat, den Chor ausmacht; bisweilen sind sie die Aeltesten aus dem Volke, oder die Räthe des Königs, oder die Hausgenossen der Hauptperson, wie die Aufwärterinnen einer Königin. Der Chor besteht aber auch bisweilen aus Personen, die ganz zufällig, als blosse Zuschauer zu der Handlung gekommen sind, wie in der Iphigenia in Aulis des Euripides, wo ein Trup Frauen, welche die Neugierde, das Lager der Griechen zu sehen, auf den Schauplatz geführt hat, den Chor ausmachen. Doch giebt es auch Chöre, die als Hauptpersonen der Handlung erscheinen, wie die Eumeniden des Aeschylus und die Danaiden1 desselben Dichters. Die Hauptverrichtung des Chors ist, wie gesagt, der Gesang zwischen den Handlungen, der allemal moralischen Inhalts ist und dienet, entweder den Affekt zu stärken, oder gewisse Empfindungen über das, was in der Handlung vorkommt, auszudruken. Der Chor konnte aus dem Trauerspiel niemals wegbleiben, weil er ihm wesentlich war; ob es gleich, wenn das Trauerspiel, wie in den nächstfolgenden Zeiten geschehen ist, blos als eine wichtige Handlung angesehen wird, seiner gar nicht bedarf, und er deswegen aus den neuern Trauerspielen ganz wegbleibet. Ja er konnte diesem ersten Ursprung zufolge, auch nicht einmal die Bühne verlassen, sondern mußte nothwendig als die Hauptsache immer zugegen seyn, weil die Handlung eigentlich das episodische des Schauspiels war. Aus diesem Gesichtspunkt muß man den Gebrauch der Chöre beurtheilen, und das unwahrscheinliche, das bisweilen darin ist, seinem Ursprung, und nicht dem Dichter zuschreiben. Wenn es von der Willkühr des Dichters abgehangen hätte, mit dem Chor, so wie mit den übrigen Personen zu verfahren, so wäre es ein unverzeihlicher Fehler, daß Euripides in der Iphigenia in Aulis, eine Schaar fremder und ganz unbekannter Frauenspersonen, gleich zu Vertrauten der Clytemnestra und der übrigen Hauptpersonen gemacht hat. Weil aber der Chor nothwendig zugegen seyn mußte, mithin ein Zeuge aller Reden und Handlungen war, so mußten die Dichter ihn als vollkommen verschwiegen und unpartheyisch ansehen. Doch scheint es, daß schon Sophokles versucht habe, den Chor ganz abtreten zu lassen; denn in seinem Ajax theilet er sich, als ein Bote vom Teucer kommt, und die handelnden Personen vermahnet, den aus dem Zelt gegangenen Ajax zu suchen, in zwey Theile, und hilft den andern ihn aufsuchen; so daß kurz nachher, im Anfang des vierten Aufzugs, Ajax ganz allein auf der Bühne erscheint. Man muß sich verwundern, daß Euripides sich dieser Freyheit nicht bedient hat. Die handelnden Personen entdeken in Gegenwart des Chors ihre geheimsten Gedanken, eben so, wie wenn sie ganz allein wären; der Chor verräth sie so wenig, als der Zuschauer; er ist der Vertraute beyder Partheyen, auch wenn die Personen gegen einander handeln. Weil er also nothwendig unpartheyisch seyn mußte, so nimmt er, wenn er sich in die Handlung einmischt, allemal die Parthey der Billigkeit, doch ohne etwas zu verrathen. Er redet zum Frieden, er nimmt sich der Unterdrükten an, er sucht die Gemüther zu besänftigen, mischt seine Klagen mit unter die Thränen der Leidenden. Indessen bleibt eine solche Theilnehmung an der Handlung meistentheils eine Nebensache. Die Hauptsache ist der Pomp des Aufzuges, und der feyerliche Gesang zwischen den Aufzügen.

Anfänglich bestuhnd der Chor in dem griechischen Trauerspiel aus vielen Personen, die sich bisweilen auf funfzig erstrekten. Auf Befehl der Obrigkeit mußte Aeschylus diese Zahl bis auf 15 herunter setzen, nachdem man gesehen, daß ein so grosser Pomp, wie bey der Vorstellung der Eumeniden geschehen, zu starke Würkung auf die Gemüther gethan.2 Der Chor hatte einen Vorsteher, der Coryphäus genennt wurde: wenn der Chor Antheil an der Handlung nahm, so redete dieser allein im Namen aller andern, daher die handelnden Personen den Chor immer in der einzeln Zahl anreden. Bisweilen aber theilte sich der Chor in zwey Truppe, die beyde abwechselnd sangen.

Die Neuern haben die Chöre im Trauerspiel abgeschaft, so wie sie überhaupt viel in der Pracht desselben hinter den Alten zurüke bleiben. Indessen ist gewiß, daß sie mit grossem Vortheil könnten bey behalten werden, zumal da man ietzo von dem Zwang frey wäre, ihn beständig auf der Bühne zu behalten. Die heutigen Opern scheinen noch die [201] nächste Nachahmung des alten Trauerspiels zu seyn. Einige Engländer haben versucht die Chöre wieder einzuführen, und selbst Racine hat es in der Athalia gethan. Auch im Lustspiel hatten die Alten anfänglich Chöre, die aber zeitig abgeschaft worden.

In der alten atheniensischen Comödie, war die Besorgung des Chors einem Mann aufgetragen, der allemal durch eine öffentliche Wahl dazu ernennt worden; dieser mußte die Sänger des Chors bezahlen. Als aber jener, welcher Choragos genennt wurd, abgeschaft worden, gingen auch die Chöre ein, weil niemand die Sänger bezahlen wollte.3 Auch die Lieder, welche der Chor abgesungen hat, werden Chöre genennt. Sie machen einen wichtigen Theil dessen aus, was uns von der lyrischen Poesie der Griechen übrig geblieben ist. Sie sind, so wie die pindarischen Oden in Strophen und Antistrophen eingetheilt, und bestehen meist aus sehr kurzen lyrischen Versen. Es scheinet, daß die Dichter auf diese Chöre den größten Fleis gewendet, und dabey hauptsächlich zum Augenmerk gehabt haben, sie zu Nationalgesängen zu machen; wie man denn verschiedentlich Spuhren findet, daß viele diese Lieder auswendig gekonnt, und wie sich etwa Gelegenheit dazu gezeiget, abgesungen haben. Was für Kraft diese Gesänge auf die Gemüther gehabt haben, läßt sich aus folgenden zwey Anekdoten abnehmen. Plutarchus berichtet,4 daß viel von den unglüklichen Atheniensern, die nach der berühmten Niederlage, die Nicias in Sicilien erlidten, zu Sclaven gemacht worden, durch Absingung der rührenden Lieder des Euripides ihre Freyheit wieder bekommen haben. Sie lernten, sagt er, die kleinen Stüke aus seinen Tragedien, welche von Reisenden dahin gebracht wurden, auswendig, und machten sie auch andern bekannt. Viele von denen, die in ihr Vaterland wieder zurük gekommen sind, sollen den Euripides auf das zärtlichste umarmt und ihm erzählt haben, wie sie einige seiner Lieder ihren Herrn vorgesungen, und dadurch theils ihre Freyheit wieder bekommen, theils nach der Schlacht, in der Irre, den nöthigen Unterhalt gefunden haben. Eben dieser Geschichtschreiber erzählt auch folgendes:5 Nach der Eroberung Athens durch Lysander, wurde in Vorschlag gebracht, nicht nur alle Athenienser zu Sclaven zu machen, sondern ein Thebaner rieth an, daß man Athen gänzlich zerstöhren sollte. Als hierauf die Anführer der Feinde zur Tafel gegangen waren, sang ein gewisser Phocenser den Chor aus des Euripides Elektra, der mit diesen Worten anfängt:

O! Tochter des Agamemnons Elektra
Ich komm in deine bäurische Hütte.


Dieses Lied erwekte so starkes Mitleiden bey den Zuhörern, daß die Stadt verschont wurde.

Chor in der heutigen Musik. Bedeutet einen vier-oder mehrstimmigen figurirten oder arienmäßigen Gesang. Er dienet, das Gehör auf einmal mit der vollen Pracht der Harmonie und zugleich mit der Schönheit der Melodie zu rühren, zumal wenn jede Parthie mit einer Menge von Stimmen besetzt ist. Solche Chöre kommen zur Abwechslung in grossen Oratorien und in den Opern vor. Der Text dazu enthält etwas, das natürlicher Weise von dem ganzen Volke, welches bey der Handlung intereßirt ist, auf einmal gesprochen wird; freudigen Zuruf, oder ehrfurchtsvolle Anbetung. Ueberhaupt, weil bey dem Chor alle Personen einerley Worte singen, so kann er von dem Dichter nur da angebracht werden, wo der Gegenstand natürlicher Weise auf gar alle Anwesende einerley Würkung macht, so daß keiner die Aeusserung derselben verbergen kann. Man kann sich leicht vorstellen, daß bey einer feyerlichen Handlung, wenn durch das, was geschieht, das Gemüth zu gewissen Empfindungen gut vorbereitet ist, ein plötzlicher Ausbruch desselben in einer Menge von Menschen die stärkste Würkung machen müsse. Es ist ohnedem eine sehr bekannte Sache, daß jede Empfindung, die wir an vielen Menschen zugleich sehen, unwiderstehlich auf uns würkt. Wer einen oder zwey Menschen in irgend einer Leidenschaft sieht, kann noch mit einiger Ruhe ihnen zusehen; wenn aber eine ganze Menge durch dieselbe Leidenschaft in Bewegung gesetzt ist, so wird man mit unwiderstehlicher Gewalt zur Freude, Furcht oder Schreken hingerissen.

Der Dichter also, der den Text zu einer feyerlichen Musik macht, muß mit Ueberlegung die Gelegenheit[202] wahrnehmen, wo er mit Vortheil einen Chor anbringen kann. Der Text des Chores muß sehr einfach, in kurzen und wolklingenden Sätzen abgefaßt, besonders aber der Sinn derselben äusserst leicht und einfach seyn; denn das Feine und Tiefsinnige schikt sich nicht für die Menge. Was man eigentlich überlegte Gedanken nennt, würde dabey unnatürlich und auch überflüßig seyn.

Daß die Chöre nur selten und in einem langen Stük, wie die Oper ist, kaum an zwey oder drey Stellen anzubringen seyen, ist eine Anmerkung, die jedem einleuchten wird. So sehr starke Eindrüke, wie diese sind, die man von Chören erwarten kann, können nur selten vorkommen; und da sie wegen ihrer Stärke auch anhaltend sind, so ist das Ende der Handlung vorzüglich der Ort, wo sie anzubringen sind. Denn in diesem Falle wird der Zuhörer mit dem stärksten Eindruk, der hernach durch nichts folgendes zerstreut wird, nach Hause geschikt.

Es kommen aber in grossen Singspielen mehrere Gelegenheiten vor, wo alle bey der Handlung intereßirte Personen, oder ein grosser Theil derselben zugleich ihre Gedanken äussern, wo also der Tonsetzer einen vielstimmigen Gesang setzen muß. Deswegen sind nicht alle diese Gesänge Chöre. Diesen Namen giebt man z. B. den Gesängen nicht, wo der ganze Trup der Sänger etwa eine Meinung äussert, oder einen Spruch in gelassener Gemüthsfassung singt, wo der Tonsetzer insgemein den Gesang fugenmäßig einrichtet. Zum eigentlichen Chor gehört etwas affektreiches, ein lyrisches Sylbenmaas, und ein nach allen Regeln der Melodie und des Rythmus eingerichteter Gesang, wo jede Stimme ihren eigenen Gang hat.

Der Chor ist eine der schweresten Arbeiten des Tonsetzers, der dazu die Harmonie vollkommen in seiner Gewalt haben muß, weil bey der sehr starken Besetzung der Stimmen und dem ziemlich einfachen Gesange, die Fehler wider die Harmonie sehr fühlbar werden. Ueberhaupt muß er dabey die Regeln des vielstimmigen Satzes6 wol in acht nehmen, selbige aber nach einigen, dem Chor besondern, Regeln auszuüben wissen. Man findet hierüber verschiedene gründliche Anmerkungen in dem am Rande angezogenen Werk.7 Der größte Fleiß muß auf die beyden äussersten Stimmen verwendet werden, die gegen einander, wenn man die Mittelstimmen wegliesse, eben so, wie ein blos zweystimmiger Gesang müssen beschaffen seyn, so daß nirgend ein Fehler zu merken seyn müßte, wenn die Mittelstimmen ganz überhört würden. Der Tonsetzer hat sich nicht nur für schweeren und künstlichen Gängen und Fortschreitungen, deren genauen Vortrag man nie von einem ganzen Trup Sänger erwarten kann, sondern auch vor einer zu weiten Auseinandersetzung und zu nahen Vereinigung der Harmonie in acht nehmen. Er muß wol bedenken, daß unter der Menge seiner Sänger nicht alle Stimmen von gleichem Umfang seyn können. Er sollte sichs zur Regel machen, daß keine Stimme ihr Notensystem um mehr, als eine Linie überschreite, weil ohne diese Vorsichtigkeit es leicht kommen kann, daß einige Stimmen auf gewissen Stellen ausfallen, welches den Gesang sehr mangelhaft machen würde.

Diejenigen Chöre, darin die Stimmen abwechseln, und denn wieder zugleich einfallen, scheinen die angenehmsten zu seyn. Auch kann bisweilen eine besonders gute Würkung aus dem Pausiren der Stimmen entstehen, da denn die Instrumente den Eindruk, den der Gesang gemacht hat, auf eine ihm eigene Art fortsetzen und verstärken.

Bey Besetzung der Stimmen und der ganzen Anordnung der Sänger ist auch viel Ueberlegung nöthig. Das hauptsächlichste ist, daß die äussersten Stimmen vorzüglich gut besetzt seyen, weil das meiste, wie schon erinnert worden, auf diese ankommt. Es würde unerträglich seyn, wenn eine von diesen durch andre Stimmen sollte verdunkelt werden; weil man nothwendig Dissonanzen hören müßte, deren Auflösung überhört würde. Je stärker übrigens die Stimmen besetzt sind, wenn nur alles Verhältnißmäßig ist, je grösser muß nothwendig die Würkung des Chors seyn. Der einfacheste Gesang, wenn er nur im Satz rein ist, kann durch eine grosse Menge der Stimmen, die gewaltigste Würkung thun. Es scheinet in der That, daß auch hierin die Gesetze der Bewegung der Körper statt haben, und daß hundert Stimmen nicht blos auf das Ohr, sondern auf das Herz zehenmal mehr Eindruk machen, als zehen Stimmen. Es ist zu vermuthen, daß durch Chöre die Empfindungen auf das äusserste könnten verstärkt werden. Man weiß ziemlich gewiß, daß den Griechen die Kraft der Harmonie in ihren Chören gefehlt hat, und daß ihre Sänger im Einklang und in Octaven gesungen haben. Der uns unglaubliche Eindruk, den sie gemacht [203] haben, könnte gar wol blos eine Würkung von der Menge der Stimmen gewesen seyn. Dieses zu begreifen darf man nur bedenken, wie unendlich fürchterlicher ein Feldgeschrey eines ganzen Heeres sey, als ein ähnliches Geschrey von wenigen Menschen. Wir wollen über die Chöre nur noch anmerken, daß hiebey mehr, als irgend zu einem andern Theile der Kunst, grosse Erfahrung von Seite des Capellmeisters erfodert werde. Wer nicht ungemein ofte, bey verschiedenen Gelegenheiten und an ganz verschiedenen Orten, in Kirchen, auf der Schaubühne, und im freyen, grosse Chöre, von abgeänderten Plätzen und Stellungen gehört hat, der wird nie alle Vortheile kennen lernen, die, sowol den Satz, als die Ausführung der Chöre vollkommener machen. Also müssen sich unerfahrne, so viel möglich, enthalten, die Musik in aller ihrer Pracht, so wie in Chören geschieht, zeigen zu wollen. Unter den Deutschen sind Händel und Graun die größten Meister hierin. Ihre Chöre verdienen mit der größten Ueberlegung studirt zu werden.

Chor wird auch die Gesellschaft der Sänger selbst, die zu Aufführung einer grossen Musik bestimmt sind, genennt. Ihr Vorsteher wird in Deutschland insgemein der Præfectus Chori genennt.

Chor in den Kirchen, auch in grossen Musiksälen, ist der Ort, wo der Chor der Sänger steht um die Musik aufzuführen. Es würde vortheilhaft für die Musik seyn, wenn ein Kenner von feinem Gehör und weitläuftiger Erfahrung, seine Beobachtungen über die vortheilhafte oder nachtheilige Einrichtung der zur Musik bestimmten Gebäude an den Tag geben würde. Denn noch zur Zeit scheinen die Baumeister keine bestimmte Regeln zu haben, nach denen die Chöre sicher anzulegen wären.

1	In der Tragedie Ἱκετιδες.
2	S. ⇒ Aeschylus.
3	Die Stelle, welche sich in dem Fragment des Platonius, von den drey Comedien       der Griechen, hierüber findet, hat Theobald in der Vorrede zu seiner Ausgabe des Shakespears angeführt und verbessert.
4	In dem Leben des Nicias.
5	Im Lysander.
6	S. ⇒ Vielstimmig.
7	Exposition de la theorie & de la pratique, de la Musique par Mr. de Bethizy Ch. XVII. art. 3.

Quelle: Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 200-204. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20011443812


Damen Conversations Lexikon 1834

[383] Chor in der Musik, drückt die Empfindungen der Masse aus, während die Arie einzelne, das Duett, Terzett etc. verschiedene ausspricht. Da die Menge, will sie sich geltend machen, die einzele aen Interessen hintenansetzen, sich concentriren muß, so bedarf sie, um zu wirken, einfacherer, allgemeinerer Mittel. Händel verstand den Chor am kräftigsten zu behandeln. Wie in den griechischen Tragödien, findet man auch in Oratorien und Opern Doppelchöre, Gespräche im Großen zwischen zwei Parteien. Daß man unten Chor auch Gesellschaften von Musikern versteht, ist bekannt. Bei[383] den Griechen war der Chor ein Verein von Tänzern und Sängern, um öffentliche und religiöse Feste zu verherrlichen. Später ward er das vorzugsweise Eigenthum der dramatischen Poesie, beschäftigte sich aber in der Tragödie nicht unmittelbar mit dem Inhalte des Drama, sondern war vielmehr der Repräsentant des Gefühls, welches der Dialog auf die Zuhörer bewirkt hatte. Schiller in seiner Braut von Messina macht uns den Chor der Alten anschaulich. R. S.

Quelle: Damen Conversations Lexikon, Band 2. Leipzig 1834, S. 383-384. Permalink: http://www.zeno.org/nid/2000172049X


Brockhaus 1837

[421] Chor nannten die alten Griechen Vereine von Sängern und Tänzern, welche öffentliche, vorzüglich religiöse Feste durch ihre Kunstfertigkeit verherrlichen halfen. Den Ursprung dieser Sitte leitet man von den Festen des Bacchus (s.d.) her, bei denen anfänglich wol das versammelte Volk den Chor selbst bildete, der nach und nach in die dramatische Dichtkunst der Griechen überging und einen wesentlichen Theil ihrer theatralischen Vorstellungen ausmachte. In den Tragödien hatte er z.B. allgemeine Betrachtungen über die dargestellten Handlungen, gleichsam das Ergebniß derselben für die Zuschauer vorzutragen, und dies geschah gewöhnlich gleichzeitig von 15 Personen, von denen eine die übrigen leitete und Choragos oder Koryphäos, d.i. Chorführer genannt wurde, wovon bildlich noch jetzt ausgezeichnete Gelehrte und Künstler als Koryphäen in ihrem Fache bezeichnet werden. Unter den deutschen dramatischen Dichtern hat Schiller in seiner »Braut von Messina« den Versuch zur Erneuerung des tragischen Chors gemacht, aber wenig Anklang gefunden. Auch die Chöre unserer Opern besitzen große Ähnlichkeit mit dem griech. Chor, sind aber meist viel enger mit dem Stücke verbunden als jenes, und nehmen gewöhnlich an der Handlung selbst lebhaften Antheil. – In musikalischer Hinsicht wird unter Chor ein vier- und mehrstimmiges Singstück verstanden, dessen einzelne Stimmen aber von mehren Sängern oder Sängerinnen vorgetragen werden, die man beim Theater Choristen zu nennen pflegt.. – In den Kirchen wird hohes Chor der Raum vor dem Hauptaltare genannt, und weil dort die katholischen Kanonici die vorgeschriebenen Andachten mit Gebet und Gesang abhalten, haben sie den Namen Chorherren erhalten; übrigens wird auch der Raum vor der Orgel, wo die geistlichen Musiken aufgeführt zu werden pflegen, Chor genannt. – Chorhemd heißt ein weißes faltiges, manchmal mit Spitzen verziertes Oberkleid, welches katholische und an manchen Orten auch die protestantischen Geistlichen tragen, wenn sie gottesdienstliche Handlungen vor dem Altare verrichten.

Quelle: Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 421. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20000818402


Götzinger 1885

[104] Chor, der gottesdienstliche Aufenthaltsort des Chores der Geistlichen, wovon er den Namen Chorus trägt, auch hoher Chor oder Presbyterium (Priesterraum), Sanctuarium, ist ursprünglich das regelmässig quadratische Altarhaus. Er liegt höher als das Schiff der Kirche, dehnt sich aber zuweilen westlich bis in die Vierung aus. Vom übrigen Raum ist er durch Schranken (cancelli) oder eine niedrige Wand getrennt, an der Westseite gegen das Langschiff häufig durch einen förmlichen Querbau oder eine Emporkirche, der Lettner, Lectorium, genannt wird. Derselbe ist mehr oder weniger geräumig, durch eine enge Wendelstiege zugänglich und von offenen Bögen getragen oder mit Durchgängen versehen. Er dient ausser zur Verlesung des Evangeliums (daher der Name) auch zum Aufstellen der Sängerchöre und hiess daher auch Doxal, von Doxologie = Lobpreisung, oder Singechor. Seit dem 13. Jahrn. erlaubte man sich Abweichungen von der quadratischen Form des Altarhauses, sowohl durch Verkürzung[104] als namentlich durch Verlängerung des Quadrates; das letztere wurde im gotischen Stil normal. Ein gänzliches Fehlen des Altarhauses ist seltene Ausnahme. Die Erhöhung des Chorraumes über den Fussboden der übrigen Kirche beträgt oft nur eine oder zwei Stufen, steigt aber auch bis 22 Stufen; ein bedeutend erhöhter Chor lässt stets auf das Vorhandensein einer Krypta unter demselben schliessen. Der Schwibbogen, der das Altarhaus von der Vierung scheidet, wird Fronbogen oder Triumphbogen genannt, weil er mit einer Darstellung des triumphirenden Erlösers geschmückt zu sein pflegte. Die Krypta mit einem oder mehreren Altären, war ausschliesslich dem Dienste der Toten gewidmet. Die Cistercienser sollen sie in ihren Kirchen zuerst aufgegeben haben. Die Beleuchtung richtet sich nach ihrer mehr oder minder tiefen Lage. Die Krypta ist stets gewölbt, und die Wölbung wird durchmehrere Pfeilerreihen getragen. Auch Doppelchöre kommen vor, vom 9. bis 12. Jahrh. in Deutschland sogar gewöhnlich; solche Kirchen stellen sich gleichsam als zwei Kirchen mit einem gemeinschaftlichen Langhause dar, wobei jeder Chor seinen eigenen Heiligen hat. Die erste Kirche mit Doppelchören ist die Klosterkirche zu Fulda. – Otte, Handb., Absch. 19.

Quelle: Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 104-105. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20002770733


Brockhaus 1911

[341] Chor (grch.), im Altertum eine Vereinigung Tanzender, Singender, bes. im Drama als Begleiter der Handlung; jetzt Vereinigung von Singstimmen (Männer-, Frauen-, Knaben- oder gemischter C.) oder Musikern (Musik-C.), zum gemeinsamen Vortrag eines Musikstücks; dann ein solches Musikstück selbst (ohne Instrumentalbegleitung a capella-C.); die auf dem Klavier für einen Ton aufgezogenen 2-4 Saiten; bei gemischten Orgelstimmen (Mixtur, Kornett) auch die zu einer Taste gehörenden Pfeifen verschiedener Tonhöhe. – In Kirchen der nach O. liegende abgegrenzte, über das Langhaus gewöhnlich um einige Stufen erhöhte, für die Geistlichen reservierte Teil (hohes C.), in dem der Hauptaltar steht [Tafel: Gotik I, 5 u. 8.]; auch der Platz der Sänger vor der Orgel (Orgel-C., Sänger-C.).

Quelle: Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon, fünfte Auflage, Band 1. Leipzig 1911., S. 341. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20001012460