Agadische Dichtungen
II Agadische Dichtungen
Die Fundgruben dieser meist in vulgär-aramäischer Sprache verfassten Dichtungen sind die kolossalen jüdisch-nationalen Schriften der Talmude und Midraschim aus der Zeit von 200 v. Chr. bis 800 n. Chr. ‚Dem Gebiete dieser Dichtung fällt‘, wie sich der bedeutendste Kenner dieses Literaturzweiges, L. Zunz, ausdrückt, „Alles anheim, was nicht 'Erforschung oder Accommodation des überlieferten Gesetzes ist; sie ist das Product der freien Einsicht des Einzelnen, will mehr die Anerkennung eines Gedankens als der zu seiner Kundgebung gewählten Form, und oft ist eine augenblickliche, nicht dauernde, Wirksamkeit ihr Zweck.“ Sie heisst Hagada, Agada (Gesagtes), weil sie von dem, der sie verkündet, nicht brauchte recipirt, gehört worden zu sein, es genügte, dass sie gesagt wurde. „Die Werke der Hagada,‘‘ so bemerkt Zunz weiter, „zerfallen in zwei Klassen. In der einen nimmt die Hagada selbstständige Formen an; das sichtbare Wort der Schrift tritt in den Hintergrund, aber ihr Inhalt, ihr Geist, die Anhänglichkeit an das Nationale weht und wirkt in dem hagadischen Producte. In der andern Klasse hingegen besteht die eigentliche Thätigkeit in der Auslegung und der Anwendung der Schrift: das Wort selbst wird sichtbar, durchdringt den Geist jüngerer Zeit und befruchtet mit neuen Ideen. Die erstere Klasse umfasst die allgemeine, die letztere die spezielle Hagada; zu jener gehören die gnomologischen Sammlungen und Sittenlehren, Fabeln und Gleichnisse, Sagen und historische Ausschmückungen, ferner in theilweiser Beziehung die sogenannte Geheimlehre und manche Anklänge an bestimmte Wissenschaften. Für die spezielle Hagada aber gibt zunächst die Schrift selbst Form und Grundlage. Die Phantasie und der Geist des Autors oder des Redners füllt mit den Anwendungen auf die Gegenwart den Inhalt aus; die Mittel dazu liefert ihm eben jene allgemeine Hagada, so dass die spezielle Hagada oder die eigentliche hagadische Auslegung als die Spitze und Summe aller einzelnen hagadischen Formen zu betrachten ist, und alle freigewordenen selbstständigeren Thätigkeiten wiederum gemeinschaftlich der Verherrlichung der Schrift dienen müssen.‘ (Gottesdienstliche Vorträge der Juden S$, 57—61.) Die Form und Einkleidung der agadischen Dichtungen ist, mit Ausnahme in den Gnomen, keine metrische, oder sonst schön in sich abgerundete, vielmehr rein prosaisch, und die wirklichen poetischen Anklänge, die sich hin und wieder in den Talmuden und Midraschim finden, sind zumeist im hebräischen Musivstile vorgetragen und als die ersten Vorläufer dieser in der mittelalterlichen neuhebräischen Poesie vorherrschend gewordenen Stilisation zu betrachten.
Aus: Polyglotte der orientalischen Poesie. Der poetische Orient, enthaltend die vorzüglichsten Dichtungen der Afghanen, Araber, Armenier, Chinesen, Hebräer (Althebräer, Agadisten, Neuhebräer), Javanesen, Inder, Kalmücken, Kurden, Madagassen, Malayen, Mongolen, Perser, Syrer, Tartaren, Tscherkessen, Türken, Yeziden etc. In metrischen Übersetzungen deutscher Dichter. Mit Einleitungen und Anmerkungen von Dr. H. Jolowicz. 2. veränd. Aufl. Leipzig: Otto Wigand, 1956,S. 287