Tonsprache, Wortsprache, Dichtkunst (Wagner)

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Die Tonsprache ist Anfang und Ende der Wortsprache, wie das Gefühl Anfang und Ende des Verstandes, der Mythos Anfang und Ende der Geschichte, die Lyrik Anfang und Ende der Dichtkunst ist. Die Vermittlerin zwischen Anfang und Mittelpunkt, wie zwischen diesem und dem Ausgangspunkte, ist die Phantasie.

Der Gang dieser Entwickelung ist aber ein solcher, daß er nicht eine Rückkehr, sondern ein Fortschritt bis zum Gewinn der höchsten menschlichen Fähigkeit ist und nicht nur von der Menschheit im allgemeinen, sondern von jedem sozialen Individuum dem Wesen nach durchschritten wird.

Wie im unbewußten Gefühle alle Keime zur Entwickelung des Verstandes, in diesem aber die Nötigung zur Rechtfertigung des unbewußten Gefühles liegt und erst der aus dem Verstande dieses Gefühl rechtfertigende Mensch der vernünftige Mensch ist; wie in dem durch die Geschichte, die auf gleiche Weise aus ihm entstand, gerechtfertigten Mythos erst das wirklich verständliche Bild des Lebens gewonnen wird: so enthält auch die Lyrik alle Keime der eigentlichen Dichtkunst, die endlich notwendig nur die Rechtfertigung der Lyrik aussprechen kann, und das Werk dieser Rechtfertigung ist eben das höchste menschliche Kunstwerk, das vollkommene Drama.

Das ursprünglichste Äußerungsorgan des innern Menschen ist aber die Tonsprache, als unwillkürlichster Ausdruck des von außen angeregten inneren Gefühles. Eine ähnliche Ausdrucksweise wie die, welche noch heute einzig den Tieren zu eigen ist, war jedenfalls auch die erste menschliche; und diese können wir uns jeden Augenblick ihrem Wesen nach vergegenwärtigen, sobald wir aus unserer Wortsprache die stummen Mitlauter ausscheiden und nur noch die tönenden Laute übriglassen. In diesen Vokalen, wenn wir sie uns von den Konsonanten entkleidet denken und in ihnen allein den mannigfaltigen und gesteigerten Wechsel innerer Gefühle nach ihrem verschiedenartigen, schmerzlichen oder freudvollen Inhalte kundgegeben vorstellen, erhalten wir ein Bild von der ersten Empfindungssprache der Menschen, in der sich das erregte und gesteigerte Gefühl gewiß nur in einer Fügung tönender Ausdruckslaute mitteilen konnte, die ganz von selbst als Melodie sich darstellen mußte. Diese Melodie, welche von entsprechenden Leibesgebärden in einer Weise begleitet wurde, daß sie selbst gleichzeitig wiederum nur als der entsprechende innere Ausdruck einer äußeren Kundgebung durch die Gebärde erschien, und deshalb auch von der wechselnden Bewegung dieser Gebärde ihr zeitliches Maß im Rhythmus – der Art entnahm, daß sie es dieser wieder als melodisch gerechtfertigtes Maß für ihre eigene Kundgebung zuführte –, diese rhythmische Melodie, die wir, im Betracht der unendlich größeren Vielseitigkeit des menschlichen Empfindungsvermögens gegenüber dem der Tiere, und namentlich auch deshalb, weil sie eben in der – keinem Tiere zu Gebote stehenden – Wechselwirkung zwischen dem inneren Ausdrucke der Stimme und dem äußeren der Gebärde [Fußnote] sich undenklich zu steigern vermag, mit Unrecht nach ihrer Wirkung und Schönheit gering anschlagen würden – diese Melodie war ihrer Entstehung und Natur nach von sich aus so maßgebend für den Wortvers, daß dieser in einem Grade aus ihr bedingt erscheint, der ihn geradeweges ihr unterordnete – was uns heute noch aus der genauen Betrachtung jedes echten Volksliedes einleuchtet, in welchem wir den Wortvers deutlich aus der Melodie bedingt erkennen, und zwar so, daß er sich den ihr eigentümlichsten Anordnungen, auch für den Sinn, oft vollkommen zu fügen hat.


Aus: Richard Wagner: Oper und Drama (1852) - Kapitel 19 [VI] . Stuttgart: Reclam 2000, S. (Online hier bei gutenberg.de)