Lyrik Lexikondefinitionen: Unterschied zwischen den Versionen

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=== Geschichtliche Entwickelung der Lyrik. ===
=== Geschichtliche Entwickelung der Lyrik. ===
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Die Anfänge der L. fallen zusammen mit den Anfängen lyrischer Gemütsstimmung. Das lyrische Gedicht ist nach '''Goethes''' Ausdruck das »Gelegenheitsgedicht«; aus der durch irgend einen Anlaß erzeugten lyrischen Gemütsstimmung bricht der bezeichnende, rhythmische Worterguß hervor. Die Volkslieder der '''Chinesen''' (Jagd-, Liebes-, Opfer-, Familienlieder etc.) in gereimten Versen reichen, im »'''Schi-King'''« gesammelt, bis anderthalb Jahrtausende vor Christo zurück und haben, dem Volksgeist entsprechend, vorzugsweise lehrhaften (moralischen) Charakter. In '''Ägypten''' finden sich Hymnen, die an die Psalmen erinnern, und Totenklagen (Manerosgesang: Klagelied der Isis um Osiris). Vorzugsweise lyrisch ist die Poesie der '''Hebräer''': für sie ist die äußere Welt nur da, insofern sie das Gemüt erregt; die Phantasie geht von der Verwandtschaft der Bilder aus, springt je nach der Ähnlichkeit von einem zum andern. Ihre Bilder sind einfach, aber großartig, blitzähnlich schlagend; ihre Begeisterung ist hinreißend, ekstatisch, enthusiastisch; ihr Objekt das Höchste, der Gott Israels und seine Weltleitung; das Verhältnis zu ihm nicht kontemplativ, sondern sympathetisch: Anruf, Lob, Dank, Verehrung, Furcht, Hoffnung und Zuversicht. Ihre äußere Form ist nach den Forschungen '''Robert Lowths''' (gest. 1787 als Bischof in London) u. a. im allgemeinen Parallelismus der einzelnen Versglieder. Neben der geistlichen (Psalmen Davids, Propheten) bestand eine weltliche didaktische (Salomos Spruchweisheit), Liebes- (das Hohelied Salomos) und Kriegslyrik (Israels Triumphlied am Schilfmeer, Siegeslied der Deborah). Die L. der '''Inder''' ist in der ältesten Zeit ausschließlich religiöse Liederdichtung (Hymnen des Rigweda); unter den später entwickelten Gattungen ist hervorzuheben die didaktische Spruchdichtung, die auch in das Epos und das Drama in ausgedehnter Weise Eingang gefunden hat, und eine stark sinnliche [2] Erotik, die besonders in der »Gitagowinda« des '''Dschajadewa''' einen typischen Ausdruck erhalten hat. Didaktisch in allegorischer Personifikation sind auch die ältesten Gesänge des »Avesta« des Zendvolkes in '''Iran'''. Bei den '''Griechen''' gelangen die seit alten Zeiten vorhandenen Elemente der L., wie naturgemäß, erst nach dem Zeitalter des Epos zu selbständiger Entwickelung, zunächst in der Form der den mannigfaltigsten Zwecken dienenden Elegie (s. d.) und der iambischen Dichtung. Mit dem Fortschreiten der namentlich durch '''Terpandros''' (um 670 v. Chr.) begründeten Entwickelung der besonders durch die Äoler und Dorer geübten Musik erhielt dann die eigentliche sogen. melische L. (von melos, Lied), das unter Musikbegleitung gesungene Lied, seine von den einfachsten, an die epische sich anschließenden Formen zur größten rhythmischen Mannigfaltigkeit führende Ausbildung in '''zwei Hauptgattungen''', der '''äolischen''' L., dem in wiederkehrenden Strophen gefaßten, zum Einzelvortrag bestimmten '''Lied''', und der '''dorischen''' oder '''chorischen''' L., dem meist nach Strophe und Antistrophe gegliederten, von einem Chor vorgetragenen Gesang, mit zahlreichen Gattungen (s. die Artikel »'''Dithyrambos, Epinikion, Epithalamion, Hymnos, Hyporchema, Päan, Prosodion, Threnos'''« u. a.). Als Muster der erstern galten '''Alkäos, Sappho, Anakreon''', der letztern '''Alkman, Stesichoros, Ibykos, Simonides, Pindar, Bakchylides'''. Seit der alexandrinischen Zeit diente wieder die Form der '''Elegie''' vorwiegend zum Ausdruck des lyrischen Empfindens. Bei den '''Römern''' sind die vorhandenen einheimischen Keime eigentlich lyrischer Dichtung unter dem Einfluß des Griechentums unentwickelt geblieben. Original ist ihnen nur die reflektierende Dichtungsart der durch '''Lucilius''' begründeten, von '''Horaz, Persius und Juvenal''' weitergebildeten '''Satire'''. Zu hoher Ausbildung gelangte bei ihnen als lyrische Form die den Griechen entlehnte '''Elegie''' durch '''Catull, Tibull, Properz und Ovid''' und das '''Epigramm''' durch '''Martial'''. Die Formen der äolischen Liederdichtung bürgerte '''Horaz''' ein, ohne jedoch das echt lyrische Gepräge des unmittelbaren Herzensergusses in den meisten Fällen zu erreichen. Die dorische L. hat bei den Römern keinen Boden gefunden.


Im Mittelalter entwickelte sich bei den '''islamitischen''' Völkern, '''Arabern''' und '''Neupersern''', eine eigentümliche L., die bei jenen mit Totenklagen, Schilderungen, Liebes- und Spottversen (Hamâsa, Amrilkais) begann, nach dem Vorbild des '''Korans''' sich als '''Spruchdichtung''' ('''Mutanabbi''') entfaltete, in Sizilien und Spanien insbes. als Liebeslyrik reiche Blüten trieb und nicht nur jüdischen, sondern auch christlichen Sängern zum Muster diente, bei diesen dagegen als mystische und moralisch-kontemplative Lehrdichtung (Dschelal ud Dîn Rumi, Saadi) sowie im Gegensatz dazu als sinnen- und lebensfrohe Wein- und Liebesdichtung (Hafis, Dschami) einen Reichtum künstlerischer lyrischer Formen schuf. Die christlichen Völker ('''Kelten, Germanen, Slawen''') brachten nicht nur aus den Zeiten des Heidentums die Gewohnheiten des Volksgesanges (keltisches, germanisches, slawisches Volkslied) mit, sondern entwickelten auch eine sowohl weltliche als geistliche L., die von der dem ganzen christlichen Europa gemeinsamen Kultur abhängig war. So stand die '''weltliche L.''' unter dem Einfluß des Rittertums sowie der während der Kämpfe mit den Mohammedanern in Spanien und im Orient herbeigeführten Bekanntschaft mit der arabischen L.; sie erblühte zunächst in der Provence und verbreitete sich von da aus über das ganze christliche Europa. Zu ihr gesellte sich die durch die Institution der katholischen Kirche getragene geistliche L., die doch durch den gemeinsamen Inhalt: Liebe und Kampflust, innig mit jener verwandt war. Mittelpunkt der erstern ist die weltliche (weltlicher Minnesang; Troubadoure, Minnesinger), der letztern die himmlische (geistlicher Minnesang; Marienlieder) Herrin (Madonna); der besungene Kampf entweder der Kampf gegen die Ungläubigen und unwürdigen Gläubigen (der Papst als Antichrist; Walter von der Vogelweide, Bertrand de Born) oder gegen die Sünde durch die Ausmalung der Schrecken des Weltgerichts (»Dies irae«, '''Thomas von Celano'''). Mit dem Verfall des Rittertums erstarrte durch einseitige Nachahmung der äußern metrischen Form der ritterliche Minnegesang in Deutschland zum handwerksmäßigen Meistergesang (Tabulatur; die Meistersinger), in Italien zum technisch gekünstelten Klinggesang (Sonett, Kanzone, Sestine, Triolett, Madrigal etc.; die Improvisatoren); jenem hauchte das '''Volkslied''' des Reformationszeitalters (Landknechtslieder, Lieder der fahrenden Schüler, Studentenlieder etc.), diesem der Humanismus der Renaissanceperiode (Petrarcas Laura-Sonette und patriotische Kanzonen; Michelangelos, Raffaels Sonette etc.) frisches (volkstümliches und antikes) Leben ein. Aus jenem erwuchs durch '''Luther''' im protestantischen Europa das (unübertroffene deutsche) evangelische '''Kirchenlied''', durch '''Goethe''' im goldenen Zeitalter der deutschen Literatur das klassische weltliche Lied; dieser, der Humanismus, legte den Grund zu der formvollendeten, aber innerlich kühlen rhetorischen '''Kunstlyrik''', wie sie bei den romanischen Völkern bis auf die neuere Zeit sich erhalten hat, und der die römischen Lyriker (insbes. Horaz) zum Vorbild gedient haben. Neben ihr haben in '''Frankreich''' vor der Revolution Ronsard, der Hauptdichter der sogen. Plejade, I. B. Rousseau u. a. nach römischem, André Chénier nach griechischem Muster als Odendichter, Boileau nach dem Muster des Horaz als Satiriker und Epistolograph, Voltaire als Meister in der sogen. poésie fugitive Ruf erlangt. Seit der Revolution gelten der »Vater der Chanson«, Béranger, die Romantiker: Lamartine, V. Hugo, die »Gottlosen«: A. de Musset, A. de Vigny, die Propheten der sozialen Reformation: H. Murger, Luise Ackermann (die »Sängerin des Positivismus«), die formvollendeten Parnassiens: Th. Gautier, Th. de Banville, Leconte de Lisle, Sully-Prudhomme, Coppée, ferner Aicard, Theuriet, Hérédia, Baudelaire, Richepin, Verlaine u. a. als Frankreichs bedeutendste Lyriker. Unter den '''Italienern''' haben sich Metastasio, V. Monti, U. Foscolo, I. Pindemonte, der schwermütige Leopardi, Giusti, Prati, Carducci u. a. ausgezeichnet. Auf die reflektierenden '''englischen''' Lyriker des 18. Jahrh., die aus französischer Schule entsprossen waren (Pope, Gay, Thomson u. a.), folgte zunächst die sentimentale Richtung des Gray, Collins, Akenside, worauf sich auf nationaler Basis neue, volkstümliche Liederdichter erhoben: zuerst Burns in Schottland, dann Coleridge, Wordsworth und Southey (die sogen. Seedichter, weil sie sich mit Vorliebe an den Seen Nordwestenglands aufhielten) in England, endlich Th. Moore in Irland. Nachahmer und zugleich politische Gegner dieser Männer waren die Kosmopoliten Byron und Shelley, denen dafür Southey den Namen »satanische Schule« aufbrachte. Als Epigonen sind dann in England Tennyson, Browning und Swinburne zu betrachten und in Amerika E. Poe, Longfellow, Bryant u. a. Originelle Töne fanden in moderner Zeit wieder Bret Harte in Kalifornien und Gordon in Australien. In [3] '''Deutschland''' sind auf die frommen Liederdichter des 16. und 17. Jahrh. (P. Gerhardt, S. Dach, P. Fleming u. a.) die barocken Pegnitzschäfer, die schlesischen Dichter (der talentvolle Liederdichter Günther, der Epigrammatiker Logau), die Didaktiker (Brockes, Haller), Satiriker (Canitz) und moralischen Fabeldichter (Gellert), die Seraphiker (Klopstock) und Anakreontiker (Gleim, Uz, Göz), die patriotischen und realistischen Dichter (Göttinger Dichterbund, Bürgers Molly-Lieder), Goethe und Schiller, jener als klassisches Muster in allen Gattungen der niedern, dieser als unerreichter Meister im weltlich-kontemplativen Genre der höhern L., gefolgt. Nach ihnen haben sich die Romantiker vorzüglich als Übersetzer und Nachahmer romanischer L., Mystiker, wie Novalis-Hardenberg, als geistliche Liederdichter, Patrioten, wie Körner, Arndt, Schenkendorf, Rückert u. a., als politische, der (wie Rückert) sprachgewaltige Platen als Odendichter hervorgetan, während die schwäbischen Poeten (Uhland, Kerner), W. Müller u. a. als Sänger der Liebe und des Frühlings, Bodenstedt (»Lieder des Mirza Schaffy«) u. a. durch anmutige Reflexion und kunstvolle orientalische Formen sich auszeichneten. Unter dem Einfluß Lord Byrons sowie des Volksliedes und Goethes steht die pikante und anmutige L. Heines, unter dem Einfluß der Julirevolution die politische L. (A. Grün, Lenau, Freiligrath, Herwegh u. a.), während E. Geibel bei manchen epigonenhaften Zügen norddeutsche Gemütsinnerlichkeit und kernigen Patriotismus verrät, V. Scheffel mit Heineschen Formen einen gesunden Lebensmut verbindet und R. Baumbach u. a. aus dem humoristisch angehauchten Volksgesang eine neue L. des »fahrenden Spielmanns« zurückrufen. Einen bedeutenden Aufschwung nahm die deutsche L. seit den 1880er Jahren, namentlich durch D. v. Liliencrons lebensvolle Gesänge, daneben durch G. Falke, R. Dehmel, St. George u. a., die freilich zum Teil einem dekadenten Symbolismus verfielen. Die '''skandinavischen''' Völker haben in dem Dänen Öhlenschläger, den Schweden E. Tegnér und Atterbom, dem Norweger Ibsen, die '''slawischen''' Völker in dem Russen Puschkin, den Polen Mickiewicz und Krasinski, die Tschechen in Čelakovsky, Kollár und Macha, die Südslawen in Gaj, die '''Magyaren''' in Alexander Petöfi bedeutende lyrische Talente aufzuweisen. Vgl. über L. die Werke über Ästhetik von Carriere, Vischer, R. Zimmermann; ferner R. M. Werner, L. und Lyriker (Hamb. 1890); Carriere, Die Kunst im Zusammenhang der Kulturentwickelung (3. Aufl., Leipz. 1876–86, 5 Bde.); E. Geiger, Beiträge zu einer Ästhetik der L. (Halle 1905).

Die Anfänge der L. fallen zusammen mit den Anfängen lyrischer Gemütsstimmung. Das lyrische Gedicht ist nach Goethes Ausdruck das »Gelegenheitsgedicht«; aus der durch irgend einen Anlaß erzeugten lyrischen Gemütsstimmung bricht der bezeichnende, rhythmische Worterguß hervor. Die Volkslieder der Chinesen (Jagd-, Liebes-, Opfer-, Familienlieder etc.) in gereimten Versen reichen, im »Schi-King« gesammelt, bis anderthalb Jahrtausende vor Christo zurück und haben, dem Volksgeist entsprechend, vorzugsweise lehrhaften (moralischen) Charakter. In Ägypten finden sich Hymnen, die an die Psalmen erinnern, und Totenklagen (Manerosgesang: Klagelied der Isis um Osiris). Vorzugsweise lyrisch ist die Poesie der Hebräer: für sie ist die äußere Welt nur da, insofern sie das Gemüt erregt; die Phantasie geht von der Verwandtschaft der Bilder aus, springt je nach der Ähnlichkeit von einem zum andern. Ihre Bilder sind einfach, aber großartig, blitzähnlich schlagend; ihre Begeisterung ist hinreißend, ekstatisch, enthusiastisch; ihr Objekt das Höchste, der Gott Israels und seine Weltleitung; das Verhältnis zu ihm nicht kontemplativ, sondern sympathetisch: Anruf, Lob, Dank, Verehrung, Furcht, Hoffnung und Zuversicht. Ihre äußere Form ist nach den Forschungen Robert Lowths (gest. 1787 als Bischof in London) u. a. im allgemeinen Parallelismus der einzelnen Versglieder. Neben der geistlichen (Psalmen Davids, Propheten) bestand eine weltliche didaktische (Salomos Spruchweisheit), Liebes- (das Hohelied Salomos) und Kriegslyrik (Israels Triumphlied am Schilfmeer, Siegeslied der Deborah). Die L. der Inder ist in der ältesten Zeit ausschließlich religiöse Liederdichtung (Hymnen des Rigweda); unter den später entwickelten Gattungen ist hervorzuheben die didaktische Spruchdichtung, die auch in das Epos und das Drama in ausgedehnter Weise Eingang gefunden hat, und eine stark sinnliche [2] Erotik, die besonders in der »Gitagowinda« des Dschajadewa einen typischen Ausdruck erhalten hat. Didaktisch in allegorischer Personifikation sind auch die ältesten Gesänge des »Avesta« des Zendvolkes in Iran. Bei den Griechen gelangen die seit alten Zeiten vorhandenen Elemente der L., wie naturgemäß, erst nach dem Zeitalter des Epos zu selbständiger Entwickelung, zunächst in der Form der den mannigfaltigsten Zwecken dienenden Elegie (s. d.) und der iambischen Dichtung. Mit dem Fortschreiten der namentlich durch Terpandros (um 670 v. Chr.) begründeten Entwickelung der besonders durch die Äoler und Dorer geübten Musik erhielt dann die eigentliche sogen. melische L. (von melos, Lied), das unter Musikbegleitung gesungene Lied, seine von den einfachsten, an die epische sich anschließenden Formen zur größten rhythmischen Mannigfaltigkeit führende Ausbildung in zwei Hauptgattungen, der äolischen L., dem in wiederkehrenden Strophen gefaßten, zum Einzelvortrag bestimmten Lied, und der dorischen oder chorischen L., dem meist nach Strophe und Antistrophe gegliederten, von einem Chor vorgetragenen Gesang, mit zahlreichen Gattungen (s. die Artikel »Dithyrambos, Epinikion, Epithalamion, Hymnos, Hyporchema, Päan, Prosodion, Threnos« u. a.). Als Muster der erstern galten Alkäos, Sappho, Anakreon, der letztern Alkman, Stesichoros, Ibykos, Simonides, Pindar, Bakchylides. Seit der alexandrinischen Zeit diente wieder die Form der Elegie vorwiegend zum Ausdruck des lyrischen Empfindens. Bei den Römern sind die vorhandenen einheimischen Keime eigentlich lyrischer Dichtung unter dem Einfluß des Griechentums unentwickelt geblieben. Original ist ihnen nur die reflektierende Dichtungsart der durch Lucilius begründeten, von Horaz, Persius und Juvenal weitergebildeten Satire. Zu hoher Ausbildung gelangte bei ihnen als lyrische Form die den Griechen entlehnte Elegie durch Catull, Tibull, Properz und Ovid und das Epigramm durch Martial. Die Formen der äolischen Liederdichtung bürgerte Horaz ein, ohne jedoch das echt lyrische Gepräge des unmittelbaren Herzensergusses in den meisten Fällen zu erreichen. Die dorische L. hat bei den Römern keinen Boden gefunden.
Im Mittelalter entwickelte sich bei den islamitischen Völkern, Arabern und Neupersern, eine eigentümliche L., die bei jenen mit Totenklagen, Schilderungen, Liebes- und Spottversen (Hamâsa, Amrilkais) begann, nach dem Vorbild des Korans sich als Spruchdichtung (Mutanabbi) entfaltete, in Sizilien und Spanien insbes. als Liebeslyrik reiche Blüten trieb und nicht nur jüdischen, sondern auch christlichen Sängern zum Muster diente, bei diesen dagegen als mystische und moralisch-kontemplative Lehrdichtung (Dschelal ud Dîn Rumi, Saadi) sowie im Gegensatz dazu als sinnen- und lebensfrohe Wein- und Liebesdichtung (Hafis, Dschami) einen Reichtum künstlerischer lyrischer Formen schuf. Die christlichen Völker (Kelten, Germanen, Slawen) brachten nicht nur aus den Zeiten des Heidentums die Gewohnheiten des Volksgesanges (keltisches, germanisches, slawisches Volkslied) mit, sondern entwickelten auch eine sowohl weltliche als geistliche L., die von der dem ganzen christlichen Europa gemeinsamen Kultur abhängig war. So stand die weltliche L. unter dem Einfluß des Rittertums sowie der während der Kämpfe mit den Mohammedanern in Spanien und im Orient herbeigeführten Bekanntschaft mit der arabischen L.; sie erblühte zunächst in der Provence und verbreitete sich von da aus über das ganze christliche Europa. Zu ihr gesellte sich die durch die Institution der katholischen Kirche getragene geistliche L., die doch durch den gemeinsamen Inhalt: Liebe und Kampflust, innig mit jener verwandt war. Mittelpunkt der erstern ist die weltliche (weltlicher Minnesang; Troubadoure, Minnesinger), der letztern die himmlische (geistlicher Minnesang; Marienlieder) Herrin (Madonna); der besungene Kampf entweder der Kampf gegen die Ungläubigen und unwürdigen Gläubigen (der Papst als Antichrist; Walter von der Vogelweide, Bertrand de Born) oder gegen die Sünde durch die Ausmalung der Schrecken des Weltgerichts (»Dies irae«, Thomas von Celano). Mit dem Verfall des Rittertums erstarrte durch einseitige Nachahmung der äußern metrischen Form der ritterliche Minnegesang in Deutschland zum handwerksmäßigen Meistergesang (Tabulatur; die Meistersinger), in Italien zum technisch gekünstelten Klinggesang (Sonett, Kanzone, Sestine, Triolett, Madrigal etc.; die Improvisatoren); jenem hauchte das Volkslied des Reformationszeitalters (Landknechtslieder, Lieder der fahrenden Schüler, Studentenlieder etc.), diesem der Humanismus der Renaissanceperiode (Petrarcas Laura-Sonette und patriotische Kanzonen; Michelangelos, Raffaels Sonette etc.) frisches (volkstümliches und antikes) Leben ein. Aus jenem erwuchs durch Luther im protestantischen Europa das (unübertroffene deutsche) evangelische Kirchenlied, durch Goethe im goldenen Zeitalter der deutschen Literatur das klassische weltliche Lied; dieser, der Humanismus, legte den Grund zu der formvollendeten, aber innerlich kühlen rhetorischen Kunstlyrik, wie sie bei den romanischen Völkern bis auf die neuere Zeit sich erhalten hat, und der die römischen Lyriker (insbes. Horaz) zum Vorbild gedient haben. Neben ihr haben in Frankreich vor der Revolution Ronsard, der Hauptdichter der sogen. Plejade, I. B. Rousseau u. a. nach römischem, André Chénier nach griechischem Muster als Odendichter, Boileau nach dem Muster des Horaz als Satiriker und Epistolograph, Voltaire als Meister in der sogen. poésie fugitive Ruf erlangt. Seit der Revolution gelten der »Vater der Chanson«, Béranger, die Romantiker: Lamartine, V. Hugo, die »Gottlosen«: A. de Musset, A. de Vigny, die Propheten der sozialen Reformation: H. Murger, Luise Ackermann (die »Sängerin des Positivismus«), die formvollendeten Parnassiens: Th. Gautier, Th. de Banville, Leconte de Lisle, Sully-Prudhomme, Coppée, ferner Aicard, Theuriet, Hérédia, Baudelaire, Richepin, Verlaine u. a. als Frankreichs bedeutendste Lyriker. Unter den Italienern haben sich Metastasio, V. Monti, U. Foscolo, I. Pindemonte, der schwermütige Leopardi, Giusti, Prati, Carducci u. a. ausgezeichnet. Auf die reflektierenden englischen Lyriker des 18. Jahrh., die aus französischer Schule entsprossen waren (Pope, Gay, Thomson u. a.), folgte zunächst die sentimentale Richtung des Gray, Collins, Akenside, worauf sich auf nationaler Basis neue, volkstümliche Liederdichter erhoben: zuerst Burns in Schottland, dann Coleridge, Wordsworth und Southey (die sogen. Seedichter, weil sie sich mit Vorliebe an den Seen Nordwestenglands aufhielten) in England, endlich Th. Moore in Irland. Nachahmer und zugleich politische Gegner dieser Männer waren die Kosmopoliten Byron und Shelley, denen dafür Southey den Namen »satanische Schule« aufbrachte. Als Epigonen sind dann in England Tennyson, Browning und Swinburne zu betrachten und in Amerika E. Poe, Longfellow, Bryant u. a. Originelle Töne fanden in moderner Zeit wieder Bret Harte in Kalifornien und Gordon in Australien. In [3] Deutschland sind auf die frommen Liederdichter des 16. und 17. Jahrh. (P. Gerhardt, S. Dach, P. Fleming u. a.) die barocken Pegnitzschäfer, die schlesischen Dichter (der talentvolle Liederdichter Günther, der Epigrammatiker Logau), die Didaktiker (Brockes, Haller), Satiriker (Canitz) und moralischen Fabeldichter (Gellert), die Seraphiker (Klopstock) und Anakreontiker (Gleim, Uz, Göz), die patriotischen und realistischen Dichter (Göttinger Dichterbund, Bürgers Molly-Lieder), Goethe und Schiller, jener als klassisches Muster in allen Gattungen der niedern, dieser als unerreichter Meister im weltlich-kontemplativen Genre der höhern L., gefolgt. Nach ihnen haben sich die Romantiker vorzüglich als Übersetzer und Nachahmer romanischer L., Mystiker, wie Novalis-Hardenberg, als geistliche Liederdichter, Patrioten, wie Körner, Arndt, Schenkendorf, Rückert u. a., als politische, der (wie Rückert) sprachgewaltige Platen als Odendichter hervorgetan, während die schwäbischen Poeten (Uhland, Kerner), W. Müller u. a. als Sänger der Liebe und des Frühlings, Bodenstedt (»Lieder des Mirza Schaffy«) u. a. durch anmutige Reflexion und kunstvolle orientalische Formen sich auszeichneten. Unter dem Einfluß Lord Byrons sowie des Volksliedes und Goethes steht die pikante und anmutige L. Heines, unter dem Einfluß der Julirevolution die politische L. (A. Grün, Lenau, Freiligrath, Herwegh u. a.), während E. Geibel bei manchen epigonenhaften Zügen norddeutsche Gemütsinnerlichkeit und kernigen Patriotismus verrät, V. Scheffel mit Heineschen Formen einen gesunden Lebensmut verbindet und R. Baumbach u. a. aus dem humoristisch angehauchten Volksgesang eine neue L. des »fahrenden Spielmanns« zurückrufen. Einen bedeutenden Aufschwung nahm die deutsche L. seit den 1880er Jahren, namentlich durch D. v. Liliencrons lebensvolle Gesänge, daneben durch G. Falke, R. Dehmel, St. George u. a., die freilich zum Teil einem dekadenten Symbolismus verfielen. Die skandinavischen Völker haben in dem Dänen Öhlenschläger, den Schweden E. Tegnér und Atterbom, dem Norweger Ibsen, die slawischen Völker in dem Russen Puschkin, den Polen Mickiewicz und Krasinski, die Tschechen in Čelakovsky, Kollár und Macha, die Südslawen in Gaj, die Magyaren in Alexander Petöfi bedeutende lyrische Talente aufzuweisen. Vgl. über L. die Werke über Ästhetik von Carriere, Vischer, R. Zimmermann; ferner R. M. Werner, L. und Lyriker (Hamb. 1890); Carriere, Die Kunst im Zusammenhang der Kulturentwickelung (3. Aufl., Leipz. 1876–86, 5 Bde.); E. Geiger, Beiträge zu einer Ästhetik der L. (Halle 1905).


Quelle:
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http://www.zeno.org/nid/20007028660
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== Kirchner/Michaëlis: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe 1907 ==
== Kirchner/Michaëlis: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe 1907 ==
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== Der Sprach-Brockhaus 1940 ==


die '''Lyrik, -, lyrische Dichtung''', Gefühlsdichtung, besonders die liedhafte Dichtung, dann auch Balladen und Gedankendichtung. der '''Lyriker''', -s/-, Dichter von L. '''lyrisch''', empfindungsweich, stimmungsvoll, dichterisch gefühlserfüllt. [griech.; von: Lyra]

Quelle: Der Sprach-Brockhaus. Deutsches Bildwörterbuch für jedermann. 4., verbess. Aufl. Leipzig: Brockhaus, 1940





Aktuelle Version vom 16. Januar 2022, 16:24 Uhr



Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart 1798

Poesie, die

[799] Die Poesīe, (dreysylbig,) plur. die Poesīen, (viersylbig,) aus dem Griech. und Lat. Poesis. 1) Die Fertigkeit, ein Gedicht zu verfertigen, ohne Plural; die Dichtkunst, welches jetzt in der anständigern Sprechart üblicher ist. 2) Ein Gedicht; auch nur noch im gemeinen Leben.

Quelle: Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Band 3. Leipzig 1798, S. 799. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20000361267


Brockhaus Conversations-Lexikon 1809

Die lyrische Poesie

[448] Die lyrische Poesie (Dichtkunst) begreift diejenigen Gedichte, in welchen der Dichter in seiner eignen Person leidenschaftliche Zustände und Empfindungen darstellt. Hierunter gehören die Ode (wovon die Hymne ein Zweig ist), das Lied und die Elegie.

Quelle: Brockhaus Conversations-Lexikon Bd. 2. Amsterdam 1809, S. 448. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20000758663


Brockhaus 1815

Lyrik


Lyrik, lyrische Poesie ist diejenige Gattung der Poesie (oder Dichtungsart), durch welche der Dichter sein inneres Leben im Zustande des bewegten Gefühls unmittelbar darstellt. Dadurch daß in derselben das Gefühl das Herrschende ist, ist sie von der dramatischen Poesie, in welcher die Anschauung zu einem von dem Innern des Dichters verschiedenen Leben selbstständig ausgebildet ist, und von der epischen verschieden, welche in ihren vollendetsten Werken, einen umfassenden Kreis von Handlungen in einer anschaulichen Begebenheit als von dem Dichter angeschaut, darstellt, und beides, Gefühl und Anschauung, im vollen Gleichgewicht enthält. Verglichen mit Epos und Drama ist das lyrische Gedicht das beschränkteste, denn das Gefühl ist beschränkt auf den Moment der Gegenwart, aber um desto tiefer, voller und mächtiger spricht es das Gemüth an. Was der lyrische Dichter giebt, giebt er als sein eigenes Inneres, weshalb man auch die lyrische Poesie die subjective, im Gegensatz der übrigen Dichtungsarten, genannt hat. Auch heißt daher im weitern Sinne jede Darstellung lyrisch, welche nicht sowol die Gegenstände des Gefühls, wie sie erscheinen, als vielmehr den subjectiven Zustand, oder wenigstens die Gegenstände durch den Eindruck schildert, welchen sie auf das Gemüth hervorbringen. Indem aber die lyrische Dichtkunst das Gefühl am unmittelbarsten durch die Sprache ausdruckt, nähert sie sich der Tonkunst, welche das Gefühl durch Töne und ihre Verbindung am reinsten darstellt; daher auch die griechische Lyrik von λυρα , womit man Gedichte bezeichnete, die zur Lyra gesungen werden konnten. Obgleich nun in der lyrischen Dichtkunst sich alles in Gefühle auflöset, und zum Gefühle wird, so ist doch selbst ein lebhaftes Gefühl dem lyrischen Dichter nicht hinreichend, und nicht jeder Ausdruck desselben ein lyrisches Gedicht, wie so viele meinen, welche sich deshalb für die lyrische Poesie am meisten geeignet glauben. Ueberhaupt hat man den auf das Wesen der lyrischen Poesie gegründeten Satz: die lyrische Poesie soll das innere Leben und Gefühl des Dichters (d.i. das harmonische, poetische Gefühl) darstellen, von jeher in die falsche Behauptung umgekehrt, der lyrische Dichter (wofür sich jeder hält, der mit einiger Leichtigkeit im Gebrauch der poetischen Sprache ein lebhaftes Gefühl verbindet, oder irgend einmal ein lebhaftes Gefühl hat) solle sein subjectives Leben oder sein Gefühl darstellen. Es fragt sich also, in wiefern ist das Gefühl poetisch zu nennen? Ein solches muß, zufolge der Natur des Kunstwerks, in sich selbst harmonisch, und nicht nur würdig seyn in der Sprache aufbewahrt [870] zu werden, sondern sich auch durch eigenthümlichen und schönen Lauf der Rede, und in einer reichen Mannichfaltigkeit von Gedanken und Bildern selbstständig aussprechen. Durch ersteres wird gefordert, daß ein bestimmtes Gefühl das herrschende sey, gleichsam der Grundton, aus welchem sich die Empfindungsreihe entwickelt, und daß es nichts Widerstreitendes in sich enthalte, was mit der zum Grunde liegenden Stimmung unvereinbar wäre, daß mithin auch das Gefühl des Gegenstandes, welcher es veranlaßt hat, würdig, demselben sowol der Art, als dem Grade nach entsprechend, (nicht matt oder überspannt) sey, eine Reihe von Anschauungen hervorruft, welche dazu dienen, die innere Stimmung zu schildern, und daß das Gefühl den durch die Sprache dargestellten Gedanken ganz durchdringe. Dieses Gefühl in allen anschaulichen Beziehungen des Gedankens auszudrücken, dasselbe in der Bewegung der Worte (Rhythmus), und ihrem entsprechenden Klange gleichsam äußerlich zu machen und entsprechend darzustellen, so daß es nicht bloß das Gefühl des Einzelnen ist, sondern als das Gefühl des vollendeten Menschen erscheint, ist nur dem Genius möglich, und man kann in dieser Beziehung das lyrische Gedicht die in der Sprache festgehaltene Stimmung des geniellen Dichters, als solchen nennen; daher auch nichts so sehr, als eine Reihe, oder eine Sammlung lyrischer Gedichte das innere Leben eines Dichters schildert. Aus der Natur des Gefühls ergiebt sich der beschränktere Umfang des lyrischen Gedichtes, so wie der Wechsel und die größte Mannichfaltigkeit des Styls und Rhythmus, welche sich in den tausendfältigen lyrischen Versarten, in der kühnern Gedankenverbindung und in der Eigenthümlichkeit lyrischer Bilder an den Tag legt. So mannichfaltig sich nun das Gefühl poetisch äußern kann, so mannichfaltig ist das lyrische Gedicht; zunächst aber offenbart sich das Gefühl und am reinsten in der Gegenwart; wenn es als Vergangenes durch die Reflexion modificirt erscheint. Hiernach könnte man die Lyrik in die reinlyrische Poesie, wozu der Hymnus (bei uns größtentheils eine religiöse Ode), die Ode und das Lied gehören, an welche sich mehrere poetische Formen der Italiener und Spanier anschließen, und in die elegische eintheilen, an welche sich das Epigramm im Sinne der Griechen, und mehrere sogenannte didactische Gedichte anschließen. Siehe hierüber die besondern Artikel.

Aus: Conversations-Lexicon oder Hand-Wörterbuch für die gebildeten Stände über die in der gesellschaftlichen Unterhaltung und bei der Lectüre vorkommenden Gegenstände, Namen und Begriffe in Beziehung auf Völker- und Menschengeschichte; Politik und Diplomatik; Mythologie und Archäologie; Erd-, Natur-, Gewerb- und Handlungs-Kunde; die schönen Künste und Wissenschaften: mit Einschluß der in die Umgangssprache übergegangenen ausländischen Wörter und mit besonderer Rücksicht auf die älteren und neuesten merkwürdigen Zeitereignisse. Zweite, ganz umgearbeitete Auflage. Fünfter Band: Von J bis L. Leipzig und Altenburg: Brockhaus 1815, S. 869-870


Brockhaus 1835

Lyrik


Lyrik und lyrische Poesie heißt diejenige Gattung der Poesie, durch [789] welche der Dichter sein inneres Leben im Zustande des bewegten Gefühls unmittelbar darstellt. Dadurch, daß in derselben das Gefühl das Herrschende ist, ist sie von der dramatischen Poesie, in welcher die Anschauung zu einem von dem Innern des Dichters verschiedenen Leben selbständig ausgebildet ist, und von der epischen verschieden, welche in ihren vollendetsten Werken einen umfassenden Kreis der Handlungen in einer anschaulichen Begebenheit, als von dem Dichter angeschaut, darstellt, und beides, Gefühl und Anschauung, noch in vollem Gleichgewichte enthält. Verglichen mit Epos und Drama, ist das lyrische Gedicht das beschränkteste, denn das Gefühl ist beschränkt auf den Augenblick der Gegenwart, aber um desto tiefer, voller und mächtiger spricht es das Gemüth an. Was der lyrische Dichter gibt, gibt er als sein eignes Innere, weshalb man auch die lyrische Poesie die subjective, im Gegensatze der übrigen Dichtungsarten, genannt hat. Auch heißt daher im weitern Sinne jede Darstellung lyrisch, welche nicht sowol die Gegenstände des Gefühls, wie sie an sich erscheinen, als vielmehr den subjectiven Zustand, oder wenigstens die Gegenstände durch den Eindruck schildert, welchen sie auf das Gemüth hervorbringen. Indem aber die lyrische Dichtkunst das Gefühl am unmittelbarsten durch die Sprache ausdrückt, nähert sie sich der Tonkunst, welche das Gefühl durch Töne und deren Verbindung am reinsten darstellt; daher auch die griech. Lyrik von der Lyra ihren Namen hat und Gedichte bezeichnet, die zur Lyra gesungen werden konnten. Obgleich nun in der lyrischen Dichtkunst sich Alles im Gefühle auflöst und zum Gefühle wird, so ist doch nicht jeder Ausdruck des lebhaften Gefühls in Versen ein lyrisches Gedicht zu nennen. Überhaupt hat man den auf das Wesen der lyrischen Poesie gegründeten Satz: die lyrische Poesie soll das innere Leben und Gefühl des Dichters, d.i. das harmonische, poetische Gefühl darstellen, von jeher in die falsche Behauptung umgekehrt, der lyrische Dichter solle sein subjectives Leben oder sein Gefühl darstellen. Es fragt sich also, inwiefern ist das Gefühl poetisch zu nennen? Ein solches muß, zufolge der Natur des Kunstwerks, in sich selbst harmonisch und würdig sein, in eigenthümlicher und schöner Rede sich selbständig auszusprechen. Durch Ersteres wird gefodert, daß ein bestimmtes Gefühl das herrschende sei, aus welchem sich die Empfindungsreihe entwickelt, und daß es nichts Widerstreitendes in sich enthalte, was mit der zum Grunde liegenden Stimmung unvereinbar wäre, daß es mithin des Gegenstandes, welcher es veranlaßte, würdig, demselben sowol der Art als dem Grade nach entsprechend sei, eine Reihe von Anschauungen hervorrufe, welche dazu dienen, die innere Stimmung zu schildern, und daß es den durch die Sprache dargestellten Gedanken ganz durchdringe. Dieses Gefühl aber in allen anschaulichen Beziehungen des Gedankens auszudrücken, dasselbe in der Bewegung der Worte (Rhythmus) und ihrem entsprechenden Klange gleichsam äußerlich zu machen und entsprechend darzustellen, sodaß es nicht blos als das Gefühl des Einzelnen, sondern als das Gefühl des vollendeten Menschen erscheine, ist nur dem Genius möglich, und man kann in dieser Beziehung das lyrische Gedicht die in der Sprache festgehaltene Stimmung des genialen Dichters als eines solchen nennen. Aus der Natur des Gefühls ergibt sich der beschränktere Umfang des lyrischen Gedichts, sowie der Wechsel und die große Mannichfaltigkeit des Styls und Rhythmus, welche sich in den tausendfältigen lyrischen Versarten, in der kühnern Gedankenverbindung und in der Eigenthümlichkeit lyrischer Bilder an den Tag legt. So mannichfaltig sich das Gefühl poetisch äußern kann, so mannichfaltig ist das lyrische Gedicht; zunächst aber offenbart sich das Gefühl, und am reinsten in der Gegenwart; mittelbarer, wenn es als Vergangenes durch die Erinnerung modificirt erscheint. Hiernach könnte man die Lyrik in die rein lyrische Poesie, wozu der Hymnus (bei uns größtentheils eine religiöse Ode), die Ode und das Lied gehören, an welche sich mehre metrische Formen der Italiener und Spanier (Sonette, Canzonen, Sestinen, Glossen u.s.w.) anschließen, und in die elegische eintheilen, zu welcher das [790] Epigramm im Sinne der Griechen, und mehre sogenannte didaktische Gedichte gehören. Von dem Begriffe der Lyrik ist der abgeleitete Begriff des Lyrischen zu unterscheiden, durch welchen man eine Behandlung bezeichnet, welche weniger aus dem gegebenen Stoffe als aus der subjectiven Auffassung hervorgeht.

Aus: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. (Conversations-Lexikon.) In zwölf Bänden. Achte Originalauflage. Sechster Band: K bis Lz. Leipzig: Brockhaus 1835, S. 788-790


Damen Conversations Lexikon 1836

Lyrik

[459] Lyrik, lyrische Poesie. Der Dichter gibt im lyrischen Gedichte sein eigenes Inneres, und man hat sonach in einer Reihe lyrischer Gedichte den Charakter eines Dichters wie in einem großen Bilde vor sich. Die lyrische Poesie unterscheidet sich also von der dramatischen und epischen vor Allem dadurch, daß in ihr das persönliche Gefühl vorherrscht, während sich im Drama der Dichter[459] selbst verläugnet und die Personen nicht nach seiner, sondern nach der aus ihrem Charakter entwickelten Ueberzeugung sprechen läßt und im Epos die Begebenheiten nur erzählt. Das lyrische Gedicht ist deßhalb, weil es auf das persönliche Gefühl und auf einen Moment beschränkt ist, das gebundenste. Indessen, obschon sich im lyrischen Gedichte Alles in Gefühl auflöst, so erzeugt doch erst das poetische Gefühl ein lyrisches Gedicht. Es muß dieses Gefühl zunächst ein des Sanges würdiges sein, in sich abgeschlossen, und muß sich anschaulich machen in einer schönen Reihe bildlicher Ideen. Die durch die bildliche Sprache festgehaltene Stimmung des Dichters muß auch die des Lesers oder Hörers erwecken; darum darf durch das lyrische Gedicht jedes Mal nur ein eigenthümliches Gefühl herrschen, das aber, wie in einer Variation das Thema, das Motiv, durch manche Wendungen den Weg zum Herzen suchen kann. Aus der Natur des Gefühls ergibt sich, daß der Umfang eines lyrischen Gedichtes ein beschränkter sei. So mannichfaltig das Gefühl sich in uns äußert, so reichhaltig an Ideen ist das Gedicht, und es offenbart dasselbe in tausend Weisen und Arten. Jetzt, im Kummer, geht der wahre Dichter geradezu auf das Herz selbst und fordert es in einfachem Tone zum Mitleiden auf; jetzt reißt ihn sein Schmerz über das Gebiet gewöhnlicher Eindrücke hinaus und er gibt ihn kund durch Bilder der zürnenden, zerstörenden Natur; jetzt führt ihn Wehmuth in ein Thal, und das Schweigen der Gegend deutet er mit der sanften Klage der Nachtigall; oder er fliegt in seiner Luft in den Aether, auf den Gipfel eines wolkentragenden Felsen, von dem herab er der Welt seine Wonne zujauchzt, oder er leiht sich vom Frühlinge Blüthen und Blumen und windet sie zum zarten, duftigen Kranze. – So wird das lyrische Gedicht. Es muß aufregen, entzücken und beruhigen; denn dieß ist der Zweck aller Kunst. Alle jene poetischen Darstellungen also eines bestimmten Seelenzustandes sind lyrische Gedichte. Man nennt ferner auch jeden leidenschaftlichen[460] Erguß der Rede im Drama und Epos eine lyrische Rolle, nur daß der Dichter selbst dann noch Rücksicht nimmt auf den Charakter der sprechenden Person. Des lyrischen Gedichtes Quelle ist das Herz, und dieses borgt von der Phantasie den Zauber der Einkleidung. So vieler besondern Regungen das Gefühl fähig ist, so viele lyrische Arten sind möglich, also zahllose; indessen hat man doch verschiedene bestimmte Formen dafür. Siehe Hymne, Ode, Lied, Sonett etc B–l.

Quelle: Damen Conversations Lexikon, Band 6. [o.O.] 1836, S. 459-461. Permalink: http://www.zeno.org/nid/2000174772X


Brockhaus 1838

Lyrik

[792] Lyrik nennt man diejenige Dichtungsart, in welcher das bei irgend einer Wahrnehmung unmittelbar erregte Gefühl in würdiger, doch diesem Gefühl natürlich angemessener Sprache dargestellt wird. Insofern als sie eben nur die unmittelbare Empfindung gibt, ist sie diejenige Dichtart, welche am meisten Verwandtschaft mit der Musik (s.d.) hat. Da das lyrische Gedicht, von der Stimmung eines Einzelnen, des Dichtenden, ausgeht und meist keinen bestimmten, sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand in die Vorstellung bringt, so nennt man die lyrische Poesie auch, im Gegensatz zu den Dichtungsarten, welche Letzteres zu ihrer Bestimmung haben und daher objective heißen, die subjective. Da das Gefühl von der höchsten Luft bis zum tiefsten Schmerze herab eine unendliche Stufenreihe enthält, so ist auch die Mannichfaltigkeit des dichterischen Ausdrucks dafür natürlich sehr groß. Aus der Verwandtschaft der lyrischen Poesie mit der Tonkunst folgt schon, daß sie sich sehr zu deren Begleiterin eignet, daher sie auch schon sehr früh in Begleitung der Lyra oder Leier (s.d.), wovon sie auch den Namen erhielt, auftrat. Da das unmittelbare Gefühl, namentlich bei erregter Leidenschaft, sich sehr stark äußert, so wird sich der lyrische Dichter auch großer, ungewöhnlicher Vorstellungen und Bilder bedienen müssen, um jenes mit gehöriger Wirkung ausdrücken zu können. Die Thätigkeit der Seele, die hierzu erfoderlich ist, die Phantasie, wird, zu ungewöhnlichem Grade gesteigert, zur Begeisterung (s.d.), welche man, wenn sie sich im lyrischen Gedicht in außerordentlicher Stärke kund gibt, den lyrischen Schwung nennt. Die einzeln dargestellten Abstufungen des Gefühls geben die verschiedenen Gattungen der Lyrik, als da sind: Dithyrambus, Hymne, Ode, Lied, Elegie, Heroide, die lyrische Epistel und das lyrisch-didaktische Gedicht. Was die lyrischen Versmaße anbetrifft, so werden sie, da sie dem Inhalte anpassend sein müssen, so mannichfaltig sein, als dieser selbst. Obgleich bei den Alten, weil sie den Reim nicht kannten, die größte Freiheit in der Versbildung herrschte, so kam doch bei ihnen auch dadurch ein leicht faßliches Gesetz, eine regelmäßige Abtheilung in ihre lyrischen Gedichte, daß sie wegen der musikalischen Begleitung, also um der Wiederkehr der musikalischen Weise willen, auch in der äußern Form, nachdem ein Gedanke geschlossen war, absetzten und jene wieder von vorn angehen ließen. Weil man sich hierbei gleichsam zu einem neuen Ansatz herumwendete, so wurde ein solcher nach Gedanke und Form in sich abgerundeter Satz Strophe (Wendung) genannt, welcher Ausdruck der eigentlich richtige ist für die gewöhnlich gebrauchte Bezeichnung Vers, worunter eigentlich nur Eine Zeile eines metrisch abgefaßten Gedichts zu verstehen ist. Quelle: Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1838., S. 792. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20000841935


Meyer 1852

Lyrische Poesie

Lyrische Poesie (Lyrik), der vollendete Ausdruck einer Empfindung oder Anschauung im höchsten Wohlklange der Sprache. Ihr Charakter ist idealisirte Darstellung (Objektivirung) bestimmter subjektiver Gefühle (als des Stoffes) in der Totalität einer vollendeten ästhetischen Form. Die L. P. ist unter allen Arten der Poesie am geeignetsten für die Begleitung der Tonkunst, mit der sie in den frühesten Zeiten immer Hand in Hand ging, daher auch ihr Name, von der begleitenden Lyra. Begeisterung wird bei dem lyrischen Dichter (Lyriker) in vorzüglichem Grade vorausgesetzt. Dadurch entstehen große, erhabene, ungewöhnl. lebhafte Vorstellungen, Bilder und Gefühle, die sich dem Gedicht selbst mittheilen und lyrischer Schwung genannt werden. Der Ton des, dem lyrischen Gedichte eigenen subjektiven Gefühls, kann als Ton der F r e u d e bis zur höchsten Steigerung derselben in der tiefsten Wehmuth, nach sehr verschiedenen Graden des Schwunges dieses Gefühls, schattirt werden. Diese Schattirungen in dem Tone des ausgedrückten Gefühls bestimmen den Charakter der einzelnen Untergattungen der lyrischen Form. Diese sind: Lied, Ode, Hymne, Dithyrambus, Kantate (lyrische Gedichte im engern Sinne); Elegie, Heroide (lyrisch-elegische Gedichte); das lyrische Lehrgedicht (lyr.-didakt. Gedicht, s. Lehrgedicht). Was das Metrum der lyr. Gedichte betrifft, so werden 2 oder mehr Verse zu Systemen oder Strophen (s.d.) verbunden, deren Anordnung bei hohem Schwunge frei und kühn zu seyn pflegt. Doch bleibt, bei aller Mannichfaltigkeit der Strophen, Einheit des Rhythmus in der Mannichfaltigkeit der Form Gesetz. Wie die trochäischen Rhythmen sich mehr zum gelassenen Gange des Liedes eignen, so entsprechen die [1472] daktylischen und choriambischen mehr dem feierlichen Aufschwunge der Ode; päonische und andere kühnere Rhythmen bleiben für Hymnen u. Dithyramben. Was in der L. n P. von den Dichtern der einzelnen Völker geleistet worden ist, s.u. den Nationalliteraturen.

Aus: Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände. In Verbindung mit Staatsmännern, Gelehrten, Künstlern und Technikern herausgegeben von J. Meyer. Neunzehnter Band. Zweite Abtheilung. Hildburghausen, Amsterdam, Paris, Philadelphia: Bibliographisches Institut 1852, S. 1471-1472


Brockhaus 1853

Lyrik


Lyrik oder Lyrische Poesie heißt diejenige Hauptgattung der Poesie, die das innere Gefühlsleben zum Gegenstande ihrer Darstellung hat. Sie ist das subjective Aussprechen subjectiver Gefühle und zeigt sich daher in ihrer geschichtlichen Entstehung immer und überall später als das Epos, das an äußere Gegenstände und Begebenheiten anknüpft. Natürlich muß die wahre lyrische Poesie zunächst alle Erfodernisse der Poesie überhaupt erfüllen; sie muß dem innern Gefühle mittels der Phantasie eine klare, anschauliche Gestalt geben und die innere Wahrheit ihres Inhalts mit idealer Auffassung verbinden. Von der Lyra (s.d.), als dem Instrumente, mit dem die Griechen derartige Gedichte begleiteten, hat sie ihren Namen. Ferner kann das lyrische Gedicht im Vergleich mit Epos und Drama immer nur einen verhältnißmäßig kleinen Umfang haben, und endlich stimmt zu dem Inhalte dieser Gedichte die strophische, mehr oder weniger regelmäßige Form, die noch durch manche besondere Kunstmittel, z.B. den Refrain, gehoben wird. Der Form nach kann man die lyrischen Gedichte eintheilen in solche, die großartige Gefühle in ihrer tiefsten Erregung und Kraft in entsprechender, erhabener Form ausdrücken und vorzugsweise Hymnen (s.d.), Oden (s.d.) und Dithyramben (s.d.) genannt werden, und in solche, die innigere, aber ruhigere Gefühle in einfacherer Form aussprechen, wie das eigentliche Lied (s.d.). Dem Inhalte nach theilt man sie ein in geistliche und weltliche Lieder, welche letztere wieder in eine Menge Unterabtheilungen, wie Liebes-, Natur-, Trink-, Kriegs-, Volkslieder u.s.w., zerfallen. Häufig nimmt das lyrische Gedicht eine lehrhafte Wendung, was jedoch schon ein Abirren von seiner vollen Reinheit ist. Wie die dämmernde Gefühlswelt des Menschen mehr im Orient und im Christenthum ihre wahre Entwickelung und Bedeutung erlangt hat, so hat sich auch die lyrische Poesie in der jüdischen und christlichen Anschauung vollständiger und allseitiger entwickelt als in der plastischen Anschauungsweise der Griechen und Römer. Die lyrischen Gedichte des Alterthums haben entweder starke epische Beimischungen, wie bei Pindar, dem berühmtesten griech. Lyriker, oder sie gehen in das Lehrhafte über. Fast nur das Liebeslied erlangte bei den Griechen durch Sappho und Anakreon und bei den Römern durch Catull, Tibull, Properz und Horaz eine höhere Stufe der Vollendung. Aus den ersten christlichen Jahrhunderten sind uns besonders herrliche lat. Kirchenhymnen erhalten. Einen überaus reichen Aufschwung nahm die weltliche Lyrik seit dem 12. Jahrh. in Südfrankreich und Spanien, etwas später in Italien, wo sie sich in die künstlichen Formen des Sonetts, der Canzone, Sestine u.s.w. kleidete. In Deutschland trat eine reiche Blütezeit mit dem Minnegesange des 13. Jahrh. ein, der an Mannichfaltigkeit der Form und des Inhalts noch unübertroffen ist. Während hier in den folgenden Jahrhunderten die weltliche Lyrik durch handwerksmäßige, später durch gelehrte Künsteleien und Spielereien verfiel, erhob sich desto glänzender seit der Reformation das Kirchenlied (s.d.), dessen Hauptrepräsentanten Luther, P. Gerhardt, Klopstock und Gellert sind. In die weltliche Lyrik kam erst mit der Mitte des 18. Jahrh. ein neues Leben, das in der frischen Liederlyrik Goethe's seine schönsten Blüten trieb. (S. Deutsche Nationalliteratur.)


Aus: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon. Zehnte, verbesserte und vermehrte Auflage. In funfzehn Bänden. Zehnter Band: Lüneburg bis Myus. Leipzig: Brockhaus 1853, S. 38


Herders Conversations-Lexikon 1856

Lyrik

[53] Lyrik, lyrische Dichtkunst, Gattung der Poesie, welche die unmittelbare Darstellung des Gefühls zur Aufgabe hat, kann also auch im Epos u. Drama erscheinen, steht der Musik am nächsten u. eignet sich am meisten zum Gesange. In ihren Umfang gehören die Hymne, Ode, Dithyrambe, Elegie, Sonnette, Canzone, das geistliche und weltliche Lied.

Quelle: Herders Conversations-Lexikon. Freiburg im Breisgau 1856, Band 4, S. 53. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20003420930


Pierer's Universal-Lexikon 1860

Lyrik

[653] Lyrik, s. Lyrische Poesie.

Quelle: Pierer's Universal-Lexikon, Band 10. Altenburg 1860, S. 653. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20010376089


Lyrische Poesie

[653] Lyrische Poesie (Lyrik), diejenige Hauptgattung der Poesie, welche das innere Gefühlsleben darstellt; sie ist der vollendete Ausdruck einer Empfindung od. Anschauung im höchsten Wohlklange der Sprache. Ihr Charakter ist idealisirte Darstellung (Objectivirung) bestimmter subjektiver Gefühle (als des Stoffes) in der Totalität einer vollendeten ästhetischen Form. Die L. P. ist unter allen Arten der Poesie am geeignetsten für die Begleitung der Tonkunst, mit der sie in den frühesten Zeiten immer Hand in Hand ging, daher auch ihr Name, von der begleitenden Lyra. Begeisterung wird bei dem lykischen Dichter (Lyriker) in vorzüglichem Grade! vorausgesetzt. Dadurch entstehen große, erhabene, ungewöhnlich lebhafte Vorstellungen, Bilder u. Gefühle, welche sich dem Gedicht selbst mittheilen u. Lyrischer Schwung genannt werden. Der Ton des, dem lyrischen Gedicht eignen subjektiven Gefühls, kann als Ton der Freude bis zur höchsten Stufe derselben, zum Ausdruck des Entzückens, u. als Ton der Traurigkeit bis zur höchsten Steigerung derselben in der tiefsten Wehmuth, nach sehr verschiedenen Graden des Schwunges dieses Gefühls schattirt werden. Diese Schätzungen m dem Tone des ausgedrückten Gefühls bestimmen den Charakter der einzelnen Untergattungen der Lyrischen Form. Diese sind: Lied, Ode, Hymne, Dithyrambus, Cantate (Lyrische Gedichte im engern Sinne); Elegie, Heroide (Lyrisch-elegische Gedichte); daß lyrische Lehrgedicht (Lyrisch-didaktisches Gedicht, s. Lehrgedicht). Was das Metrum der lyrischen Gedichte betrifft, so werden zwei od. mehrere Verse zu Systemen od. Strophen (s.d.) verbunden, deren Anordnung bei hohem Schwünge frei u. kühn zu sein pflegt. Doch bleibt, bei aller Mannigfaltigkeit der Strophen, Einheit des Rhythmus in der Mannigfaltigkeit der Form Gesetz. Wie die trochäischen Rhythmen sich mehr zum gelassenen Gange des Liedes eignen, so entsprechen die daktylischen u. choriambischen mehr dem feierlichen Aufschwünge der Ode; päonische u. andere kühnere Rhythmen bleiben für Hymnen u. Dithyramben. Was in der L-n P. von den Dichtem der einzelnen Völker geleistet worden ist. s.u. den Nationalliteraturen.

Quelle: Pierer's Universal-Lexikon, Band 10. Altenburg 1860, S. 653. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20010376119


Brockhaus 1878

Lyrik


Lyrik oder Lyrische Poesie, deren Name von dem griech. Saiteninstrument Lyra (s.d.) entlehnt ist, heißt diejenige Hauptgattung der Poesie, die das innere Gefühlsleben zum unmittelbaren Ausdruck bringt. Sie ist das subjective Aussprechen subjectiver Gefühle und zeigt sich daher in ihrer geschichtlichen Entstehung überall später als das Epos, das an die äußere Welt anknüpft und deren Begebenheiten erzählt. Die L. ist um so tiefer, je wahrer und inniger die Stimmung und Empfindung ist, die sie ausspricht, und sie ist um so poesievoller, je mehr durch die vereinzelte Empfindung und Stimmung der ganze dunkle, unerschöpfte Urgrund des gesammten Gemüthslebens hindurchklingt. Daher der innige Zusammenhang der L. mit der Musik; daher [976] in der alten L. die feinabgewogene, lebendig in sich verschlungene rhythmische Form, der kunstvoll gegliederte Strophenbau, in der modernen die Vorliebe für den Reim. Der Form nach unterscheiden wir in der L.: 1) die hymnische (Hymne, Ode, Dithyrambe); sie ist die L. der Erhabenheit; das tiefbewegte Gemüth blickt begeistert hinauf zu einem übergewaltigen Inhalt, von dessen Größe sie erschüttert ist und den sie doch nicht völlig in sich hineinzuziehen vermag; 2) die liedmäßige (das Lied); diese ist die L. der ruhigen, harmonischen Schönheit, in welcher Inhalt und Stimmung rein und unmittelbar ineinander aufgehen, die Stimmung ganz von ihrem Inhalt durchglüht ist und ihn in unwiderstehlicher Naturnothwendigkeit naiv und schönheitsvoll ausspricht; 3) die L. der Betrachtung (Elegie, Sonett, Epigramm); sie stellt den Uebergang des reinen Gefühlszustandes in das Gedankenleben dar; der Gegenstand, der die Empfindung hervorruft, spricht sich nicht mehr unmittelbar selbst aus, sondern der Empfindende enthüllt nur seine Gedanken über ihn. Wie die dämmernde Gefühlswelt des Menschen mehr im Orient und im Christenthum ihre Entwickelung und Bedeutung erlangt, so hat sich auch die lyrische Poesie in der jüd. und christl. Anschauung vollständiger und allseitiger entwickelt als in der plastischen Anschauungsweise der Griechen und Römer. Die lyrischen Gedichte des Alterthums haben daher entweder starke epische Beimischungen, wie bei Pindar, dem berühmtesten griech. Lyriker, oder sie gehen in das Didaktische über. Fast nur das Liebeslied erlangte bei den Griechen durch Sappho und Anakreon und bei den Römern durch Catull, Tibull, Properz und Horaz eine höhere Stufe der Vollendung. Aus den ersten christl. Jahrhunderten sind uns besonders herrliche lat. Kirchenhymnen erhalten. Einen überaus reichen Aufschwung nahm die weltliche L. seit dem 12. Jahrh. in Südfrankreich und Spanien, etwas später in Italien, wo sie sich in die künstlichen Formen des Sonetts, der Canzone, Sestine u.s.w. kleidete. In Deutschland trat eine reiche Blütezeit mit dem Minnegesange des 13. Jahrh. ein, der an Mannichfaltigkeit der Form und des Inhalts noch unübertroffen ist. Während hier in den folgenden Jahrhunderten die weltliche L. durch handwerksmäßige, später durch gelehrte Künsteleien und Spielereien verfiel, erhob sich desto glänzender seit der Reformation das Kirchenlied (s.d.). In die weltliche L. kam erst mit der Mitte des 18. Jahrh. ein neues Leben, das in der frischen Liederlyrik Goethe's seine schönsten Blüten trieb. Seitdem ist in Deutschland die L. in unverkümmerter Entwickelung geblieben, besonders durch Uhland, Heine und Geibel und in mehr reflectirender Weise durch Rückert, Platen, Bodenstedt u.a. Außer den Schriften über Aesthetik von Vischer, Rob. Zimmermann und Carriere vgl. Gottschall, "Poetik" (3. Aufl., Bresl. 1873).

Aus: Conversations-Lexikon. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie. Zwölfte umgearbeitete, verbesserte und vermehrte Auflage. In funfzehn Bänden. Neunter Band: Karlowitz bis Maerlant. Leipzig: Brockhaus 1878, S. 975-976.


Brockhaus 1885

Lyrik


Lyrik oder Lyrische Poesie, deren Name von dem griech. Saiteninstrument Lyra (s.d.) entlehnt ist, heißt diejenige Hauptgattung der Poesie, die das innere Gefühlsleben zum unmittelbaren Ausdruck bringt. Sie ist das subjektive Aussprechen subjektiver Gefühle und Gedanken und zeigt sich daher in ihrer geschichtlichen Entstehung überall später als das Epos, das an die äußere Welt anknüpft und deren Begebenheiten erzählt. Die L. ist um so poesievoller, je mehr durch die vereinzelte Empfindung und Stimmung der dunkle, unerschöpfte Urgrund des gesamten Gemütslebens hindurchklingt. Daher der innige Zusammenhang der L. mit der Musik. Der Form nach unterscheidet man in der L. 1) die hymnische (Hymne, Ode, Dithyrambe); sie ist die L. der Erhabenheit; 2) die liedmäßige (das Lied); diese ist die L. der ruhigen, harmonischen Schönheit, in welcher Inhalt und Stimmung rein und unmittelbar ineinander aufgehen; 3) die L. der Betrachtung (Elegie, Sonett, Epigramm); sie stellt den Übergang des reinen Gefühlszustandes in das Gedankenleben dar. Außer den Schriften über Ästhetik von Vischer, Rob. Zimmermann und Carriere vgl. Gottschall, "Poetik" (5. Aufl., Bresl. 1882).

Aus: Brockhaus' Conversations-Lexikon. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie. Dreizehnte vollständig umgearbeitete Auflage. In sechzehn Bänden. Elfter Band: Leo – Murray. Leipzig: Brockhaus 1885, S. 293


Reallexicon der Deutschen Altertümer 1885

Lyrik

[593] Lyrik, siehe Höfische Dichtung, Volkslied, Meistersanger.[593]

Quelle: Götzinger, E.: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 1885., S. 593-594. Permalink: http://www.zeno.org/nid/2000277481X


Meyer 1888

Lyrik

Lyrik (lyrische Poesie), in der Poetik diejenige Gattung der Poesie, welche die lyrische, d.h. die bewegte, Stimmung des von selbst in Worte ausbrechenden Gemüts nachahmt (s. Lyrisch). Dieselbe ist daher immer (nach Goethe) "Gelegenheitspoesie", d.h. durch Gelegenheit, die Ursache der Stimmung, veranlaßt, und von der epischen Poesie (s. Epos), welche Handlungen in der Form bloßer Begebenheiten, sowie von der dramatischen (s. Drama), welche auch Begebenheiten in der Form von Handlungen darstellt, dadurch verschieden, daß sie auch Begebenheiten und Handlungen in der Form des Gefühls (s.d.), d.h. durch ihre Rückwirkung auf das Gemüt, darstellt. Da nun das Gefühl als angenehmer oder unangenehmer Eindruck des Gefühlten auf den Fühlenden (das Subjekt) von der Natur dieses letztern selbst, die Wahrnehmung dagegen von der Natur des Wahrgenommenen (des Objekts) abhängt, so wird nicht nur das Gefühl subjektiv (die Wahrnehmung objektiv), sondern auch die lyrische Poesie, welche Gemütszustände (im Gegensatz zur dramatischen und epischen, welche Gegenstände) darstellt, subjektiv (epische und dramatische objektiv) genannt. Mittel der Darstellung ist dabei, wie bei der Poesie überhaupt, das Wort; die Form der Darstellung aber wird durch die Form des Darzustellenden, des Gefühls, vorgeschrieben. Dasselbe schließt als "dunkler" (bewußtloser) Seelenzustand die Formen bewußter Seelenzustände, sowohl die des logischen (begründenden) Denkens als jene des moralischen (durch Maximen begründeten) Wollens, von sich aus; daher bleibt auch von der lyrischen Darstellung sowohl die Anordnung nach der richtigen Zeitfolge (das Gesetz der epischen) als jene nach der Kausalfolge (das Gesetz der dramatischen Darstellung) ausgeschlossen. Zwar muß, um einen Gemütszustand darzustellen, derselbe so gut wie die Begebenheit (im Epos) und die Handlung (im Drama) im lyrischen Gedicht als Einheit dargestellt werden; da es sich aber nicht um die Nachahmung einer Zeit- oder Kausalreihe, sondern eines Gefühls handelt, so kann die lyrische Einheit nicht, wie die epische, in der ununterbrochenen Aufeinanderfolge der Teile des epischen und nicht, wie die dramatische, in der ununterbrochenen Aufeinanderfolge der Teile des dramatischen Gedichts, sondern sie muß in der ununterbrochenen Inhaltsverwandtschaft aller Teile des lyrischen Gedichts bestehen. Das lyrische Gedicht muß, wie ein musikalisches Werk (Sonate, Symphonie), in einerlei "Tonart" gesetzt sein. Diese Einheit der Stimmung ist das Haupterfordernis und verträgt sich sehr wohl mit der Vernachlässigung der zeitlichen und Kausalverhältnisse des im Gedicht Verbundenen (lyrische Sprünge), wenn diese letztere mit der Gemütsstimmung im Einklang und der Übergang von einem Teil der Dichtung zum andern durch die Association nach der Ähnlichkeit oder dem Kontrast begreiflich ist. Dieselbe ist das Band, welches (wie im Epos die Zeitlinie, im Drama der Kausalnexus) die lose flatternden Bilder der lyrischen Dichtung zusammenhält und (wie jene) auch äußerlich im metrischen Bau, dessen Rhythmus den Rhythmus des Gefühls nachahmt, erkennbar zum Ausdruck kommt. Die Pausen der Stimmung, nach welchen dasselbe (oder ein kontrastierendes) Gefühl im Gemütsleben wieder erscheint, werden dabei im Gedicht durch Ruhepunkte zwischen Absätzen (Strophen), auf welche ein gleichartiger (oder kontrastierender) metrischer Bau (Antistrophe) folgt, nachgeahmt. Die Mannigfaltigkeit der Gemütsstimmungen, deren jede ihr eignes, bald beschleunigtes, bald verlangsamtes, bald bleibendes, bald wechselndes Tempo besitzt, hat in der lyrischen Poesie zu einer gleichkommenden Vielartigkeit künstlicher Versformen geführt, während die schmucklose Monotonie der geraden Zeitlinie und der sich gleichbleibenden Richtung der Kette von Ursachen und Wirkungen im Epos und Drama einfache Metra (Hexameter, Trimeter, Alexandriner, Blankvers etc.) erzeugt.

Die Einteilung der L. als Poesie des Gefühls richtet sich nach der Art und Stellung des Gefühls. Je nachdem der Dichter, der Träger der lyrischen Gemütsstimmung, entweder ganz in dieselbe versenkt (in das Gefühl verloren) erscheint, oder derselben gegenüber sich beobachtend und beurteilend verhält, unterscheidet man bewußtlose (naive, objektive) und bewußte (reflektierende, sentimentale nach Schiller, subjektive) L. Letztere, welche, mit jener verglichen, die kühlere ist, hat zu ihrem Objekt entweder ein fremdes oder das eigne Subjekt, reflektiert entweder über einen andern oder über sich selbst und heißt im letztern Fall selbstbewußte (humoristische, subjektiv-objektive) L. Die naive L. zerfällt, je nachdem die dargestellte Gemütsstimmung einfach die lyrische oder eine außergewöhnlich erhöhte (lyrische Verzückung) ist, in niedere und höhere. Jener gehört das Lied (s.d.) und zwar, je nachdem die Gemütsstimmung eine beschauliche (ruhig genießende) oder begehrliche (verlangende oder verabscheuende) ist, das Freude- und Trauerlied, das Sehnsuchts-, Hoffnungs-, Klage- und Angstlied an. Diese zerfällt, je nachdem die Verzückung ruhig (Kontemplation) oder bewegt (Affekt), entweder durch intellektuelle (Enthusiasmus) oder sinnliche Mittel (Orgiasmus) erzeugt ist, in die didaktische (lehrreiche) und ekstatische L. Jener gehört, je nachdem das Objekt der Kontemplation ein religiöses oder weltliches ist, der Hymnus (Hymnen des Rig-Weda, Orphische und Homerische Hymnen) und das philosophische Lehrgedicht (Schillers "Spazier[14]gang", "Die Ideale"), dieser gehört die (geistliche und weltliche) Ode (Davids Psalmen; Pindars, Klopstocks, Platens Oden) und der Dithyrambus (Bacchischer Gesang, Schillers "Dithyrambe") an. In der höhern wie niedern L. ist die (freudige oder traurige) Gemütsstimmung entweder durch die Anwesenheit oder durch die Abwesenheit des (angenehmen oder unangenehmen) Objekts erzeugt. Im erstern Fall ist dieselbe rein (erhabene, idyllische Freude; erhabene, idyllische Trauer), im letztern gemischt entweder aus der Freude über die Annehmlichkeit und der Trauer über die Abwesenheit (elegisches Entzücken, elegische Freude) oder aus der Trauer über die Unannehmlichkeit und der Freude über die Abwesenheit (elegischer Jammer, elegische Trauer) des Objekts. Durch die Erinnerung des einstigen Besitzes des Angenehmen sowie durch die Vorstellung seines künftigen Besitzes (Hoffnung) wird die Trauer über dessen Abwesenheit, durch das Bewußtsein, daß das Unangenehme nicht mehr oder noch nicht gegenwärtig ist, die Trauer über dessen Unannehmlichkeit gemildert (erhabener, elegischer Trost). Durch die Vorstellung, daß das Angenehme nicht mehr oder noch nicht gegenwärtig (und vielleicht nie wird: Furcht), wird die Freude an dessen Annehmlichkeit, durch das Bewußtsein, daß dasselbe nur scheinbar angenehm, in Wahrheit das Gegenteil (die vermeintliche Treue Treulosigkeit) sei, die Freude über dessen Anwesenheit getrübt (hoffnungslose, elegische Verzweiflung). Goethe und das Volkslied weisen alle Schattierungen der niedern L. auf; die erhabene Freude der höhern L. erscheint in den wedischen Hymnen und philosophischen Lehrgedichten Schillers, die erhabene Trauer in den Traueroden Klopstocks und Platens, der erhabene Trost in den Psalmen, die erhabene Verzweiflung (Weltschmerz) in Byrons und in der modernen L. des (Comteschen) Positivismus (Louise Ackermann) vertreten.

Wird die lyrische Gemütsstimmung von andern geteilt, so erscheint die soziale (gesellige), wird sie durch die gleiche oder entgegengesetzte andrer im Dichter verursacht, die sympathetische (gesellschaftliche) L. Form der erstern ist der gesellige (Chor-) Gesang, Form der letztern die Anrede (Apostrophe) an den (oder die) andern als (wirklichen oder doch vermeintlichen) Urheber der eignen (gleichen: Liebe um Liebe, Haß um Haß; oder entgegengesetzten: Liebe um Haß, Haß um Liebe) Gemütsstimmung. Zu jener gehört je nach der Beschaffenheit der gemeinsamen Gemütsstimmung der geistliche und weltliche Chorgesang, dagegen je nach dem gemeinsamen Grund, aus welchem die Gemeinsamkeit der Gemütsstimmung entspringt (Gleichheit der Abstammung, des Alters, des Standes und Berufs, des bleibenden oder vorübergehenden Zwecks), das Lied der Volks-, Alters-, Standes- und Berufs-, Trink-, Fest-, Bundes- etc. Genossen (Volks-, Jugend-, Jäger-, Soldaten-, Trink-, Fest-, Bundeslied etc.). Diese umfaßt, je nachdem der andre dem Dichter höher als er selbst (dem Menschen ein Gott, eine Göttin) oder ihm gleich (ebenbürtig) oder unter ihm stehend (der Mensch der Natur gegenüber sich als Gott) erscheint: die L. der Ehrfurcht (Lob- und Danklied), wenn jener Höhere als zugeneigt, der Furcht (Bitt- und Sühnelied), wenn er als abgeneigt gedacht wird; die L. der Sympathie, wenn jener Ebenbürtige als liebend (Freundschaftslied, wenn er desselben, Liebeslied, wenn er entgegengesetzten Geschlechts ist), der Antipathie, wenn jener Ebenbürtige als hassend gedacht wird (Kriegslied, wenn er desselben, Trutzlied, wenn er entgegengesetzten Geschlechts ist); die L. des Erbarmens, wenn das Schwächere als willig (Wiegen- und Pflegelied), des Machtgefühls, wenn dasselbe als unwillig (Triumph- und Siegeslied) sich fügend vorgestellt wird.

Wie die Form der naiven sympathetischen L. die unmittelbare, so ist die der reflektierenden die (durch die Schrift) vermittelte Anrede, der poetische Brief, welcher dort, wo der Gegenstand der Reflexion der Reflektierende selbst ist, in der humoristischen L., wieder zur Anrede (des Dichters an sich selbst), aber zur ironischen, zum Selbstzwiegespräch wird. Jene erscheint als Epistel, wenn bei der Reflexion über andre nur der Verstand, als Elegie, wenn das Gemüt, als Satire, wenn das Gewissen beteiligt ist. Die Epistel ist komisch, wenn der andre als thöricht, didaktisch, wenn er als (unverschuldet) unwissend vorausgesetzt, also im erstern Fall verspottet, im letztern aufgeklärt wird (des Horaz Brief ad Pisones). Die Elegie (gemütvolle Epistel) ist Mitteilung der eignen (römische) oder Mitgefühl mit fremder (heiterer oder trüber) Gemütsstimmung (griechische Elegie). Die Satire (die moralische Epistel) ist entweder Anklage (juvenalisch) oder Strafe (Archilochos' Jamben, Goethes und Schillers Xenien). Zur römischen Elegie (Ovids "Ex ponto") gehört auch die Heroide (das Schreiben aus der Unterwelt), zur Epistel und Satire das adressierte Epigramm.

Die über sich selbst reflektierende L. teilt mit der sympathetischen L. die Form der Anrede, mit dem Unterschied, daß der Angeredete nicht, wie bei dieser, als ein wirklicher andrer vorausgesetzt, sondern der selbsterfundene Doppelgänger des Dichters ist, wodurch der Gebrauch obiger Form ein ironischer wird. Weder das höhere Wesen, das er zu ehren oder zu fürchten, noch das ihm ebenbürtige, das er zu lieben oder zu hassen, noch das schwächere, dessen er sich zu erbarmen oder über das er zu triumphieren vorgibt, sind für den Dichter wirklich vorhanden. Himmel, Erde und Hölle sind für ihn nichts als Geschöpfe seiner Einbildungskraft, an welche zu glauben Thorheit wäre, an welche nicht glauben zu können sein Unglück ist. Glaube, Liebe und Hoffnung sind für des Dichters Kopf ein Wahn; die Wahrheit des Geglaubten, Geliebten, Gehofften ist für des Dichters Herz ein unauslöschliches Bedürfnis; Verstand und Gemüt, Wissen und Wunsch liegen im unauflöslichen Zwiespalt; aus der Zerrissenheit des Dichters, der sich verlacht, wenn er glaubt, und beweint, weil er nicht glaubt, der durch Elend klug und durch Klugheit elend geworden ist, entspringt die aus Spott und egoistischem Erbarmen gemischte Gemütsstimmung (der böse Humor, Weltschmerz), deren Ausfluß die vorzugsweise moderne humoristische L. (Lord Byron, Heine) ist. Dieselbe nimmt, je nachdem sie sich (asthenisch) in die Unabänderlichkeit (die Thatsache des hoffnungslosen Zwiespalts) ergibt (Heine) oder sich (sthenisch) gegen dieselbe und deren vermeintlichen Urheber empört (Byron, Shelley, A. de Musset), die Form der (komischen oder tragischen) Resignation (pessimistische L.) oder des heroischen (dem des Satans wider Gott ähnlichen) Widerstandes (satanische L.) an. Während die komische Resignation (Heine) auf der Stufe der niedern L. (ironisches Lied, humoristisches Epigramm) beharrt, hebt sich die tragische als pessimistisches Lehrgedicht, pessimistische Ode (Louise Ackermann) und pessimistischer Chorgesang (antike Tragödie) zur Stufe der höhern empor, welcher die satanische L. ("Der Kampfruf wider und der Triumphgesang über die Götter und das Schicksal" in Äschylos', Goethes, Shelleys u.a. Prometheus-Dichtungen) durchaus angehört.



[15] Geschichtliche Entwickelung der Lyrik.

Die Anfänge der L. fallen zusammen mit den Anfängen lyrischer Gemütsstimmung. Das lyrische Gedicht ist nach Goethes Ausdruck das "Gelegenheitsgedicht"; aus der durch irgend einen Anlaß erzeugten lyrischen Gemütsstimmung bricht der bezeichnende, rhythmisch den Rhythmus des erzeugenden Gefühls nachahmende Worterguß hervor. Die Volkslieder der Chinesen (Jagd-, Liebes-, Opfer-, Familienlieder etc.) in gereimten Versen reichen, im Schi-King gesammelt, bis anderthalb Jahrtausende v. Chr. zurück und haben, dem Volksgeist entsprechend, vorzugsweise lehrhaften (moralischen) Charakter. In Ägypten finden sich Hymnen, die an die Psalmen erinnern, und Totenklagen (Manerosgesang: Klagelied der Isis um Osiris). Vorzugsweise lyrisch ist der Charakter der L. der Hebräer: für sie ist die äußere Welt nur da, insofern sie das Gemüt erregt; die Phantasie geht von der Verwandtschaft der Bilder aus, springt je nach der Ähnlichkeit von einem zum andern. Ihre Bilder sind einfach, aber großartig, blitzähnlich schlagend; ihre Begeisterung ist hinreißend, ekstatisch, enthusiastisch; ihr Objekt das Höchste, der Nationalgott Jehovah; das Verhältnis zu ihm nicht kontemplativ, sondern sympathetisch: Anruf, Lob, Dank, Verehrung, Furcht, Hoffnung und Zuversicht. Ihre äußere Form ist Parallelismus der Gedanken und Strophenbau. Neben der geistlichen (Psalmen Davids, Propheten) bestand eine weltliche didaktische (Salomos Spruchweisheit), Liebes- (das Hohelied Salomos) und Kriegslyrik (Siegeslied der Deborah). Die L. der Inder ist in der ältesten Zeit Hymnengesang (die Hymnen des Rig-Weda), nach der Vollendung der großen Nationalepen didaktische Spruchdichtung (die Sprüche des Bhartrihari) und, im schroffen Gegensatz zu philosophischer Weltflucht und asketischem Büßertum, eine sinnlich-brünstige Liebeslyrik (Gitagowinda). Didaktisch in allegorischer Personifikation sind auch die ältesten Gesänge der Avesta des Zendvolkes in Iran. Bei den Griechen tritt die L., wie es naturgemäß ist, erst nach dem Zeitalter des (Homerischen) Epos als Chorgesang bei den Doriern, als Elegie (ursprünglich soviel wie Klagegesang) bei den Joniern auf; jene war ursprünglich (bis auf Thaletas) in Hexametern, später in freien Rhythmen, diese im Distichon (abwechselnd Hexameter und Pentameter) verfaßt und durch Kallinos (7. Jahrh. v. Chr.) und Tyrtäos (7. Jahrh.) zum kriegerischen, von Solon im demokratischen und von Theognis (aus Megara) im aristokratischen Sinn zum politischen Gedicht ausgebildet, während Mimnermos (von Kolophon), der melancholische Sänger der vergänglichen Jugend und des Frühlings, ihren ursprünglich wehmütigen Ton beibehielt. Gleichzeitig erfand Archilochos das in Jamben verfaßte lyrische Spott- und Strafgedicht (die Satire), Theognis die Gnome, Simonides (von Keos) das Epigramm, Äsop die didaktische Fabel, während ein Jahrhundert später aus dem volkstümlichen Chorgesang das kunstmäßige, strophisch gegliederte Chorlied (durch Alkman), der Dithyrambos (durch Arion), das Skolion (Trinklied, durch Anakreon) und die Ode (durch Alkäos, die Dichterin Sappho und den erhabensten von allen, Pindar) entstanden. Auch bei den Römern war die älteste L., durch die Bedürfnisse des Gottesdienstes hervorgerufen, hymnischer Chorgesang (Lied der Arvalbrüder); der vorzugsweise auf das Praktische und Moralische gerichtete Sinn des Volkes aber rief in der besten Zeit der Republik die original-römische, reflektierende Dichtungsart, die Satire (durch Lucilius), als spottendes und strafendes Sittenbild hervor, während die verständige Nüchternheit römischer Aufklärung an die Stelle mythologischer Naturbeseeltheit eine rationalistisch-materialistische Naturauffassung im Lehrgedicht (durch Lucretius' "Von der Natur der Dinge") setzte und das Liebeslied (durch Catullus) den echt lyrischen Stempel des realistischen "Gelegenheitsgedichts" gewann. Erstere ward im goldenen Zeitalter der römischen Litteratur (durch Horaz) im weltmännisch-heitern, im silbernen (durch Persius und Juvenal) im welthassend-ernsten Stil fortgebildet. Das Lehrgedicht, wie es dem immer mehr zum Nützlichen sich wendenden Geiste des Römertums entsprach, ward von der Stufe philosophischer Betrachtung auf jene einer praktischen Anleitung (Vergils "Gedicht vom Landbau", des Horaz Brief "Von der Dichtkunst") herabgedrückt. Das naive Gelegenheitslied wurde (durch Horaz) zur bewußten Gelegenheitsode (auf das kaiserliche Rom, dessen Herrscher und Größe) erhoben, büßte aber dafür das echt lyrische Gepräge des unmittelbaren Herzensergusses ein und gestaltete sich zum rhetorisch schwungvollen, aber innerlich kühlen Prunkgedicht um. Wie die Satire und das Epigramm (Martial), so entsprachen auch die übrigen Gattungen der reflektierenden L., die Epistel und die Elegie, der römischen Verständigkeit; jene wurde in klassischer Weise durch Horaz, diese als Liebeselegie durch Tibull und Properz, als Klage- und Sehnsuchtsepistel ("Ex Ponto") durch Ovid, durch letztern unter dem Namen Heroide auch als Trauerbrief Verstorbener an die Lebenden gepflegt.

Im Mittelalter entwickelte sich bei den islamitischen Völkern, Arabern und Neupersern, eine eigentümliche L., welche bei jenen mit Totenklagen, Liebes- und Spottversen (Hamâsa, Amrilkais) begann, nach dem Vorbild des Korans sich als Spruchdichtung (Motanebbi) entfaltete, in Sizilien und Spanien insbesondere als Liebeslyrik reiche Blüten trieb und nicht nur jüdischen, sondern auch christlichen Sängern zum Muster diente, bei diesen dagegen als mystische und moralisch-kontemplative Lehrdichtung (Dschelâl eddin Rumi, Saadi) sowie im Gegensatz dazu als sinnen- und lebensfrohe Wein- und Liebesdichtung (Hafis, Dschami) einen Reichtum künstlicher lyrischer Formen (Ghasel) schuf. Die christlichen Völker (Kelten, Germanen, Slawen) brachten nicht nur aus den Zeiten des Heidentums die Gewohnheit des Volksgesangs (keltisches, germanisches, slawisches Volkslied) mit, sondern durch die gemeinsame Institution des Rittertums, wohl auch durch die während der Kämpfe mit den Mohammedanern in Spanien und im Orient herbeigeführte Bekanntschaft mit der arabischen L. entstand zunächst in der Provence und verbreitete sich von da aus über das ganze christliche Europa eine gemeinsame weltliche L., zugleich aber durch die über die ganze abendländische Kirche ausgebreitete gemeinsame Institution des katholischen Klerus eine dieser wie himmlische Liebe der irdischen und Kampf mit geistigen jenem mit sinnlichen Waffen entgegengesetzte und doch durch den gemeinsamen Inhalt: Liebe und Kampflust, innig verwandte gemeinsame geistliche L. Mittelpunkt der erstern ist die weltliche (weltlicher Minnesang; Troubadoure, Minnesänger), der letztern die himmlische (geistlicher Minnesang; Marienlieder) Herrin (Madonna); der besungene Kampf entweder der Kampf gegen die Ungläubigen und unwürdigen Gläubigen (der Papst als Antichrist: Walther von der Vogelweide, Bertrand de Born) oder gegen die Sünde durch die Ausmalung der Schrecken des Weltgerichts ("Dies irae", Thomas von Celano). [16] Mit dem Verfall des Rittertums erstarrte durch einseitige Nachahmung der äußern metrischen Form der ritterliche Minnegesang in Deutschland zum handwerksmäßigen Meistergesang (Tabulatur; die Meistersinger), in Italien zum technisch gekünstelten Klinggesang (Sonett, Kanzone, Sestine, Triolett, Madrigal etc.; die Improvisatoren); jenem hauchte das Volkslied des Reformationszeitalters (Landsknechtslieder, Lieder der fahrenden Schüler, Studentenlieder etc.), diesem der Humanismus der Renaissanceperiode (Petrarcas Laura-Sonette und patriotische Kanzonen; Michelangelos, Raffaels Sonette etc.) frisches (volkstümliches und antikes) Leben ein. Aus jenem erwuchs durch Luther im protestantischen Europa das (unübertroffene deutsche) evangelische Kirchenlied, durch Goethe im goldenen Zeitalter der deutschen Litteratur das klassische weltliche Lied; dieser legte den Grund zu der formvollendeten, aber innerlich kühlen rhetorischen Kunstlyrik, wie sie bei den romanischen Völkern bis auf die neuere Zeit, zum Teil (Spanier, Portugiesen, Italiener) bis auf die Gegenwart sich erhalten hat, und welcher, dem Stammescharakter derselben entsprechend, die römischen Lyriker (insbesondere Horaz) zum Vorbild gedient haben. Neben derselben haben in Frankreich vor der Revolution Ronsard, der Hauptdichter der sogen. Plejade, J. B. Rousseau u.a. nach römischem, André Chénier nach griechischem Muster als Odendichter, Boileau nach dem Muster des Horaz als Satiriker und Epistolograph, Voltaire als Meister in der sogen. poésie fugitive Ruf erlangt; seit der Revolution gelten der "Vater des Chansons", Béranger, die Romantiker: Lamartine, V. Hugo, die "Gottlosen": A. de Musset, A. de Vigny, die Nihilisten der "Bohème": Sully-Prudhomme, F. Coppée, die Propheten der sozialen Reformation: H. Murger, Louise Ackermann (die "Sängerin des Positivismus") u.a. als dessen bedeutendste Lyriker. Unter den Italienern haben sich außer Metastasio V. Monti, I. Pindemonte, der schwermütige Leopardi, Giusti u.a. ausgezeichnet. Die aus französischer Schule entsprossenen englischen Lyriker des 18. Jahrh. (Pope, Gay, Thomson, der "englische Boileau", Jonson, u.a.) werden durch die sogen. Seedichter (Southey, Wordsworth, Coleridge u.a.), diese sämtlich durch die sogen. satanische Schule (Lord Byron, Shelley) und die unvergleichlichen Liederdichter des schottischen und des irischen Volkes (Robert Burns und Thomas Moore) in Schatten gestellt, denen sich die modernen Lyriker Englands (Tennyson, Swinburne u.a.) und Amerikas (Longfellow, Edgar Poe u.a.) sowie die radikalen Poeten der sogen. Chartistenschule (Th. Hood u.a.) anreihen. In Deutschland sind auf die frommen Liederdichter des 16. und 17. Jahrh. (P. Gerhardt, S. Dach, P. Fleming u.a.) die barocken Pegnitzschäfer, die schlesischen Dichter (Opitz, der talentvolle Liederdichter Günther, der Epigrammatiker Logau), die Didaktiker (Brockes, Haller), Satiriker (Canitz) und moralischen Fabeldichter (Gellert), die Seraphiker (Klopstock) und Anakreontiker (Gleim, J. G. Jacobi), die patriotischen und realistischen Dichter (Göttinger Dichterbund: Bürgers Molly-Lieder), Goethe und Schiller, jener als klassisches Muster in allen Gattungen der niedern, dieser als unerreichter Meister im weltlich-kontemplativen Genre der höhern L., gefolgt. Nach ihnen haben sich die Romantiker vorzüglich als Übersetzer und Nachahmer romanischer L., Mystiker, wie Novalis-Hardenberg, als geistliche Liederdichter, Patrioten, wie Körner, Arndt, Schenkendorf, Follen, Rückert u.a., als politische, der (wie Rückert) sprachgewaltige Platen als Odendichter hervorgethan, während die schwäbischen Poeten (Uhland, Kerner), W. Müller u.a. sich als Sänger der Liebe und des Frühlings auszeichneten. Der Einfluß Lord Byrons und der französischen Julirevolution brachte auch in der deutschen L. eine Umwälzung hervor, indem die humoristische L. (Heine und dessen Schule) und die politische L. (A. Grün, Lenau, Freiligrath, Herwegh u.a.) in den Vordergrund traten, während E. Geibel u.a. zu dem Goetheschen Lied zurückstrebten, V. Scheffel, R. Baumbach u.a. aus dem humoristisch angehauchten Volksgesang eine neue L. des "fahrenden Spielmanns" zurückriefen. Die skandinavischen Völker haben in dem Dänen Öhlenschläger, den Schweden E. Tegnér und Atterbom, die slawischen Völker in dem Russen Puschkin, den Polen Mickiewicz und Krasinski, die Tschechen in Czelakowsky, Kollar u. Macha, die Südslawen in Gaj, von den finnischen Völkern die Magyaren in Alexander Petöfi bedeutende lyrische Talente aufzuweisen. Vgl. über L. die Werke über Ästhetik von Carriere, Vischer, Zimmermann; über die Geschichte der L. Carriere, Die Kunst im Zusammenhang der Kulturentwickelung (3. Aufl., Leipz. 1876-86, 5 Bde.).

Aus: Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens. Vierte, gänzlich umgearbeitete Auflage. Elfter Band: Luzula - Nathanael. Leipzig: Bibliographisches Institut 1888, S. 13-16


Brockhaus 1894

Lyrik

Lyrik oder lyrische Poesie, deren Name von dem griech. Saiteninstrument Lyra (s.d.) entlehnt ist, heißt diejenige Gattung der Poesie, die zum unmittelbaren Ausdruck des subjektiven Gefühlslebens einer Person oder eines Kreises dient. Es ist nicht zu bezweifeln, daß L. infolgedessen Ausgangspunkt aller Poesie war. Die Beobachtung der Naturvölker lehrt, daß lyrische Gesänge, verbunden mit Musik und Tanz, die älteste poet. Produktion bilden, und dazu stimmt auch bei den Indogermanen das hohe Alter ihrer hymnischen Dichtungen (Rigveda). Die Schnadahüpfl des bayr. Gebirges, die auch von Gesang und Sprüngen begleitet sind, mögen ein Bild einfachster L. geben. Die Verbindung mit dem Tanz hat sich längst, die mit der Musik noch bis heute nur zum Teil gelöst; in ältern [422] Zeiten war der Lyriker zugleich Komponist und Dichter, und das Volks- und Gesellschaftslied ist bis jetzt ohne Gesang undenkbar, ein recitiertes lyrisches Gedicht ist im Grunde nicht viel besser als ein Lesedrama. Die früher herrschende Ansicht, das Epos, das die Begebenheiten der Außenwelt meldet, sei älter als die L., beruhte auf der sehr begreiflichen Thatsache, daß die Mehrzahl unserer ältesten Dichtungen Epen sind; subjektive Eingebungen des Moments schrieb man eben nicht auf, während das Epos schon als Vertreter der Geschichte und durch seinen Umfang die Aufzeichnung begünstigte.

Unter den Gattungen der L. unterscheidet man im Anschluß an die antike Terminologie die kunstvoll ausgestaltete, meist dem Gottesdienst geweihte Hymne, die feierliche Ode, die frei dahinstürmende Dithyrambe, die Reflexion und Gefühlsleben verbindende Elegie, dann das einfachere Lied (s.d.), das geistlich und weltlich, für Chor und für Einzelne bestimmt sein kann. Dagegen ist es nicht richtig, wenn man das Epigramm, die Epistel, das Lehrgedicht und ähnliche rein gedankliche Dichtungen zur L. rechnet. — Vgl. Du Prel, Psychologie der L. (Lpz. 1880); Jacobowski, Die Anfänge der Poesie (Dresd. 1891); R. M. Werner, L. und Lyriker (Bd. 1 der "Beiträge zur Ästhetik", Hamb. 1890).


Aus: Brockhaus' Konversations-Lexikon. Vierzehnte vollständig neubearbeitete Auflage. In sechzehn Bänden. Elfter Band: Leber – More. Leipzig / Berlin /Wien: Brockhaus 1894, S. 421-422.


Poetry (Nuttall Encyclopedia 1904)

Poetry, the gift of penetrating into the inner soul or secret of a thing, and bodying it forth rhythmically so as to captivate the imagination and the heart.


Aus: The Nuttall Encyclopædia being A Concise and Comprehensive Dictionary of General Knowledge... Ed. James Wood. London: Frederick Warne & Co., 1904


Meyers Großes Konversations-Lexikon 1905

Lyrik

[1] Lyrik (lyrische Poesie) ist diejenige Gattung der Poesie, in der das lyrische Element die Herrschaft besitzt; das lyrische Element liegt aber dort vor, wo nicht sowohl bestimmte (auf unser Gefühl wirkende) Vorstellungsgebilde die Seele des schaffenden Dichters zur Darstellung anregen, sondern wo lebhafte Gefühle und Affekte den Hauptinhalt seiner innern Erregung ausmachen und von ihm in zulänglicher Weise poetisch verkörpert werden; das lyrische Element macht sich mit andern Worten immer in dem subjektiven Gemütsanteil, der das Vorstellungsleben begleitet, geltend. Da Gefühle niemals isoliert in unserm Geistesleben vorkommen, sondern stets mit Vorstellungen verbunden sind, so können sie im lyrischen Element auch nicht allein obwalten, sondern nur als dessen herrschender Bestandteil erscheinen. Solches Übergewicht des Gefühls macht sich bereits in gewissen Grundformen der Sätze unsrer Sprache geltend, die denn auch gleichsam als die Urzellen der L. angesehen werden können: in den sogen. Ausrufungssätzen, denen (mit überwiegendem Vorstellungsgehalt) die erzählenden und beschreibenden Aussagesätze gegenüberstehen. Die Ausrufungssätze treten aber wiederum in zwei Formen hervor, die beide zur Erläuterung des lyrischen Elements heranzuziehen sind: als eigentliche Gefühlssätze und als Befehls- und Wunschsätze. Die eigentlichen Gefühlssätze liegen z. B. vor in Wendungen, wie: »Welch ein Wunder!« oder: »O herrliches Bild!« Für Wunsch- und Befehlssätze gibt es unzählige Beispiele. Den Ausrufungssätzen stehen durch lebhaften Gefühlswert nahe die Fragesätze, bei deren Äußerung der Sprechende in der Regel von einem kräftig hervortretenden Gefühl des Zweifels und der Spannung beherrscht ist. Diese Gefühls-, Wunsch-, Befehls- und Fragesätze bilden die eigentliche Grundlage des lyrischen Elements, und solche Erzeugnisse, in denen dies lyrische Element rein und unmittelbar in die Erscheinung tritt, sind die der reinen oder unmittelbaren L. So ergeht sich z. B. Goethes »Mailied« (»Wie herrlich leuchtet mir die Natur«) vorwiegend in Gefühlssätzen, in dem Volkslied »Wenn ich ein Vöglein wär'« ist der Wunsch, in Schubarts »Kaplied« (»Auf, auf! ihr Brüder! und seid stark!«) ist der Befehl und in Goethes zweitem »Mailied« (»Zwischen Weizen und Korn«) ist die Frage der dominierende Bestandteil der seelischen Äußerung. Neben solch reiner oder unmittelbarer L. hat die mittelbare L. ein großes Geltungsgebiet gewonnen: sie liegt dort vor, wo sich das lyrische Element an eines der andern poetischen Elemente (das erzählende, das beschreibende, das reflektierende oder das dramatische) anschließt und mittelbar durch diese zum Ausdruck kommt.

Alle L. feiert die ästhetischen Reize des Lebens, und es ist entweder das Schöne oder das Erhabene, was die Seele des Dichters in Schwingung versetzt. Wenn sich in dem Schönen (s. d.) die normale und ungehemmte Entwickelung des Lebens offenbart, so betätigt sich in dem Erhabenen (s. d.) die über das Normale hinausgehende Kraft der schaffenden Natur; während die Affekte, mit denen wir das erstere begleiten, eine mittlere Intensität nicht überschreiten, erhebt sich unsre Seele bei der Vergegenwärtigung des Erhabenen zu stürmischer Bewegung. Diesem Gegensatz milderer und starker lyrischer Affekte entsprechen die lyrischen Hauptgattungen des Liedes und der Ode. Bildet das Wohlgefühl des Schönen das eigentliche Ziel, nach dem der Dichter verlangt, so wird er zum Liede hinneigen, dagegen wenn ihn die Kraft des Erhabenen fesselt, zur Ode. Lebt er in Zeiten primitiv volkstümlicher Kultur, so wird sich ihm das Schöne in der Form des Idyllischen (s. Idyll) und das Erhabene in der Form des Heroischen darstellen. Aber verhältnismäßig selten verkünden die Dichter die Freude des ungetrübten Besitzes: weit häufiger ist das Schöne und Erhabene Gegenstand der Sehnsucht, die Entbehrung des Glückes Inhalt der lyrischen Klage. Der derart sein Ideal vermissende Dichter wird, je nach seiner besondern psychischen Disposition, den Stimmungen elegischer Trauer, der Satire, der Ironie oder auch des versöhnenden Humors (s. die betreffenden Artikel) Ausdruck verleihen, Stimmungen, deren ausgeprägter Charakter zur Unterscheidung lyrischer Untergattungen (der Satire, Elegie etc.) verwertet worden ist. Weiterhin dienen die Lebenssphären, auf die sich die lyrischen Bekenntnisse beziehen, zu ihrer bequemen Gruppierung: so werden sich etwa die individuellen Kämpfe in ihnen spiegeln, die Schicksals-, Willens- und Zustandsgefühle des ringenden Ichs; oder die mannigfachen Formen der Sympathiegefühle: die Gefühle der Neigung, Freundschaft, Verehrung und die vielfach abgestuften Gefühle der Liebe; oder die Gefühle, die durch unser Verhältnis zu der nationalen, sozialen und politischen Gemeinschaft, oder weiterhin diejenigen, die durch die Eindrücke der [1] Natur sowie durch unsre Beziehungen zu den Vorstellungen vom Jenseits erweckt werden. Mit dieser Scheidung der Lebenssphären, der lyrischen Inhalte hängt diejenige der chorischen L. und der Einzellyrik, die in der Geschichte dieser Dichtungsgattung eine große Rolle spielt, innerlich zusammen. Gedichte sozialen, nationalen und namentlich religiösen Gehalts sind ihrem Charakter nach zu gemeinschaftlichem Vortrag geeignet, während solche voll individueller Stimmung ebenso selbstverständlich davon ausgeschlossen sind. Die chorische L. ist regelmäßig mit dem Gesang und in Zeiten primitiver Kultur zumeist auch mit dem Tanz vereinigt. Die Einzellyrik steht dagegen bei ihrem individuellen Charakter zunächst als isoliertes poetisches Kunstwerk da, wenn sie auch häufig die auch ihr naturgemäße Verbindung mit der Musik findet. In dieser Hinsicht macht sich aber ein erheblicher Unterschied zwischen der reinen und der mittelbaren L. geltend, auch dann, wenn die reine L. den Charakter der individuellen Einzellyrik besitzt: die reine L. kann der Vertonung nur schwer entraten, während die mittelbare zur Verbindung mit der Musik oft genug ganz ungeeignet ist.

Unter den Verbindungen, die das lyrische Element in der mittelbaren L. mit andern poetischen Elementen eingehen kann, steht diejenige mit der Reflexion in erster Linie: die reflektierende L. hat von jeher eine bevorzugte Stellung eingenommen. Zumeist ergießt sich hier die Gedankenbildung in breitem Strome, der logische und organische Vorstellungsverlauf unterscheidet sich in der Regel nicht unerheblich von den »Sprüngen und Würfen«, den Auslassungen von Mittelgliedern der Gedanken, die wir so oft bei der reinen L. beobachten. Aber neben dieser breit flutenden Reflexionslyrik hat sich noch eine Sondergattung mit knapp pointiertem Gedankenbau entwickelt: das Epigramm. Der für das Epigramm charakteristische Gedankenbau besteht darin, daß in dem ersten Teil des Gedichts ein Gefühl der Spannung erweckt wird, das in dem zweiten durch eine geistreiche Wendung eine überraschende Lösung findet. Diese epigrammatische Pointe ist dann nicht selten auch auf andre lyrische Gattungen, namentlich das Lied, übertragen worden, z. B. in der sogen. petite poésie der Franzosen, aber auch etwa in der deutschen Anakreontik, bei Heine etc. – Sehr fruchtbar erweist sich in der mittelbaren L. die Verbindung des lyrischen Elements mit dem beschreibenden: eine nicht auffallende Erscheinung, wenn wir bedenken, daß sich die Beschreibung ganz insbesondere auch der Zustände, der innern wie der äußern, bemächtigt, und daß sich unser Gefühl am ungestörtesten und reinsten in der innigen Erfassung der Zustände geltend machen kann. So hat sich neben dem rein lyrischen Lied als wichtige Nebenform das Zustandslied entwickelt, dessen Wesen in der bloßen Schilderung eines an sich ergreifenden Zustandes besteht, dergestalt, daß der lyrische Affekt entweder gar nicht oder nur andeutungsweise hinzugefügt zu werden braucht. Ein derartiges Zustandslied ist z. B. Goethes »Meeresstille« (»Tiefe Stille herrscht im Wasser«); auch in »Wanderers Nachtlied« (»Über allen Gipfeln ist Ruh'«) ist die Zustandsschilderung die Hauptsache, und nur am Schluß bricht der Affekt durch. Ganz besonders reich ist an solchen Zustandsliedern Heines »Buch der Lieder«. Neben dieser in gedrängtester Form sich geltend machenden Beschreibung erscheint in andern lyrischen Gattungen die breit ausladende; sie vereinigt sich in der Regel mit den obenerwähnten Grundstimmungen des Elegischen, Satirischen, Idyllischen und des Humoristischen und läßt nicht selten auch eine nicht unerhebliche Beimischung des reflektierenden Elements zu. Immerhin bleiben die Elegie, Satire, Idylle etc. wegen ihres reichen Gehaltes an Gefühlen und Affekten noch Formen der lyrischen Kunst. Dagegen führt die Verbindung des lyrischen mit dem erzählenden Element zu einer charakteristischen Mischgattung lyrischer und epischer Poesie, von der vor allem die lyrische Ballade zu nennen ist, wie z. B. Goethes »Heidenröslein«, »Veilchen«, »Fischer« etc. (in andern Formen der Ballade überwiegt das dramatische und reflektierende Element, wie z. B. bei Schiller, oder das beschreibende, wie z. B. häufig bei Uhland, oder das erzählende, wie z. B. häufig bei Bürger). Endlich ist auch die Verbindung des lyrischen und dramatischen Elements begreiflicherweise nicht selten zu beobachten; sie liegt deshalb so nahe, weil der Kern des lyrischen Elements, das Gefühl, und der Kern des dramatischen, die Willensbewegung, nur zwei verschiedene Stadien eines einheitlichen psychologischen Vorganges bilden. So enthalten alle diejenigen Gedichte, die zu einer entschiedenen Willensbetätigung auffordern, wie z. B. die Schelt- und Streitlieder, zugleich auch einen dramatischen Zug. Dasselbe gilt aber auch dann, wenn die L. an dem insbesondere dem Drama zukommenden Dialog teilnimmt, mehrere Personen sprechend einführt; so ist z. B. Goethes »Erlkönig« trotz des intensiven lyrischen Gefühlsgehaltes durchaus dramatisch bewegt: ein glänzendes Beispiel der lyrisch-dramatischen Ballade.


Geschichtliche Entwickelung der Lyrik.

Die Anfänge der L. fallen zusammen mit den Anfängen lyrischer Gemütsstimmung. Das lyrische Gedicht ist nach Goethes Ausdruck das »Gelegenheitsgedicht«; aus der durch irgend einen Anlaß erzeugten lyrischen Gemütsstimmung bricht der bezeichnende, rhythmische Worterguß hervor. Die Volkslieder der Chinesen (Jagd-, Liebes-, Opfer-, Familienlieder etc.) in gereimten Versen reichen, im »Schi-King« gesammelt, bis anderthalb Jahrtausende vor Christo zurück und haben, dem Volksgeist entsprechend, vorzugsweise lehrhaften (moralischen) Charakter. In Ägypten finden sich Hymnen, die an die Psalmen erinnern, und Totenklagen (Manerosgesang: Klagelied der Isis um Osiris). Vorzugsweise lyrisch ist die Poesie der Hebräer: für sie ist die äußere Welt nur da, insofern sie das Gemüt erregt; die Phantasie geht von der Verwandtschaft der Bilder aus, springt je nach der Ähnlichkeit von einem zum andern. Ihre Bilder sind einfach, aber großartig, blitzähnlich schlagend; ihre Begeisterung ist hinreißend, ekstatisch, enthusiastisch; ihr Objekt das Höchste, der Gott Israels und seine Weltleitung; das Verhältnis zu ihm nicht kontemplativ, sondern sympathetisch: Anruf, Lob, Dank, Verehrung, Furcht, Hoffnung und Zuversicht. Ihre äußere Form ist nach den Forschungen Robert Lowths (gest. 1787 als Bischof in London) u. a. im allgemeinen Parallelismus der einzelnen Versglieder. Neben der geistlichen (Psalmen Davids, Propheten) bestand eine weltliche didaktische (Salomos Spruchweisheit), Liebes- (das Hohelied Salomos) und Kriegslyrik (Israels Triumphlied am Schilfmeer, Siegeslied der Deborah). Die L. der Inder ist in der ältesten Zeit ausschließlich religiöse Liederdichtung (Hymnen des Rigweda); unter den später entwickelten Gattungen ist hervorzuheben die didaktische Spruchdichtung, die auch in das Epos und das Drama in ausgedehnter Weise Eingang gefunden hat, und eine stark sinnliche [2] Erotik, die besonders in der »Gitagowinda« des Dschajadewa einen typischen Ausdruck erhalten hat. Didaktisch in allegorischer Personifikation sind auch die ältesten Gesänge des »Avesta« des Zendvolkes in Iran. Bei den Griechen gelangen die seit alten Zeiten vorhandenen Elemente der L., wie naturgemäß, erst nach dem Zeitalter des Epos zu selbständiger Entwickelung, zunächst in der Form der den mannigfaltigsten Zwecken dienenden Elegie (s. d.) und der iambischen Dichtung. Mit dem Fortschreiten der namentlich durch Terpandros (um 670 v. Chr.) begründeten Entwickelung der besonders durch die Äoler und Dorer geübten Musik erhielt dann die eigentliche sogen. melische L. (von melos, Lied), das unter Musikbegleitung gesungene Lied, seine von den einfachsten, an die epische sich anschließenden Formen zur größten rhythmischen Mannigfaltigkeit führende Ausbildung in zwei Hauptgattungen, der äolischen L., dem in wiederkehrenden Strophen gefaßten, zum Einzelvortrag bestimmten Lied, und der dorischen oder chorischen L., dem meist nach Strophe und Antistrophe gegliederten, von einem Chor vorgetragenen Gesang, mit zahlreichen Gattungen (s. die Artikel »Dithyrambos, Epinikion, Epithalamion, Hymnos, Hyporchema, Päan, Prosodion, Threnos« u. a.). Als Muster der erstern galten Alkäos, Sappho, Anakreon, der letztern Alkman, Stesichoros, Ibykos, Simonides, Pindar, Bakchylides. Seit der alexandrinischen Zeit diente wieder die Form der Elegie vorwiegend zum Ausdruck des lyrischen Empfindens. Bei den Römern sind die vorhandenen einheimischen Keime eigentlich lyrischer Dichtung unter dem Einfluß des Griechentums unentwickelt geblieben. Original ist ihnen nur die reflektierende Dichtungsart der durch Lucilius begründeten, von Horaz, Persius und Juvenal weitergebildeten Satire. Zu hoher Ausbildung gelangte bei ihnen als lyrische Form die den Griechen entlehnte Elegie durch Catull, Tibull, Properz und Ovid und das Epigramm durch Martial. Die Formen der äolischen Liederdichtung bürgerte Horaz ein, ohne jedoch das echt lyrische Gepräge des unmittelbaren Herzensergusses in den meisten Fällen zu erreichen. Die dorische L. hat bei den Römern keinen Boden gefunden.

Im Mittelalter entwickelte sich bei den islamitischen Völkern, Arabern und Neupersern, eine eigentümliche L., die bei jenen mit Totenklagen, Schilderungen, Liebes- und Spottversen (Hamâsa, Amrilkais) begann, nach dem Vorbild des Korans sich als Spruchdichtung (Mutanabbi) entfaltete, in Sizilien und Spanien insbes. als Liebeslyrik reiche Blüten trieb und nicht nur jüdischen, sondern auch christlichen Sängern zum Muster diente, bei diesen dagegen als mystische und moralisch-kontemplative Lehrdichtung (Dschelal ud Dîn Rumi, Saadi) sowie im Gegensatz dazu als sinnen- und lebensfrohe Wein- und Liebesdichtung (Hafis, Dschami) einen Reichtum künstlerischer lyrischer Formen schuf. Die christlichen Völker (Kelten, Germanen, Slawen) brachten nicht nur aus den Zeiten des Heidentums die Gewohnheiten des Volksgesanges (keltisches, germanisches, slawisches Volkslied) mit, sondern entwickelten auch eine sowohl weltliche als geistliche L., die von der dem ganzen christlichen Europa gemeinsamen Kultur abhängig war. So stand die weltliche L. unter dem Einfluß des Rittertums sowie der während der Kämpfe mit den Mohammedanern in Spanien und im Orient herbeigeführten Bekanntschaft mit der arabischen L.; sie erblühte zunächst in der Provence und verbreitete sich von da aus über das ganze christliche Europa. Zu ihr gesellte sich die durch die Institution der katholischen Kirche getragene geistliche L., die doch durch den gemeinsamen Inhalt: Liebe und Kampflust, innig mit jener verwandt war. Mittelpunkt der erstern ist die weltliche (weltlicher Minnesang; Troubadoure, Minnesinger), der letztern die himmlische (geistlicher Minnesang; Marienlieder) Herrin (Madonna); der besungene Kampf entweder der Kampf gegen die Ungläubigen und unwürdigen Gläubigen (der Papst als Antichrist; Walter von der Vogelweide, Bertrand de Born) oder gegen die Sünde durch die Ausmalung der Schrecken des Weltgerichts (»Dies irae«, Thomas von Celano). Mit dem Verfall des Rittertums erstarrte durch einseitige Nachahmung der äußern metrischen Form der ritterliche Minnegesang in Deutschland zum handwerksmäßigen Meistergesang (Tabulatur; die Meistersinger), in Italien zum technisch gekünstelten Klinggesang (Sonett, Kanzone, Sestine, Triolett, Madrigal etc.; die Improvisatoren); jenem hauchte das Volkslied des Reformationszeitalters (Landknechtslieder, Lieder der fahrenden Schüler, Studentenlieder etc.), diesem der Humanismus der Renaissanceperiode (Petrarcas Laura-Sonette und patriotische Kanzonen; Michelangelos, Raffaels Sonette etc.) frisches (volkstümliches und antikes) Leben ein. Aus jenem erwuchs durch Luther im protestantischen Europa das (unübertroffene deutsche) evangelische Kirchenlied, durch Goethe im goldenen Zeitalter der deutschen Literatur das klassische weltliche Lied; dieser, der Humanismus, legte den Grund zu der formvollendeten, aber innerlich kühlen rhetorischen Kunstlyrik, wie sie bei den romanischen Völkern bis auf die neuere Zeit sich erhalten hat, und der die römischen Lyriker (insbes. Horaz) zum Vorbild gedient haben. Neben ihr haben in Frankreich vor der Revolution Ronsard, der Hauptdichter der sogen. Plejade, I. B. Rousseau u. a. nach römischem, André Chénier nach griechischem Muster als Odendichter, Boileau nach dem Muster des Horaz als Satiriker und Epistolograph, Voltaire als Meister in der sogen. poésie fugitive Ruf erlangt. Seit der Revolution gelten der »Vater der Chanson«, Béranger, die Romantiker: Lamartine, V. Hugo, die »Gottlosen«: A. de Musset, A. de Vigny, die Propheten der sozialen Reformation: H. Murger, Luise Ackermann (die »Sängerin des Positivismus«), die formvollendeten Parnassiens: Th. Gautier, Th. de Banville, Leconte de Lisle, Sully-Prudhomme, Coppée, ferner Aicard, Theuriet, Hérédia, Baudelaire, Richepin, Verlaine u. a. als Frankreichs bedeutendste Lyriker. Unter den Italienern haben sich Metastasio, V. Monti, U. Foscolo, I. Pindemonte, der schwermütige Leopardi, Giusti, Prati, Carducci u. a. ausgezeichnet. Auf die reflektierenden englischen Lyriker des 18. Jahrh., die aus französischer Schule entsprossen waren (Pope, Gay, Thomson u. a.), folgte zunächst die sentimentale Richtung des Gray, Collins, Akenside, worauf sich auf nationaler Basis neue, volkstümliche Liederdichter erhoben: zuerst Burns in Schottland, dann Coleridge, Wordsworth und Southey (die sogen. Seedichter, weil sie sich mit Vorliebe an den Seen Nordwestenglands aufhielten) in England, endlich Th. Moore in Irland. Nachahmer und zugleich politische Gegner dieser Männer waren die Kosmopoliten Byron und Shelley, denen dafür Southey den Namen »satanische Schule« aufbrachte. Als Epigonen sind dann in England Tennyson, Browning und Swinburne zu betrachten und in Amerika E. Poe, Longfellow, Bryant u. a. Originelle Töne fanden in moderner Zeit wieder Bret Harte in Kalifornien und Gordon in Australien. In [3] Deutschland sind auf die frommen Liederdichter des 16. und 17. Jahrh. (P. Gerhardt, S. Dach, P. Fleming u. a.) die barocken Pegnitzschäfer, die schlesischen Dichter (der talentvolle Liederdichter Günther, der Epigrammatiker Logau), die Didaktiker (Brockes, Haller), Satiriker (Canitz) und moralischen Fabeldichter (Gellert), die Seraphiker (Klopstock) und Anakreontiker (Gleim, Uz, Göz), die patriotischen und realistischen Dichter (Göttinger Dichterbund, Bürgers Molly-Lieder), Goethe und Schiller, jener als klassisches Muster in allen Gattungen der niedern, dieser als unerreichter Meister im weltlich-kontemplativen Genre der höhern L., gefolgt. Nach ihnen haben sich die Romantiker vorzüglich als Übersetzer und Nachahmer romanischer L., Mystiker, wie Novalis-Hardenberg, als geistliche Liederdichter, Patrioten, wie Körner, Arndt, Schenkendorf, Rückert u. a., als politische, der (wie Rückert) sprachgewaltige Platen als Odendichter hervorgetan, während die schwäbischen Poeten (Uhland, Kerner), W. Müller u. a. als Sänger der Liebe und des Frühlings, Bodenstedt (»Lieder des Mirza Schaffy«) u. a. durch anmutige Reflexion und kunstvolle orientalische Formen sich auszeichneten. Unter dem Einfluß Lord Byrons sowie des Volksliedes und Goethes steht die pikante und anmutige L. Heines, unter dem Einfluß der Julirevolution die politische L. (A. Grün, Lenau, Freiligrath, Herwegh u. a.), während E. Geibel bei manchen epigonenhaften Zügen norddeutsche Gemütsinnerlichkeit und kernigen Patriotismus verrät, V. Scheffel mit Heineschen Formen einen gesunden Lebensmut verbindet und R. Baumbach u. a. aus dem humoristisch angehauchten Volksgesang eine neue L. des »fahrenden Spielmanns« zurückrufen. Einen bedeutenden Aufschwung nahm die deutsche L. seit den 1880er Jahren, namentlich durch D. v. Liliencrons lebensvolle Gesänge, daneben durch G. Falke, R. Dehmel, St. George u. a., die freilich zum Teil einem dekadenten Symbolismus verfielen. Die skandinavischen Völker haben in dem Dänen Öhlenschläger, den Schweden E. Tegnér und Atterbom, dem Norweger Ibsen, die slawischen Völker in dem Russen Puschkin, den Polen Mickiewicz und Krasinski, die Tschechen in Čelakovsky, Kollár und Macha, die Südslawen in Gaj, die Magyaren in Alexander Petöfi bedeutende lyrische Talente aufzuweisen. Vgl. über L. die Werke über Ästhetik von Carriere, Vischer, R. Zimmermann; ferner R. M. Werner, L. und Lyriker (Hamb. 1890); Carriere, Die Kunst im Zusammenhang der Kulturentwickelung (3. Aufl., Leipz. 1876–86, 5 Bde.); E. Geiger, Beiträge zu einer Ästhetik der L. (Halle 1905).

Quelle: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 13. Leipzig 1908, S. 1-4. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20007028660

Kirchner/Michaëlis: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe 1907

Lyrik

[338] Lyrik (gr. lyrikê sc. technê von lyra = Leier) heißt eins der drei Teilgebiete der Poesie. Die lyrische Poesie (als besondere Dichtungsart neben Epos und Drama gerechnet seit Batteux 1746, Les beaux arts réduits à un même principe) drückt die Empfindungen und die sie begleitenden Gedanken des Menschen aus. Der Lyriker zeigt das Menschenherz und vor allem das eigene. Er gibt also das Bild der Innenwelt. Aber da die Empfindungen und Vorstellungen des Menschen von der ihn umgebenden Welt bestimmt sind, so nimmt die Lyrik auch die Natur und die Außenwelt in sich auf, aber nur, wie sie sich in der Seele des Menschen spiegeln, als inneres Bild und Besitztum. In der Seele des Menschen wechseln die Empfindungen und Gedanken, die Zustände und Stimmungen. Das einzelne lyrische Gedicht ist daher nur eine enger beschränkte Einheit und liefert kein Weltbild; aber die Gesamtheit der lyrischen Gedichte eines Dichters kann seine Weltausicht wiedergeben[338] und sich zu einer großen Konfession zusammenstellen. Vollständigkeit, Genauigkeit, Ausführlichkeit widersprechen dem lyrischen Stile. Die Lyrik deutet die Lage, in der sich der Mensch befindet, nur an, führt oft in Sprüngen lebhaft vorwärts und liebt Helldunkel und Dämmerung. Sie verlangt Schwung und Bewegung, entwickelt reiche und mannigfaltige Rhythmen und Strophen und sucht die Verbindung mit der Musik. Sie ist entweder Lyrik der Begeisterung, wenn sie den Aufschwung der Seele zu großen und erhabenen Gegenständen darstellt (Hymnus, Ode), oder Lyrik der Stimmung, wenn sie das Aufgehen des Menschen in einer wirksamen Situation entwickelt (Lied), oder Lyrik der Betrachtung, wenn sie das mit Reflexion durchsetzte Gefühl beim Aus- oder Nachklingen einer Empfindung wiedergibt (Elegie, Sonett, Epigramm, philosophische Lyrik). Dem Inhalte nach knüpft die Lyrik an alles an, was die Natur, das Leben, die Wirklichkeit und die Phantasie bieten, an Gott, Natur, Leid und Freud, Liebe, Freundschaft, Vaterland u.a.m. Von aller Dichtung ist sie der Mittelpunkt. Keine Poesie ist natürlicher als die Lyrik. Die wahre Lyrik ist trotzdem erst von Goethe geschaffen. Alles vorher ist nur Vorstufe, alles nach ihm ist durch ihn bestimmt. Goethe selbst sagt von der Lyrik: »Alles Lyrische · muß im ganzen sehr vernünftig, im einzelnen ein bißchen unvernünftig sein« (Maximen und Reflexionen II, 123).

Quelle: Kirchner, Friedrich / Michaëlis, Carl: Wörterbuch der Philosophischen Grundbegriffe. Leipzig 51907, S. 338-339. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20003585530


Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon 1911

Lyrik

[99] Lyrik, Lyrische Poesie, Dichtungsart, welche das subjektive Gefühlsleben zum unmittelbaren Ausdruck bringt, ist entweder L. der feierlichen, gehobenen Stimmung (Hymne, Ode, Dithyrambe) oder L. der reinen Empfindung (das eigentliche Lied) oder L. der Betrachtung (reflektierende L.: Elegie etc.). Lyrĭker, lyrischer Dichter; lyrisch, im Charakter der L., liedartig, singbar, empfindungsvoll.

Quelle: Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon, fünfte Auflage, Band 2. Leipzig 1911., S. 99. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20001321625


Poësie

[426] Poësīe (grch.), jede Art künstlerischer Tätigkeit; insbes. dichterisches Schaffen, daher s.v.w. Dichtkunst, Dichtung; zerfällt als solche in drei Hauptarten: Epos, Lyrik und Drama. Die Lehre von der P. ist die Poetik (s.d.).

Quelle: Brockhaus' Kleines Konversations-Lexikon, fünfte Auflage, Band 2. Leipzig 1911., S. 426. Permalink: http://www.zeno.org/nid/20001453882


Der Sprach-Brockhaus 1940

die Lyrik, -, lyrische Dichtung, Gefühlsdichtung, besonders die liedhafte Dichtung, dann auch Balladen und Gedankendichtung. der Lyriker, -s/-, Dichter von L. lyrisch, empfindungsweich, stimmungsvoll, dichterisch gefühlserfüllt. [griech.; von: Lyra]

Quelle: Der Sprach-Brockhaus. Deutsches Bildwörterbuch für jedermann. 4., verbess. Aufl. Leipzig: Brockhaus, 1940


Meyers Kleines Lexikon in drei Bänden, Leipzig 1968

Lyrik [(franz. <griech.]: neben Epik und Dramatik literar. Hauptgattung, in der die subjektive Aussage bzw. die auf das Subjekt bezogene Widerspiegelung der Wirkklichkeit ihren allgemeinsten Ausdruck findet. Die L. gestaltet bes. die Beziehungen des Individuums (oder einer Gruppe von Menschen) zur Umwelt, z. B. als Weltanschauungs-‚ Liebes- oder Naturlyrik. Sie bevorzugt lockere kausale Verknüpfung und bedient sich einer stark sinnbildl. sowie rhythm.‚ meist metrisch gebundenen und oft den Reim nutzenden Sprache; seit ihrer Entstehung ist sie eng mit der Musik verbunden. Häufige Formen sind: Lied (Volkslied), Ode, Hymne, Elegie, Spruch, Sonett. — Iyrisch: übertragen gefühlvoll.


Aus: Meyers Kleines Lexikon in drei Bänden, Leipzig: VEB Bibliographisches Institut, 1968. 2. Bd., S. 599


Meyers Jugendlexikon (DDR 1968)

Die Lyrik [(griech.] ist eine Gattung der Dichtkunst (-> Dramatik, Epik). Sie hat eine eigene Sprachgestaltung und spricht das Gefühl am unmittelbarsten an. Anschaulich und bildhaft spiegelt sie die Wirklichkeit und die Stellung des Künstlers zu ihr wider. Man unterscheidet Natur- und Landschaftslyrik, Gedanken-‚ Liebes- und politische Lyrik. -> Gedicht, Poesie.


Meyers Jugendlexikon. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut, 1968


Otto F. Best 1972

Lyrik, die: (gr. Leier) in der Poetik Bez. für erste der drei (Grund-)Gattungen; als "Naturform" der Dichtung unmittelbare subjektive Gefühlsaussprache, in der Wortmusik und Wortbeschreibung verschmelzen, der Abstand zwischen Ich und Welt im nennenden lyrischen Ineinander geschwunden ist; unablösbar getragen von Stilmitteln wie Rhythmus, Metrum, Vers, Reim, Bild etc., um ichbezogen-gemütsbestimmtes Erleben (oder schwebende Reflektion) künstlerisch zu gestalten.

Otto F. Best: Handbuch literarischer Fachbegriffe. Definitionen und Beispiele. Fischer Taschenbuch Verlag 1972 S. 156.