Deutsche Lyrik, Neuere
Deutsche Lyrik im 20. Jahrhundert
Vorbemerkung
Lyrikwiki dokumentiert drei Fassungen der Geschichte der Neueren deutschen Lyrik, die von Arbeitsgruppen aus Berlin ("Das sogenannte Team", offenbar im Prinzip die Lyrikknappschaft), Leipzig (Bertram Reinecke, Jan Kuhlbrodt, von den Veranstaltern mit dem Label "Neue Leipziger Schule" ausgestattet) und München. Die 3 Fassungen lagen nicht nur den Autoren, sondern auch dem Publikum vor. Eine kontroverse Diskussion führte ebensowenig zu einem gemeinsamen Ziel wie die sich anschließende Maildebatte. Schließlich entschieden die Organisatoren, die Münchner Fassung auf Wikipedia zu veröffentlichen, was inzwischen geschah, und zwar in der ursprünglichen Arbeitsfassung.
Lyrikwiki wird alle 3 Fassungen ebenso wie den ursprünglichen Wikipediatext hier nebeneinanderstellen. So kann man nicht nur die Diskussion führen, was hoffentlich geschieht, sondern auch einiges über Literaturgeschichtsschreibung erfahren. Lyrikwiki geht es nicht um eine Konsensfassung nach Art der Schülerfrage: Also was ist denn nun richtig?), sondern Lyrikgeschichte als Erzählung. Hier steht nicht, wie es nun wirklich war, sondern die drei Erzählungen Berlin, Leipzig, München. Lyrikwiki ist davon überzeugt, daß 3 Erzählungen besser sind als eine "gültige" und daß Widersprüche zwischen den Erzählungen nicht vermittelt werden müssen. Besser als den kleinsten gemeinsamen Nenner suchen scheint mir eine Darbietung "offenen" Wissens. Bestimmt aber kann die Debatte auf sachliche Fehler aufmerksam machen, vielleicht auch die einzelnen Erzählungen präzisieren, vielleicht weitere hinzufügen. Laßt hundert Blumen blühen, schafft ein, zwei, viele Lyrikgeschichten!
Am Anfang steht eine unabgeschlossene redigierte Fassung, die nach der öffentlichen Vorstellung des Projekts und der Redaktionssitzung am Folgetag schriftlich weiter diskutiert wurde. (Wird evtl. weitergeführt).
Redigierte "Konsensfassung"
Metahistorische Vorbemerkung
Es gibt verschiedene Versuche, Geschichte und so auch die Literatur- und Lyrikgeschichte darzustellen, d. h. von einem spezifischen Standpunkt aus das historische Material in einer konsistenten Erzählung zu organisieren. Geschichtsschreibung überhaupt und so auch Geschichtsschreibung der Lyrik führt immer zu Ausschlüssen von Teilen des historischen Materials, zu Uminterpretationen und Verschiebungen der Gewichtung. So kann auch dieser Artikel wird nur Momentaufnahme eines Prozesses sein, in welchem sich die Geschichte permanent verändert. Untersucht wurden diese Prozesse u. a. von Hayden White.
Durch politische Ereignisse und Katastrophen wurde die Entfaltung literarischer Diskurse häufig unterbrochen. Die Zeitangaben im Folgenden verstehen sich somit nicht als eine Darstellung einer folgerichtigen Entwicklung, sondern lediglich als ein grobes Ordnungsraster. Die Begriffe, mit denen die Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts umgeht, waren und sind mehr noch als in anderen Jahrhunderten Kampfbegriffe der einzelnen literarischen Schulen und Strömungen. Sie enthalten neben einer sachlichen oft eine stark wertende Komponente. Dies gilt besonders für alle Begriffe, die relativ zu anderen gebildet sind. Mit diesen Wörtern wird oft ganz direkt eine (Unter-) Scheidung getroffen (und somit bewirkt), um den einen Teil negativ und den anderen im Gegensatz dazu positiv zu bewerten. Solche Begriffe sind zum Beispiel solche, in denen die Wörter „neu“ (Neue Sachlichkeit, Neue Subjektivität) und „neo“ (Neoklassik) oder das Wort „modern“ vorkommen (Moderne, Postmoderne). Ähnlich problematisch sind die Begriffsbestandteile „früh“ und „spät“, die einen notwendigen Ablauf von Geschichte unterstellen. Wenn der Artikel auf derart konstruierte Begriffe nicht verzichtet, dann deshalb, weil sie als wichtige Schlagwörter für das Auffinden und Nachschlagen von Debatten unentbehrlich sind.
So gelten auch für die Markierung bzw. Festlegung des Beginns der Moderne in der deutschen Dichtung konkurrierende Konzepte. Wichtig scheint festzustellen, dass es sich hier auch um Reaktion(en) auf internationale Prozesse handelt; dass sich die Entwicklung der deutschen Lyrik unter dem Einfluss anderer Dichtungen vollzog. Den Beginn der Moderne markieren u. a. die Übersetzung Walt Whitmans durch Ferdinand Freiligrath oder Stefan Georges Shakespearedeutungen, bis hin zu verschiedenen Versuchen, Charles Baudelaire ins Deutsche zu bringen.
Am Anfang des 20. Jahrhunderts
Ein möglicher und vielgenannter Einsatzpunkt der Moderne in der deutschsprachigen Dichtung sind die 1902 erschienenen sprachskeptischen Betrachtungen in Hugo von Hofmannsthals „Chandos-Brief“ und dem dort formulierten Misstrauen in die Tragfähigkeit der Worte. Die Frage nach der Relation von Sprache, Wahrnehmung und Welt begleitet die Lyrik von nun an verstärkt und schlägt sich in vielen poetologischen Texten nieder.
Während so versucht wird vom Gesichtspunkt der Schreibhaltung diesen Beginn zu markieren, beginnen, versuchen andere eine Datierung anhand von Textmerkmalen.Früh verzichten zum Beispiel auf mündlich wirksame liedhafte Mittel wie Refrain und Reim die Dichter des Friedrichshagener Dichterkreises (Richard Dehmel) und die Gruppe um Arno Holz, die durch eine Abkehr von gängigen Formen versucht, gesellschaftliche Milieus naturalistisch oder impressionistisch wiederzugeben. Dies wird von der verstechnisch versierten internationalen Bewegung des Symbolismus teilweise zurückgenommen, zu der beispielsweise Theodor Däubler gehört, der heute annähernd vergessen ist, damals aber wichtige Anregungen für die frühen expressionistischen Strömungen einbrachte. Zu nennen sind hier Symbolisten (Rainer Maria Rilke, Hugo von Hoffmannsthal) und Ästhetizisten um Stefan George, die sich um ideelle Sprachverfeinerung bemühen. Durch sie verbreitet sich zum Beispiel das theoretische Nachdenken über Texte in einer Metaphorik von Textur und Gewebe, die das ganze folgende Jahrhundert durchzieht. Kleinster gemeinsamer Nenner der Moderne ist die Dissidenz im Verhältnis zur literarischen Tradition in Hinblick etwa auf Verssprache, dichterisches Selbstverständnis, erweiterte Motivik, Wertepluralismus, Internationalismus. Auch unter diesem gemeinsamen Nenner bleibt der Begriff in seiner Anwendung umstritten, da eine Verssprache traditionell werden kann, die sich einst von einer anderen Verssprache absetzte, oder indem gegen eine Novität einer Region ein international üblicher Standard ausgespielt wird.
Zugleich bringen Dichter wie Christian Morgenstern mit absurdem Sprachwitz Lyrik und Variété zusammen. Die Neuromantik (u. a. Hermann Hesse, Ricarda Huch) wendet sich Magischem und Mythischem zu.
Zeitraum 1. Weltkrieg
Als Avantgardebewegung der Moderne greift der Expressionismus neue Erfahrungen und Motive auf: 1. Weltkrieg, Großstadtleben, Ekstase, Industrialisierung und Erneuerung des Menschen.
Die Einheit stiftet sich durch gemeinsame Publikationsorgane (Menschheitsdämmerung, Die Aktion u. a.) und kaum durch einheitliche Anliegen. Jakob van Hoddis und Alfred Lichtenstein wirken über ihren Simultanstil, Georg Trakl, Erich Mühsam und Else Lasker-Schüler akzentuieren symbolistische Strategien, Gottfried Benn entwickelt neue Formen lyrischer Inszenierung, Johannes R. Becher und August Stramm experimentieren mit Realismuskonzepten.
1920er Jahre
Parallel zu den europäischen Avantgardebewegungen wie Suprematismus, Akmeismus und Futurismus, die in Deutschland nicht stattfinden, entstehen im deutschsprachigen Raum verschiedene Strömungen, die unter dem Namen Dadaismus zusammengefasst werden (Cabaret Voltaire in Zürich, Merz in Hannover, u.a. Hans Arp, Hugo Ball, Richard Huelsenbeck, Kurt Schwitters, Tristan Tzara). Diese zielen vor allem auf eine Befreiung der Sprache bis hin zum einzelnen Laut. Gemeinsam haben diese Strömungen, dass sie die graphische Oberfläche ernst und in die Semantik hinein nehmen, das sprachliche Zeichen in seinem Eigenwert erkennen: Phonetik bis hin zu einzelnen Silben, Musikalisierung der Sprache (Kurt Schwitters). Der Fokus richtet sich auf Typographie, es entsteht die Collage als künstlerisches Ausdrucksmittel.
Die Lyrik der „Neuen Sachlichkeit“, grenzt sich von Expressionismus und Ästhetizismus durch betonte Nüchternheit ab (Bertolt Brecht, Erich Kästner, Walter Bauer, Kurt Tucholsky) und betont den Gebrauchswert der Verse, die unterhaltsam, verständlich und politisch sein sollen. http://de.wikipedia.org/wiki/RundfunkRundfunk, Journale und Kabarett werden zu wichtigen Plattformen für Gedichte. Eine markante Politisierung findet statt (u. a. Bertolt Brecht, Mascha Kaléko, Erich Kästner, Joachim Ringelnatz, Kurt Tucholsky).
Lyrik im Nationalsozialismus
Mit der Zerschlagung der parlamentarischen Demokratie und dem Verbot so genannter „entarteter Kunst“ durch die Nationalsozialisten wird ab 1933 die Entfaltung und Publikation der avantgardistischen Strömungen moderner Lyrik im Deutschen Reich unterbrochen; in Österreich ab 1938.
Einige Dichter sympathisieren mit den Zielen der nationalsozialistischen Diktatur. Während Gottfried Benn sich anfangs offen zum NS-Regime bekennt, das eine Dichtung der „Blut-und-Boden“-Ideologie befördert, fliehen viele Autoren (u. a. Hilde Domin, Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs) vor Verfolgung und ins Exil. Eine präzise Aufarbeitung steht noch aus.
Neben den Bemühungen um die Fortentwicklung der Literatur engagieren sich einige dieser Lyriker auch konkret im Gedicht gegen den Faschismus (u. a. Bertolt Brecht, Erich Arendt, Stephan Hermlin). Wer im dritten Reich verbleibt, ist auf den Rückgriff auf den klassisch romantischen Kanon und insbesondere liedhafte Lyrik verwiesen. Nur in seltenen Fällen gelingen unter diesen Bedingungen Texte, die über die NS-Zeit hinaus als wertvoll erachtet werden. Das gilt für einzelne Texte des Faschisten Josef Weinheber oder Jochen Kleppers „Die Nacht ist vorgedrungen“. Einigen Lyrikern gelingt es durch den Rückzug ins Private und das Aufgreifen unpolitischer Sujets Bestandteile des modernen Formenkanons in ihrer Lyrik zu erhalten (Wilhelm Lehmann, Oskar Loerke, Gertrud Kolmar). Der Begriff „innere Emigration“ ist in seiner Anwendung umstritten. Lyriker wie Georg Maurer und Günter Eich beginnen unter diesen Bedingungen mit dem Schreiben. Die Rezeption der Lyrik dieser Zeit kann nicht ohne einen Bezug auf die gesellschaftliche Situation begriffen werden. Hier werden auch Gedichte in Formen der klassischen und neuromantischen Dichtung zur politischen Lyrik, weil sie sich den Einflüssen ihrer Gegenwart nicht stellen bzw. diese ignorieren.
Nach dem 2. Weltkrieg
Innerhalb der deutschen Literatur gab es ab 1945 eine Ausdifferenzierung durch die unterschiedlichen politischen Systeme. Nach den Verheerungen des 2. Weltkriegs ist ein nahtloses Anknüpfen an die Traditionen für die meisten Autoren undenkbar. Mittels Sprachverknappung und Fokus auf die Nachkriegsrealität will die sog. „Kahlschlag“-Literatur neue Wege aufzeigen (u. a. Günter Eich, Wolfgang Weyrauch).
Versuche, wieder zu einer poetischen Sprache zu finden, indem künstlerisch das Gewicht auf ihren materialen Aspekt gelegt wird, verbinden sich vor allem mit dem Namen Paul Celan.
Die internationale Bewegung des Surrealismus bzw. Dadaismus und der Akmeismus werden (teils verspätet) aufgenommen, Friedrich Hölderlins späte Lyrik in ihrer Bedeutung erkannt. Idiosynkratisches und Zufälliges wird toleriert (u. a. Ingeborg Bachmann, Rose Ausländer, Nelly Sachs, Lothar Klünner, Peter Huchel, Günter Eich, Johannes Bobrowski, Unica Zürn).
In der Rezeption spielte die Gruppe 47 (u. a. Ingeborg Bachmann, Günter Grass) eine wichtige Rolle. Angeregt durch Sprechakttheorie und Sprachphilosophie und Linguistik der 1950er und 60er Jahre und vermittels akustischem und visuellem Neuarrangement des Sprachmaterials entsteht die Konkrete Poesie (u. a. Eugen Gomringer, Helmut Heißenbüttel, Ernst Jandl, Franz Mon, Carlfriedrich Claus). Wichtige Einflüsse kamen von Ludwig Wittgenstein sowie der Kybernetik John von Neumanns.
In Österreich entstand nach 1954 die Wiener Gruppe um Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener. Die Mundart-Dichtung findet Anschluss an die Moderne.
In der DDR wurde der Lyrik eine wichtige Funktion zugewiesen: sie stand unter ständiger Überwachung. Die Literatur versuchte sich unter diesen erschwerten Bedingungen unabhängig zu halten. Zu nennen sind Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Stephan Hermlin, außerdem Johannes Bobrowski, Heiner Müller, Wolfgang Hilbig, Peter Huchel, Wolf Biermann, Reiner Kunze, Uwe Gressmann und Peter Hacks.
Zeitraum ab ca. 1960
Vor dem Hintergrund von Vietnamkrieg und Studentenprotesten entstehen in der BRD gesellschaftskritische Gedichte. Zunehmend bemühen sich Dichter, die neuen Verhältnisse nicht nur in der Gestalt der Werke, sondern auch in deren Produktionsweise zu reflektieren. Schreiben wird teils als gesellschaftlicher Prozess verstanden, die Öffentlichkeit soll wiedergewonnen werden (Erich Fried, Peter Rühmkorf).
Die sächsische Dichterschule versucht, tradierte Formen auf eine zeitgenössische Art und Weise des Dichtens anzuwenden, um die konträren Ansprüche klassischer Fertigkeit und der Moderne in einem Modell der Gemeinschaft der Verständigen zusammen zu führen. (Karl Mickel, Volker Braun, Rainer Kirsch, in den 80ern auch Thomas Rosenlöcher)
In Ostdeutschland ist der Neubeginn einerseits geprägt durch eine massiv staatlich unterstützte Gruppe von Lyrikern, die im Anschluss an klassische Verfahren und solche des bürgerlichen Realismus vor allem um eine inhaltliche Neuausrichtung der Literatur bemüht waren. Selbst Autoren, deren Werk in eine ähnliche Richtung zielt wie Peter Hacks, Wolf Biermann und Kunze beziehen sich eher auf Bertolt Brecht, der wie Erich Arendt und andere heimgekehrte Exilanten an die internationale Moderne anknüpfen konnte. An diesen literarischen Programmen orientierten sich auch u. a. Stephan Hermlin, Franz Fühmann, Johannes Bobrowski, Heiner Müller, Wolfgang Hilbig, Peter Huchel und Uwe Gressmann.
Unter den politischen Verhältnissen der DDR prägte sich die Gegenkulturbewegung wie in anderen osteuropäischen Staaten zum Untergrund aus. Besonderes Merkmal dieses Samisdat war der Versuch, sich literarisch nicht in einer inhaltlichen Gegenposition zur geforderten politischen Haltung zu erschöpfen, sondern sich zunächst über Verfahren und künstlerische Verhaltensweisen abzugrenzen. Die Durchdringung von Literatur, Bildender Kunst und Musik war nicht nur ästhetisches Programm sondern gleichzeitig praktisches Erfordernis des öffentlichen Überlebens. Besondere Bedeutung erwarb diese Szene in Ostberlin (Bert Papenfuß, Uwe Kolbe), was nicht zuletzt auf Vorbild und vermittelndes Wirken Adolf Endlers zurückgeht, der sein Schreiben nach Anfängen innerhalb der sächsischen Dichterschule in den achtziger Jahren radikalisierte.
1965 fordert Walter Höllerer das „lange Gedicht“ als Abkehr vom feierlichen Ton, 1968 proklamiert Hans Magnus Enzensberger eine Poesie der Schlichtheit mit alltagssprachlichen Elementen und verantwortet viele einflussreiche Anthologien und Übersetzungsprojekte (Museum der modernen Poesie).
Das Konzept des Sängerpoeten wird durch die Liedermacherbewegung neu belebt (Wolf Biermann, Konstantin Wecker, Franz-Josef Degenhardt, Ludwig Hirsch, Georg Kreisler). Gegenkulturelle Bewegungen entstehen. Konrad Bayer, Künstlergruppe Clara Mosch mit Carlfriedrich Claus, Hadayatullah Hübsch, Bert Papenfuß, Jan Faktor. 1986 wird in Wien Das fröhliche Wohnzimmer gegründet (Ilse Kilic und Franz Widhalm).
Rolf Dieter Brinkmann bringt durch seine Übersetzungen den Einfluss US-amerikanischer pop-literarischer Strömungen nach Deutschland. Multimediale Ansätze entstehen. Als Dichter schließt Brinkmann an Verfahren der zeitgenössischen Bildenden Kunst wie der Fluxus-Bewegung an. Nach 1968 thematisieren Dichter der Neue Subjektivität verstärkt das Ich-Erleben (u. a. Nicolas Born, Sarah Kirsch, Karin Kiwus, Jürgen Theobaldy).
Das Bielefelder Kolloquium Neue Poesie versammelt Vertreter der Richtung Konkreter Poesie in den Jahren von 1978 bis 2003.
Popliteratur im Rheinland 1960-1980
Viel wurde in den letzten Jahren über Popliteratur geschrieben. Ein weithin unbeachteter Aspekt ist dabei, daß maßgebliche Impulse für die Entstehung einer Popliteratur vom Rheinland ausgingen. Am Anfang standen die Autoren und Übersetzer Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla, die ab Mitte der 1960er Jahre in Köln lebten und von hier aus der amerikanischen Beat- und Untergrund-Literatur deutschlandweite Aufmerksamkeit verschafften.
In Düsseldorf betrieben A. J. Weigoni und Frank Michaelis im Akademie-Umfeld mit der Literatur eine multimediale Hörspielerei zwischen Performance, Theater und Lesung. Bereits 1991 legte dieses Duo die zum Schlagwort gewordenen »Literaturclips« vor. Den Hörbuchpionieren kommt damit das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben.
Diese Literaturclips mögen heiße Luft sein, sind aber angereichert mit purem Sauerstoff. Sauerstoffhappen, eher Häppchen, die den Ohrganismus am Überleben halten. Das frühzeitige Erkennen, daß in der Kürze der einzelnen Beiträge der Erfolg zum langen Atem liegt – beim Produzenten vielleicht, beim Zuhörer gewiss – ist sehr hoch anzurechnen. Mit der Kürze entsteht eine Konzentration auf das Elementare.
Zeitraum ab ca. 1980
Angesichts atomarer Bedrohung, Umweltzerstörung und einer von Massenmedien beherrschten Gesellschaft entsteht eine vielstimmige Literatur der Utopielosigkeit.
Auf die ‚Endzeitstimmung‘ antworten Dichter teils mit einer Abkehr von großen Themen (u. a. Krolow, Krüger), teils mit Rückbesinnung auf alte Formen (u. a. Gernhardt, Hahn), teils mit Diskursmischung und kritischem Montagestil (u. a. Friederike Mayröcker; Elke Erb, Thomas Kling). Reinhard Priessnitz (einer von etlichen Dichtern, deren Einfluss auf andere Dichter viel größer ist als seine allgemeine Bekanntheit) gelingt es, avancierte experimentelle Schreibweisen mit Erfahrungsdaten zu versehen.
Zunehmend setzen vor allem jüngere Autoren auf Verfahren der Postmoderne, z. B. Stilmix, Einbezug von Fachsprachen und popkultureller Multilingualität (u. a. Ulrike Draesner, Thomas Kling, Barbara Köhler, Durs Grünbein, Brigitte Oleschinski, Bert Papenfuß, Oskar Pastior, Raoul Schrott).
Quellen
- Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart/Weimar 2001 (Metzler).
- Elm, Theo (Hg.): Lyrik der neunziger Jahre. Stuttgart 2000 (Reclam).
- Schnell, Ralf: Geschichte der Deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart/Weimar 1993 (Metzler).
- Schuhmann, Klaus: Lyrik des 20. Jahrhunderts. Materialien zu einer Poetik. Reinbek bei Hamburg 1995 (Rowohlt).
- Willberg, Hans-Joachim: Deutsche Gegenwartslyrik. Eine poetologische Einführung. Stuttgart 2012 (Reclam).
"Leipziger Fassung"
Die beschleunigte wirtschaftliche und technische Entwicklungen und die Folgen gesellschaftlicher Katastrophen unterbrachen mehrmals die Entfaltung literarischer Ideen und Strömungen, dezentrierten die Stellung des Einzelnen gegenüber dem Gesamtganzen und ließen den Dichter als Sprachrohr der Geschichte einer Gemeinschaft etc. unglaubwürdig werden. Das Lied wird zusehends nicht mehr als integraler Bestandteil der Dichtung wahrgenommen. Die Selbstbestimmung geht zunehmend weniger von Begriffen wie Stand, Ehre und Beruf aus, die Scheidung von Arbeit und Freizeit etabliert sich. Damit verändert sich das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit. Begriffe von Kunstschönheit und Natürlichkeit verlieren gegenüber anderen, etwa „Dichte“ oder dem Zugang zu (irgendeiner) „Wirklichkeit“ (als Mangelgut verstanden) an Bedeutung. Schriftliche Medien sinken zunehmend im Preis. Der Konsolidierung der Germanistik in der Lehrerbildung erhöht das Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der Literatur und begünstigt verengende Kanonisierung. Dichter orientieren sich stark an auswärtigen Entwicklungen und arbeiten zusehends auf „eigene Rechnung“. Nordamerika rückt seit Withmann erstmals in der Wahrnehmung vom Kulturempfänger zum -Spender. In Adaption einer etablierten Genieästhetik wird „die Wirklichkeit“ teils in der Rückwendung in die eigene Persönlichkeit gesucht, im Gegenzug etablieren sich säkulare Dichterbilder, der Dichter als Flaneur, als Laborant, als Experte. Die Bedeutung der Mündlichkeit schwindet.
Früh verzichten auf mündlich wirkende Mittel Dichter des Friedrichshagener Dichterkreises und die Gruppe um Holz, Arno Arno Holz. Diese Bewegung wird von den verstechnisch versierten internationalen Bewegung des Symbolismus (Theodor Däubler, Hugo von Hofmannstal, Rainer Maria Rilke, Stefan George Kreis) und den Dichtern der „neuen Sachlichkeit“ (Kästner, Tucholsky) teilweise zurückgenommen. Auch die Expressionisten knüpfen teils an ältere Modelle der Literatur an. Deren Einheit stiftet sich durch gemeinsame Publikationsorgane (Menschheitsdämmerung, Die Aktion) und kaum durch einheitliche Anliegen. Hoddis und Lichtenstein wirken über ihren Simultanstil, Trakl, Mühsam und Lasker Schüler akzentuieren symbolistische Strategien, Benn entwickelt neue Formen lyrischer Inszenierung, Becher und Stamm experimentieren mit Realismuskonzepten. Bertolt Brecht nimmt an der Entwicklung zahlreicher dieser Richtungen Anteil. Nie seit der Klassik werden so viele Oden verfasst, selten mehr Sonette als in den ersten Jahrzehnten des 20.Jahrhunderts. Insgesamt verengt sich der Kanon der Strophenbaumuster in der zweiten Jahrhunderthälfte. (R.A. Schröder). Oft wird die Spannung zu verengten Publikumserwartungen durch Komik überwundern. (Morgenstern, später: Jandl, Robert Gernhard.)
Ausländische deutschsprachige Literaturen prägen teils eigene Modelle der Literatlität aus, wurden aber oft nur unter politischem Fokus wahrgenommen (Bukowina, Banat). Verschiedene Exil- und Emigrationssituationen behinderten die Rezeption zahlreicher Autoren oder vereinseitigten sie politisch (Robert Neumann, Max Hermann Neiße, Walter Bauer, Adolf Endler, Sarah Kirsch, Peter Paul Zahl, Helga M. Novak, Herta Müller). Die internationale Bewegung des Surrealismus/ Dadaismus und der Akmeismus werden (teils verspätet) aufgenommen, Hölderlins späte Lyrik in ihrer Bedeutung erkannt. Ideosynkratisches und Zufälliges wird toleriert (Bachmann, Klünner, Huchel, Eich, Bobrowski, Unica Zürn). Celan verbindet diesen Ansatz mit einem besonderen Gewicht auf dem materialen Aspekt der Sprache.
Ausgehend von einer maßgeblich an Pound und Eliot orientierten Vorstellung von Höhenkammliteratur werden klassische Literaturen und gemäßigt moderne Dichter verschiedener Länder wie Pasternak, Borges, und Tranströmer aufgegriffen. (Müller, Enzensberger, Hacks, Rosenlöcher, Grünbein, Raol Schrott). Begünstigt durch ein gespanntes Verhältnis zu Publikumserwartungen und vor allem durch die Breite des lyrischen Diskurses (selbst Poetologiebände von Gegenwartsdichtern erscheinen hier in Taschenbuchreihen) gelingt es der „sächsischen Dichterschule“ die konträren Ansprüche klassischer Fertigkeit und der Moderne in einem Modell der Gemeinschaft der Verständigen zusammen zu führen.
Zunehmend bemühen sich Dichter die neuen Verhältnisse nicht nur in der Gestalt der Werke, sondern auch in deren Produktionsweise zu reflektieren. Schreiben wird teils als gesellschaftlicher Prozess verstanden, die Öffentlichkeit soll wiedergewonnen werden (Fried, Rühmkorf, Biermann). Max Bense experimentiert mit computergenerierten Texten, Oskar Pastior entwickelt die mathematischen Verfahren der französischen Gruppe oulipo weiter.
Anknüpfend an die internationale Bewegung des Futurismus-Konstruktivismus (besonders russicher Ausprägung) entstehen intermediale Arbeiten und ein neues Verhältnis zur Mündlichkeit. (Raoul Hausmann, Rühm, Franz Mon, Carlfriedrich Claus, Herta Müller). Die Mundartdichtung findet Anschluss an die Moderne (Artmann). Wie niemals seit der Romantik werden auch entlegene Quellen fruchtbar gemacht (Quirinus Kuhlmann, Emily Dickinson). Diese Impulse wurden von dem entstehenden literarischen Untergrund aufgenommen, der sich als Gegenangebot zu saturierten Kulturinstitutionen versteht. Viele Autoren begannen fortan ihre Karrieren dort (Kling). Dieser Bewegung entwuchsen ebenso die Beatliteratur (Brinkmann) und der Poetry Slam (Michael Lentz, Nora Gomringer). Besondere Bedeutung erlangte das Phänomen Untergrund anschließend an den osteuropäischen Samisdat unter den verhärteten Verhältnissen Ostberlins in den 80 er Jahren (Elke Erb, Endler, Papenfuß).
Priessnitz radikalisiert den Avantgardegedanken: Texte sollen nicht nur veraltete Konzepte überwinden, sondern eine neu gewonnene Form soll mit ihrer einmaligen Erfüllung bereits ihren Möglichkeitsraum abschließen. Solche avancierten Konzepte sind prägend in Österreich (Mayröcker, Czernin, Cotten) wirken aber auch in Deutschland (Rinck, Stolterfoht).
Kommentar der Autoren
- Kein „Bauch“ also nicht Früheres und Etabliertes zu bevorzugen, auch wenn das heikel für die Gegenwart wird. Dagegen: Um so merklicher ist es, dass in dieser größeren Breite oft diejenigen bedeutenden Namen fehlen, die von der Hauptströmungen der Gegenwart nicht aufgegriffen wurden. Diese wiederum aufnehmen.
- Keine Übername von Zeitdiagnosen und des Selbstverständnisses einzelner Richtungen. Der Versuch soziologische Determinanten selbst zu formulieren.
- insbesondere Lyrikgeschichte nicht als eine Geschichte von Überwindungen (Moderne, Postmoderne etc.) konstruieren. Ich glaube, dass die Entwicklung der Lyrik so auch verständlicher wird.
- keine unreflektierte Übernahme von Kanonvorurteilen und Konzeptualisierungen (Stunde null, Gruppe 47 Avantgarde etc.)
- nicht als politische Geschichte erzählen (dafür ist hier zhu wenig Raum), sondern die politischen Vertreter in die Erzählung der Literaturentwicklung in ihrer Bedeutung einzubinden.
- Nach Verfahrensmerkmalen nicht nach Dichtern ordnen, nicht einen Dichter charakterisieren, sondern den Dichternamen nur für ein Merkmal als Beispiel einführen (Pars pro toto). Um den Verfahrenszug besonders kenntlich zu machen, wird sich bemüht ihn in Breite also mit jeweils möglichst heterogenen Beispielen darzustellen.
- jeder Dichtername muss nur einmal auftauchen, denn im Netz lässt sich ein lexikalischer Artikel als komentierte Linkliste verstehen.
- nicht nach Verfahrensmischungen bzw. Stilen“ vorsortieren (Vetreter von gemäßigten Richtungen können damit nur nach Popularität aufgenommen werden)
- wenn ein Stilzug maßgeblich war, weil sie auf vielen Schultern ruhte, jedoch keine bekannten Großmeister hervorbrachte, wird eben einer der anderen benannt.
- außen vor müssen leider bleiben: Literaturmittler wie Herausgeber und Übersetzer. Der Vorschlag ist für so bald wie möglich etwa den Artikel zu Literaturzeitschriften zu verbessern und auf die Gegenwart vorzuführen: Umkreisungen, Manuskripte, Schreibheft, Sinn und Form et al.
- Zeitschriften, die von den neunziger Jahren an bis heute den Diskurs mitbestimmen: ZdZ, edit, sic! usw.
"Berliner Fasssung"
(Das Sogenannte Team)
Das Schlagwort „Moderne“ wurde im Zusammenhang mit Literatur und Lyrik im deutschsprachigen Raum erstmals in den „Thesen der freien litterarischen Gruppe Durch!“ von 1886 verwendet, die eine Neuorientierung der Literatur gemäß den Vorgaben des Naturalismus forderte; zu den bekanntesten deutschsprachigen Lyrikern, die einem naturalistischen Programm verpflichtet sind, zählt Arno Holz. Dem steht die Auffassung Hermann Bahrs entgegen, wonach Literatur „Nervenkunst“ sei, deren Ziel gerade nicht die getreue Nachbildung der Wirklichkeit sei; diese Auffassung begründet die „Wiener Moderne“. Innerhalb dieser Pole entwickelte sich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre deutschsprachige Lyrik innerhalb der Strömungen der europäischen Moderne; dazu zählen neben dem Naturalismus der Symbolismus (Rainer Maria Rilke), Jugendstil (Stefan George), Ästhetizismus (Hugo von Hofmannsthal), Expressionismus (Else Lasker-Schüler, Gottfried Benn) und Dadaismus (Hugo Ball). Andere Strömungen der Moderne wie der Futurismus waren in Deutschland relativ wenig einflussreich, umgekehrt ist die expressionistische Lyrik ein Spezifikum der Literaturverhältnisse im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik mit wenig Ausstrahlung selbst auf die Entwicklung der österreichischen Literatur (Georg Trakl) und der Schweizer Literatur. Die poetischen Werke von Christian Morgenstern (Gedichtgrotesken) und Kurt Schwitters („Merz-Kunst“) sind den genannten Strömungen nur schwer zuzuordnen, sie sind jedoch von besonderer Bedeutung für die Lyrik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, z.B. für die Lautpoesie (Ernst Jandl) und die Konkrete Poesie (Eugen Gomringer, Franz Mon, Gerhard Rühm). Kleinster gemeinsamer Nenner der Moderne ist die Dissidenz im Verhältnis zur literarischen Tradition in Hinblick etwa auf Verssprache, dichterisches Selbstverständnis (Selbstbild), erweiterte Motivik, Wertepluralismus, Internationalismus. Für alle genannten modernen Strömungen wichtig war die Propagierung ihrer Poetiken und die Publikation ihrer Gedichte in Printmedien (Liste deutschsprachiger Literaturzeitschriften) und die Selbstverständigung und Debatte innerhalb literarischer Gruppen und Dichterkreisen. Die Lyrik der „Neuen Sachlichkeit“, die sich von Expressionismus und Ästhetizismus durch betonte Nüchternheit abgrenzte (Bertolt Brecht, Erich Kästner, Kurt Tucholsky) ist durch die markante Politisierung bzw. durch die Marktförmigkeit der literarischen Verhältnisse (Feuilletonisierung) nicht mehr ohne weiteres der literarischen Moderne zuzurechnen. Mit der Zerschlagung der parlamentarischen Demokratie und dem Verbot „entarteter Kunst“ durch die Nationalsozialisten wird ab 1933 die Entfaltung und Publikation moderner Lyrik im Deutschen Reich unterbrochen; in Österreich ab 1938. Einige vormalige Expressionisten sympathisierten mit den Zielen der nationalsozialistischen Diktatur, bevor sie für sich die „innere Emigration“ wählten. Prominent ist der Fall Gottfried Benn. Ein anderer Expressionist, Johannes R. Becher verließ wie viele seiner Kollegen Nazideutschland, um in der Sowjetunion Exil zu suchen; er wurde später erster Kulturminister der DDR und nach seinem Tod Namenspatron des 1955 gegründeten staatskonformen Instituts für Literatur in Leipzig, in dessen Umfeld aber auch eine ganze Reihe von Dissidenten und DDR-kritischen Autoren lernten und lehrten. Die Lyrik der Nachkriegszeit folgt bis 1990 unterschiedlichen kulturpolitischen Vorgaben: Während die Lyrik in der BRD nach einer Phase der Restauration u.a. durch das Wirken der Gruppe 47 (hervorzuheben die Umtriebigkeit von Hans Magnus Enzensberger) wieder Anschluss an internationales Niveau sucht, ist die Lyrik in der DDR von staatlichen Direktiven umstellt, die moderne Einflüsse als dekadent zurückweist und eine Reorientierung auf die Klassik und sozialkritische Traditionslinien der internationalen Literaturgeschichte umsetzt (Formalismusdebatte, „Forum“-Lyrikdebatte, Lyrikdebatte in „Sinn und Form“) und staatstreue Lyrik mit hohen Auflagen für Gedichtbände fördert bzw. durch das Heftchenformat „Poesiealbum“ und durch Massenveranstaltungen („Lyrikwelle“) popularisiert. Eine Öffnung für die Errungenschaften der literarischen Moderne ist aber spätestens mit dem „Kahlschlagplenum“ von 1965 nur noch sehr eingeschränkt möglich; nonkonforme Lyrik wird mit den Instrumentarien staatlicher Überwachung und Kontrolle marginalisiert und nicht selten in nichtoffizielle Szenen verdrängt, die sich staatlichen Direktiven widersetzen, z.B. die Sächsische Dichterschule (Karl Mickel, Sarah Kirsch, Adolf Endler). Die Möglichkeiten Lyrik zu publizieren sind in der BRD demgegenüber vielfältiger; hier entschieden und entscheiden eher verlagswirtschaftliche Erwägungen über die Publikation von Lyrik, zumindest in Publikumsverlagen. Die Diagnose, Literatur und Lyrik stünden nach einer Zeit der Vereinnahmung für antagonistische Ideologien (z.B. „engagierte Literatur“/“Untergrundliteratur“/“Agitprop“ vs. „Hochkultur“) oder dem Widerstand dagegen (Experimentelle Lyrik, „Neue Subjektivität“, Prenzlauer-Berg-connection) spätestens nach dem Ende des Kalten Krieges im Zeichen einer Postmoderne, ist strittig.
Dagegen spricht der Fakt, dass eine Reihe von Preisen für Lyrik im deutschsprachigen Raum nach Autoren benannt sind, die nachweislich an die Programme der literarischen Moderne angeknüpft haben: Ernst Jandl, Peter Huchel, Georg Trakl. Debatten um lyrische Grundsatzfragen, auch darum, ob man sich in postmodernen Zeiten oder in einer modifizierten Moderne („Zweite Moderne“) befinde, haben im deutschsprachigen Raum neben der Vielzahl von Printmedien seit gut einem Jahrzehnt einen seriösen Ort in den Literaturforen des World Wide Web, die nicht einem literarischen Verlag angegliedert sind (Forum der 13, Der goldene Fisch, Lyrikkritik, Lyrikzeitung & Poetry News). Der Realisierung der auditiven Komponente von Gedichten kommen die Möglichkeiten des Internet ebenfalls zugute (lyrikline.org, karawa.net), Übertragungen von Dichterlesungen in den Massenmedien Fernsehen und Radio sind hingegen eine absolute Seltenheit, selbst das Genre des Poetry Slam scheint offenbar vergleichsweise wenig telegen. Dennoch: Wortmeldungen, die die Marginalität und den Niedergang zeitgenössischer Lyrik prophezeien, ist die Vielfalt gegenwärtigen lyrischen Schaffens entgegenzuhalten, die von verschiedensten Stellen gepflegt und gefördert wird: sei es durch staatliche Literaturinstitute in Biel, Hildesheim, Leipzig und Wien , sei es durch Poesiefestivals (Basel, Berlin, Biel, Konstanz), Nachwuchswettbewerbe (Open Mike, Literarischer März), Literaturhäuser mit Lyrikschwerpunkt (Lyrik Kabinett München, Literaturwerkstatt und Lettrétage in Berlin). Eine Schar von unabhängigen Verlagen publiziert fast ausschließlich zeitgenössische deutschsprachige Lyrik, so z.B. kookbooks in Berlin, luxbooks in Wiesbaden, roughbooks in Solothurn, der Ritter Verlag in Klagenfurt, Das Wunderhorn in Heidelberg, wo die Reihe „Poesie der Nachbarn“ mit der Übersetzungen zeitgenössischer Dichter der europäischen Nationalliteraturen ins Deutsche seit Jahren zum festen Bestand des Verlagsprogramms gehört. An ausgezeichneten Lyrikerinnen und Lyrikern scheint die Gegenwart nicht arm zu sein, was eine Liste deutschsprachiger Lyriker und eine Liste deutschsprachiger Lyrikerinnen nahelegt.